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MIDGARD:
Ein Brief nach Tjaga Vegi


gespielt: Juni 93 bis April 94
von: Ricarda (Sharevi Dharo Kerit), Wolfgang (Thegil, aka Talandur), Gernot (Kojiro, aka Coran Mac Albach) und Danny (S'yrc'an'haranej), sowie gelegentlich Antje (Paithan).
Special Guests: Ulla (Liari aus Kallaby) und Hajo (Nargan).
Spielzeit: Dezember 1025 bis 24. Februar 1026 n.K.
Verantwortlich für alles bis auf das Verhalten der Spieler: ich.


Inhalt

Kapitel 1: Kyla
Kapitel 2: Kallaby
Kapitel 3. Toran auf Abwegen
Kapitel 4: Mora
Kapitel 5: Der Unwirklichkeitssturm
Kapitel 6: Löwenmenschen


1. Kyla

(bis 5.1.1026 nK)

Kyla erwies sich als eine Stadt, wo man gerne blieb. Und somit viel zu lange blieb. Es gab soviel zu sehen und zu tun! Thegil versumpfte nahezu in der Unibibliothek, wo er sich mit einem elfischen Schreiber und Bibliothekar anfreundete. Kojiro fand einen Lehrmeister, der ihm noch was zum Thema Bihänder erzählen konnte (einen weit über zwei Meter großen Humanoiden von einem Volk, daß die Kylaner "Halbriesen" nannten), und S'yrca und Sharevi streifen durch die Stadt, lernten Leute kennen und neue Zaubersprüche, hingen in Kneipen herum, besuchten das Theater... und die Zeit verging.

Die Wanderer waren wieder einmal im Haus des fahrenden Volkes untergekommen, das hier in Kyla ein vierstöckiges, schmales Eckhaus war, in dem etliche Zimmer an Arbeiter oder Studenten untervermietet waren. Außer ihnen gab es noch drei Dauergäste im Haus, zwei Frauen um die dreißig, die Mariska und Sarka hießen, und einen älteren Mann, der sich als Esik vorstellte. Esik verbrachte viel Zeit in der Bibliothek, wo Thegil ihn öfter im Lesesaal über einige alte Schwarten gebeugt sah, eine Brille auf der Nase und Schreibzeug neben sich. Leider hatten Esik und Sarka, die irgendwie verwandt waren, die entnervende Angewohnheit, sich oft und laut in einem Kauderwelsch aus Tål Kylas und irgendwelchen unbekannten Sprachen zu streiten -- meistens darüber, daß Sarka schlunzig, vergeßlich und dickfellig, bzw. Esik ein ekliger alter Pedant und Kleinkrämer sei. Wenn sie sich allerdings grade nicht stritten, waren sie nette und freundliche Menschen, die gerne gute Geschichten erzählten und hörten. Mariska dagegen war eher von der stillen Sorte und taute nur bei einem Gespräch über den Flußhandel auf.


Natürlich versuchten die Abenteurer auch, dem Geheimnis von Talos verflixter Harfe auf die Spur zu kommen. Unverändert konnte Thegil ihr recht angenehme Töne entlocken, S'yrca und Kojiro spielten so schecht, wie ihr Talent oder ihr unüberhörbarer Mangel daran erwarten ließ -- und Sharevi, soviel sie auch übte, kam mit dem Teil vorne und hinten nicht klar, bis sie fast überzeugt war, die Saiten würden mit Absicht unter ihren Fingern wegrutschen, um sie als komplette Stümperin dastehen zu lassen. Bis sie eines Abends, geschlaucht vom Lernen neuer Zauberlieder und vielleicht mit einem Glas heißen Weins zuviel im Blut tranig, aber entschlossen ihre tägliche Übungsstunde durchführte -- und auf einmal, als sie nahe dabei war, über das Instrument gebeugt einzuschlafen, hörte sie zum ihrer eigenen Verblüffung den Klang der Harfe, magisch, perfekt... nur ein paar Takte lang, bis sie merkte, daß sie nicht träumte, daß sie diese Töne spielte, und die Harfe wieder zu ihrem üblichen unkooperativen Benehmen zurückkehrte.

Das brachte Thegil auf die Idee zu einem Experiment. Er kaufte ein Faß Wein, lud einige Leute ein und belegte den Kohlenkeller des Hauses mit Beschlag. Auf der anschließenden Kellerparty gab es genug und mehr als genug Wein für alle, die sich auch mal an der Harfe versuchen wolten. Ergebnisse des Experiments: Erstens, die Harfe ärgert nur die Leute, von denen man eigentlich erwartet, daß sie gut spielen können, und zweitens hilft diesen Leuten -- und nur diesen -- der Alkohol, was aber, drittens, eine relativ gruselige Erfahrung ist.

Die Kellerparty blieb natürlich nicht geheim, und in den nächsten Tagen erhielten die Abenteurer mehrere Angebote für die Harfe, von "Ich bin Künstlier, ich brauche sie, ich habe kein Geld, aber ihr wollt doch sicher meine großen Fähigkeiten fördern!" (Ansgar Sangre, selbstgestylter Künstler) bis "Ich möchte die Harfe gerne im Auftrag eines Klienten, der ungenannt bleiben möchte, erwerben. Mein Klient bietet zwei Goldstücke..." (Ylva Bytan, Maklerin mit gutem Ruf).

Doch die Harfe war nicht zu verkaufen, und es war Esik, der darauf hinwies, daß in Tjaga Vegi, mitten im Wald von Feréc, eine Frau namens Kara Czurall lebte, eine Instrumentenbauerin mit großem Ruf und Fähigkeiten. Wenn irgendjemand dieses Instrument erklären oder identifizieren könnte, dann sie.

Wunderbar, meinten die Abenteurer, nach Feréc wollten sie sowieso.

Hm. Ob sie dann, ihm, Esik, vielleicht einen Gefallen tun könnten und einen Brief an Kara mitnehmen? Sarka wollte zwar dieselbe Strecke reisen, aber die sei ja so unzuverlässig...

Klar, warum nicht? Man hilft doch gerne, und außerdem konnte so ein Brief sich als Eintrittskarte erweisen, falls Kara nicht jeden empfing.

Am 5. Januar brachen sie endlich auf. Esik gab ihnen vor der Tür des Hauses des Fahrenden Volkes den Brief,eine versiegelte und mit fremden Schriftzeichen versehene Rolle, und antwortete auf die Frage, was die eigentlich enthielte: "Noten".

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2. Kallaby

(5. - 11.1.1026)

Noten. Wenn sie auch nur geahnt hätten, was diese "Noten" ihnen an Ärger einbringen würden, hätten sie sie nie angefaßt -- oder wenigstens Geld dafür verlangt.

Die ersten Tage lang verlief ihre Reise auf der zugefrorenen Sorla glatt und angenehm. Alles Land war tief verschneit, die Tage eiskalt und sehr hell, die Nächte noch kälter und sternklar, der Nordwind schob sie gradezu vorwärts. Mit den Skiern, auf denen sie sich fortbewegten, gab es einige Anfangsschwierigkeiten (keiner von ihnen konnte Skifahren!), so daß sie in den ersten Tagen keinen besonders guten Schnitt machten, und erst am Abend ihres dritten Reisetages die Stromschnellen (zu dieser Jahreszeit ein Eiswunder) erreichten. Nachts schliefen sie draußen, um Geld zun sparen, und schockfrosteten dabei wohl alle Krankheitsgeister in der Nähe -- jedenfalls bekamen sie nicht mal einen Schnupfen.

Links und rechts des breiten Flusses zogen sich Dörfer hin und täuschten eine Bevölkerungsdichte vor, die nicht da war -- wenige Meilen hinter den Dörfern ragten bewaldete Hügel empor, in denen niemand lebte. Weiter im Westen lag Meall Breac, im Osten dagegen, soweit sie erfuhren "sehr viel gar nichts".

Am Abend des 8. Januar sah der Himmel hochinteressant aus, und Sharevi schnupperte in den Wind und meinte, da zöge ein kräftiger Sturm auf, und sie sollten lieber sehen, daß sie unter ein festes Dach kämen.

Das nächste dorf hieß Stevenstad, und hier fanden sie ein Gasthaus, wo sie sich einquartierten und den Sturm abwarteten. Der zehnte Januar brachte neben einem klaren Himmel aber auch ein böses Erwachen: Beim Zusammenpacken merkten sie, daß ihnen alle Papiere fehlten -- Briefe, Landkarten, Empfehlungsschreiben, leere Bögen, und natürlich auch Esiks Brief.

Zeter und Mordio! Großes Geschrei! Der Wirt, als er von dem Diebstahl erfuhr, war genauso empört wie die Abenteurer (oder tat zumindest so), und erzählte ihnen sofort, daß nur eine Person bereits aufgebrochen sei, anscheinend nach Süden. Die Abenteurer hatten Glück: an den Typen erinnerten sie sich. Merlon hieß er, sah nach nix aus, aber wiedererkennen würden sie ihn. Kojiro, Thegil und Greta, das Stallmädchen des Gasthauses, schwangen sich also auf die Skier, um dem Typen hinterherzuheizen. Wenn er auf dem Fluß blieb, hatten sie echte Chancen.

Sharevi und S'yrca blieben im Gasthaus, suchten in allen Ecken und sprachen mit den aufbrechenden Gästen -- darunter auch einem arroganten Menschen, der einen Ackergaul ritt. Sie fanden nichts.

Dieser Mensch auf dem Ackergaul überholte auch die Skifahrer kurz vor einem, laut Greta, völlig unwichtigem Ort namens Kallaby. Kojiro hinkte inzwischen zu Fuß hinterher: In der Eile hatte er sich so gekonnt hingelegt, daß ihm ein Ski zerbrochen war.

Kallaby war so ein Kaff, daß es nicht eimal eine Gastwirtschaft hatte, sondern nur eine Suppenküche, wo Reisende sich aufwärmen und billig etwas zu futtern kriegen konnten. Angebunden vor der Suppenküche stand ein Ackergaul. Und an einem der langen Tische, mit einem Teller Suppe vor sich -- denn schließlich war er ohne Frühstück aufgebrochen -- saß Merlon und erschrak sichtlich, als Thegil auf ihn zusteuerte. Der Spitzbube wollte sich durch die Hintertür verdrücken, aber da war der Koch vor: kein Zutritt! Es entstand ein gemäßigter Tumult, aber Thegil ließ sich daran gelegen sein, den Überblick zu behalten, und so bemerkte er, daß ein blonder, kräftiger Mann, der ebenfalls im Gasthaus von Stevenstad gewesen war, versuchte, die Szene zu verlassen.

Er hinderte ihn daran, worauf der Fremde mit einer Arroganz reagierte, die die Dörfler sofort gegen ihn einnahm und Thegil für einen Moment sprachlos ließ (er kämpfte mit dem Lachen und fand seine übliche Redegewandheit schnell wieder).

Er (der Fremde) sei schließlich eine Person von Rang und Stand und hätte es überhaupt nicht nötig sich in irgendeinem Hinterwäldlerkaff vor irgendwelchen Dahergelaufenen... Nun gut, er sei bereit, sich zu dieser halt- und hirnlosen Anklage zu äußern, allerdings nur vor einem ordentlichen Gericht, das natürlich erst zusammengerufen werden müßte und bestimmt seien die Mitglieder des Gerichts höchst erfreut, mitten im Winter wegen einem solchen Unsinn nach Kallaby reisen zu müssen...

Endlich tauchte Kojiro auf. Er erkannte das Pferd sofort wieder und versuchte, an die Satteltaschen zu kommen -- den Brief zurückklauen wäre doch eine elegante Lösung. Leider hatte das Pferd da was gegen. Der vermeintliche Acklergaul erwies sich als gut ausgebildetes, wenn auch nicht besonders dekoratives Schlachtroß. Von da an stand Kojiros Ziel fest: Er mußte dies Pferd haben, egal wie

In dieser Stimmung betrat er die Suppenküche, übernahm die Aufsicht über den beleidigten zukünftigen Ex-Pferdebesitzer und informierte Thegil über den wahrscheinlichen Aufenthaltsort seiner Schreibmappe.

Thegil sprach ein paar Worte mit dem Pferd, was dieses etwas aus dem Konzept brachte (Schlachtroß oder nicht, Pferde sind nun mal keine Geistesgrößen) und fischte dabei eilig den Brief aus den Satteltaschen.

Vergnügt kam er zurück. Der Dieb hatte sich inzwischen unter dem Namen Toran von Rabenfels vorgestellt und forderte weiterhin, daß diese Farce sofort zu beenden sei!

Nichts lieber als das, dachte Thegil. Von Rabenfels? Ein Adliger gar? Womöglich aus dem Kaiserreich? Und er begann, das Kaiserreich im allgemeinen, seine herrschende Klasse im speziellen und Toran im besonderen systematisch zu beleidigen. Kojiro kapierte schnell, was gespielt wurde und beteiligte sich, soweit seine Sprachkenntnisse es zuließen.

Toran wurde erst rot, dann immer röter und schließlich weiß vor Wut. Und tat genau das, was Thegil gehofft hatte: Er forderte den unverschämten Elfen zum Duell. Sein Plan bei dem Spiel war, aus diesem frechen Bengel Elfenfrikassee zu machen und im Schutz altehrwürdiger Duellregeln dieses blöde Kaff zu verlassen -- mit der Beute. Thegil, dem als Herausgefordertem die Wahl der Waffen zustand, dachte allerdings nicht daran, Torans Spiel mitzuspielen. Als "Waffen" und Austragungsort wählte er unter dem Gejohle der Dörfler und Reisenden: Raufen. Im Pferdemist. Vor der Suppenküche.

Toran verfärbte sich noch ein paar Mal und erklärte sich dann einverstanden. Es sollte bis zu K.O. oder aufgeben gekämpft werden. Die Dörfler rannten eilig zu ihren Ställen und Misthaufen und bereiteten den Kampfplatz vor.

Draußen war es blendend hell, der Schnee war vom Sturm zu Wehen aufgetürmt und es war so kalt, daß der dampfende, stallwarme Pferdemist fast verlockend aussah.

Beide Kontrahenten zogen Mäntel, Jacken, Pullover, Hemden und Überhosen aus. Toran, zeigte sich, war breit und muskulös, hinter ihm hätte sich Thegil zweimal verstecken können. Aber man ist ja nicht umsonst Elf und Zauberer, und von "keine Magie" war nie die Rede, oder? Thegil wandte einen Stärkezauber an. Der Kampf begann.

Um es kurz zu machen, Toran hatte keine Schnitte. Er landete schneller und gründlicher im Mist, als selbst Kojiro es vermutet hätte. Aber er weigerte sich, aufzugeben, und tatsächlich gelang es ihm irgendwann, sich zu befreien -- der Elf mochte ja ungeheuer stark sein, aber er wog trotzdem nicht viel mehr als sechzig Kilo, was unter den gegebenen Umständen ein klarer Nachteil war. Toran befreite sich also. Und zog einen Dolch aus dem Stiefel. Es ging so schnell, daß nicht eimal Kojiro, der vorne in der Zuschauermenge stand und mit linken Touren rechnete, es wirklich sah. Vor allem des wegen, weil er nicht damit gerechnet hatte, im gleichen Moment von hinten von einem Pferd angegriffen zu werden. Das Schlachtroß war nur lose angebunden gewesen, und seinem Herrn zur Hilfe gekommen. Kojiro reagierte reflexartig, verteidigte sich und verletzte das Pferd leicht mit dem Bihänder (zum Glück nur leicht, wie er später überlegte, sonst wäre der Traum vom eigenen Schlachtroß vorerst ausgeträumt gewesen). Dann war das Pferd durch, Thegil versuchte noch einen Schnellschußzauber, ohne Erfolg, und Toran sprang in den Sattel. Das Pferd bäumte sich auf, trat nach Thegil, traf und brach ihm den Arm, Toran trieb das Pferd an, brach durch den Ring und suchte das Weite, während Kojiro nichts anderes übrig blieb, als Pferd und Reiter Pfeile und Flüche hinterherzusenden.

Die Dörfler waren außer sich vor Zorn über dies miese Gehabe des Kaiserlichen -- sicher war dieser Toran ein Kaiserlicher, Bürger des Rake machten so was einfach nicht -- und überschlugen sich vor Hilfsbereitschaft. Der Dorfheiler, der schon vorsichtshalber mit Verbandskasten am Kampfplatz aufgetaucht war, kümmerte sich um Thegil und stellte fest, daß der gebrochene Arm im Moment ein geringeres Problem war als der Kratzer von Torans Dolch. An dem Dolch war ein langsam wirkendes Gift gewesen. Mehr Flüche wuden auf Torans Haupt geladen, und Kojiro hatte seine liebe Mühe, die Dörfler davon abzuhalten, auf der Stelle mit Spießen und Mistgabeln hinter dem Fiesling herzurennen.

Nicht, daß es nicht Kojiros Plan gewesen wäre, Toran zu erledigen (schließlich hatte dessen Pferd sich einmal mehr als äußerst wertvoll erwiesen), aber er wollte bitte schön das Unternehmen anführen. Er überzeugte die Leute von seiner Kompetenz, und während der Lokalchamp im Skirennenfahren nach Norden losheizte, um den Heiler von Wulfsbrake zu holen, der Erfahrung mit Vergiftungen hatte, suchte Kojiro sich unter der Dorfjugend eine kleine Truppe von Ortskundigen zusammen und hängte sich an Torans Haxen.

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3. Toran auf Abwegen

(10.1.1026)

Die Leute, die Kojiro ausgewählt hatte, waren Jarn Teranson, ein Jäger, Ilken aus Trastorf, die im Wirtshaus aushalf, und Ketari Tanson, die Tochter eines Bauern aus der Gegend, die nur zufällig an diesem Tag in Kallaby gewesen war. Jarn hatte seine Jagdwaffen dabei, Langbogen und Saufeder, während die Frauen sich mit den landesüblichen Messern, Stöcken und Speeren ausgerüstet hatten. Alle drei waren gute Skifahrer (besser als Kojiro -- Kunststück!) und kannten sich aus unterschiedlichen Gründen in der Gegend gut aus.

Die Jagd startete um die zweite Stunde des Nachmittags, was Toran einen Vorsprung von einer Stunde gab. Die Verfolger fanden ohne Schwierigkeiten die Stelle, wo Toran vom Fluß ins Hügelland abgebogen war. Im hohen Schnee war die Spur des Reiters einfach zu lesen. Toran hatte sein Pferd den nächsten Hügel hinaufgetrieben, zu einem Punkt, wo man hervorragend beobachten konnte, was auf dem Dorfplatz von Kallaby vor sich ging. Hier hatte er eine Weile gestanden und herumhantiert -- und höchstwahrscheinlich seine Ersatzklamotten angezogen, schließlich war er in Unterhosen von Kampfplatz geflohen.

Von dem Hügel aus hatte er sich nach Süden gewendet. Bald verschwand die Spur in einem dichten Waldstück, wo der Boden nahezu schneefrei war. Es dämmerte schon, und die Verfolger entschlossen sich schließlich, einfach dem Pfad zu folgen, den Jarn für den besten hielt. Dieser Wald war nicht groß, und irgendwo mußte Toran ihn ja verlassen haben.

Die Sonne war untergegangen, als sie die Spur wiederfanden. Die Spur führte jetzt auf ein kleines Tal zu, das, laut Jarn, eine Quelle und eine geschützte Grotte enthielt und ein beliebter Lagerplatz von Jägern, Kräutersammlern und anderen Reisenden im Hinterland war.

Sie näherten sich dem Taleingang mißtrauisch und entdeckten tatsächlich eine improvisierte Speerfalle, die Kojio bei dem Versuch sie zu entschärfen auslöste. Er hatte Glück und kam mit dem Schrecken und einem Riß im Mantel davon. Vorsichtshalber zogen sich die Verfolger ein Stück zurück und Kojiro schmiß sich erst mal in Rüstung.

Was keine so gute Idee war: Toran wartete tatsächlich auf sie, allerdings nicht im Tal selber, sondern oberhalb der westlichen Böschung. Und er hatte eine kleine Überraschung für seine Verfolger.

Niemand hatte noch oben geschaut, deswegen sahen sie das Aufblitzen oben auf der Böschung nur aus den Augenwinkeln, und fuhren alle zusammen, als ein lauter Knall, ein Geräusch wie das Eis es macht, wenn es im Frühjahr bricht, von den Hügeln widerhallte. Kojiro spürte einen Schlag, als wäre er von einem Pfeil getroffen worden, nur gab es keinen Pfeil. Kaum hatten sie sich vom ersten Schock erholt, kam ein weiterer Blitz und Knall und Schlag, und wieder erwischte es Kojiro. Der war jetzt aber in Rüstung und zwar angeschlagen, aber auch fuchsteufelswild. Diese Stimmung übertrug sich auf seine Begleiter, denen ansonsten angesichts einer so merkwürdigen und unbekannten magischen Attacke ziemlich flau zumute gewesen wäre, und sie stümten die Böschung hinauf. Wo war der Halunke?

Der Halunke ließ sich in dem nächtlichen Wald nicht blicken. Es war reiner Instinkt, daß Kojiro sich im richtigen Moment umdrehte, um das Messer noch blitzen zu sehen, wegzutauchen -- und die Böschung hinunter vor die Hufen des wertvollen Streitrosses zu rollen. Er rettete sich den Hang hinauf und bot dabei Torans magischem Feuerstock ein gutes Ziel.

Inzwischen hatte der Halunke aber selber ein paar Probleme: eine Saufeder nämlich, die (dank Querstange) perfekt geeignet ist, einem Gegner von hinten die Beine wegzuziehen. Ein Blitz, ein Knall, niemand getroffen, und die ganze Bande, eingedenk der bekannten Devise, Zauberer sofort ins Handgemenge zu nehmen, schmeißt sich auf Toran. Der fuchtelte noch mit seinem vergifteten Dolch herum, kam aber nicht mehr los und bezog so heftig Prügel, daß er mehr tot als lebendig liegenblieb.

Kojiro, der die ganze Zeit das Hauptziel von Torans Angriffen gewesen war, fühlte sich selber mehr tot als lebendig, und daran, noch in dieser Nacht nach Kallaby zurückzukehren, war gar nicht zu denken. Ketari, die die beste Skiläuferin war, machte sich auf, um Hilfe zu holen.

Die Zurückgebliebenen verschnürten Toran sicher, errichteten ein notdürftiges Lager und machten sich ans Plündern. Toran, erwies sich, hatte außer seinen magischen Feuerstöcken noch ein großzügig verziertes Langschwert bei sich, einen Dolch (den sie gründlich reinigten), die erstaunliche Summe von 12 Silberstücken und ein Medallion, das einen Raben zeigte.

Es dauerte drei Stunden, bis Hilfe aus Kallaby kam -- das halbe Dorf auf Skiern und Schlitten, der Heiler von Wulfsbrake, S'yrca, Sharevi, und Thegil, der mit Müh und Not seiner übereifrigen Krankenschwester entkommen war. Zelte wurden aufgebaut, das Feuer geschürt, Tee und Suppe aufgesetzt, die Heiler kümmerten sich um die Verletzten. Am Ende kamen sie zu Toran, aber der war zwischenzeitlich gestorben, was niemanden wirklich überraschte und was auch niemand bedauerte.

Aber für den Geist eines Toten muß die Totenwache gehalten werden, damit er nicht zurückkommt und die Lebenden heimsucht. Und so wurde mehr Holz gesammelt, mehr Feuer angezündet, Steine für ein Grab zusammengetragen, und die Leute durchwachten die Nacht und sangen die alten Banngesänge.

Thegil beteiligte sich nicht.


Als der Morgen dämmerte, kümmerten sich die Abenteurer um das Pferd. Das hatte eine ganze kalte Nacht lang draußen gestanden, nichts zu futtern gekriegt, und war in der Stimmung, nett zu jedem zu sein, der nett zu ihm war. Kojiro kannte das -- er hatte nicht das erste Mal mit einem Streitroß zu tun -- und war am Mittag so weit, daß das Pferd ihn als neuen Chef anerkannte. Der Söldner war mit dem Ausgang der ganzen Angelegenheit hochzufrieden!

Auch sonst herrschte allgemein gute Stimmung. Die Beute konnte sich sehen lassen und wurde gerecht geteilt. Die Jugendlichen aus dem Dorf, die sich an der Verfolgung und dem Kampf beteiligt hatten, bekamen die Waffen, Thegil seine Papiere wieder, S'yrca schaffte Torans Giftvorrat diskret beiseite, und Thegil nahm die magischen Feuerstöcke an sich, mitsamt dem Kasten, in den sie offensichtlich gehörten. Eine weitere Aussparung in diesem Kasten machte ihn neugierig, und er suchte den Platz, wo der Kampf stattgefunden hatte, so lange ab, bis er ein merkwürdig verdrehtes Stück Metall gefunden hatte, das genau in diese Aussparung paßte. Schlau wurde er aus all dem trotzdem nicht.

In den Packtaschen fand sich außerdem noch ein Beutel mit Münzen, die die Abenteurer nicht kannten. "Des Kaisers Falschgeld", sagte der Dorfheiler verächtlich, Münzen aus dem Kaiserreich, die echtes Silber allenfalls mal von ferne zu sehen bekommen hätten.

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4. Mora

(11. - 13.1.1026)

Die Abenteurer blieben noch einen Tag und eine Nacht in Kallaby, schliefen sich aus und fingen an, sich Gedanken zu machen. Ihr weiterer Weg würde sie bei Awari über die Grenze und dann durchs Kaiserreich führen, wo man vielleicht einen gewissen Adligen, der wichtig genug war, um ein Schlachtroß und magische Gegenstände zu besitzen, allgemein kannte -- oder, wenn schlechte Nachrichten schnell reisten, schon nach den Verantwortlichen für sein Ableben suchte.

Am 12. reisten sie weiter. Thegil, der mit seinem kaputten Arm nicht skilaufen konnte, ritt auf dem Schlachtroß. Sie hatten es Troy genannt, denn das war der Klang, den das Pferd selbst als seinen Namen betrachtete.

Am Abend erreichten sie Mora.


Info: Mora

Mora liegt am Westufer der Sorla auf einem Hügel aus hartem Stein, den die Sorla ausgewaschen hat. Die Stadt hat einen kleinen Flußhafen und ist der Hauptumschlagsplatz für Pfeifenkraut -- das Hobbitland beginnt eine Tagesreise westlich der Stadt. Unter den Einwohnern der Stadt sind zahlreiche Hobbits. Mora ist bekannt für seinen Frühjahrsmarkt, bei dem Turniere und Wettbewerbe stattfinden und wertvolle Preise Leute aus so fernen Gegenden wie Dhiurradh oder Kyla anlocken. Das wichtigste Ereignis in der jüngeren Geschichte Moras ist das große Hochwasser von 1008, als ein außergewöhnlich heftiges Frühlingshochwasser die halbe Stadt wegschwemmte.

Das wichtigste Unternehmen in Mora ist Brego Lochners Spedition. Brego Lochner, ein Hobbit in den besten Jahren, organisiert den Transport von Nachrichten und Gütern in die gesamte bekannte Welt und möglicherweise darüber hinaus.


Die Wache am Tor empfahl ihnen die "Schifferstuben", ein einfaches, gut besuchtes Gasthaus, das sich als voll akzeptabel erwies.

Am Morgen des 13. besuchten die Abenteurer Brego Lochners Kontor, um sich generell über möglichkeiten und Tarife zu informieren, und Thegil gab einen Brief an seine Familie auf, was drei Silberpennies kostete.

Anschließend besichtigten die Abenteurer die Stadt -- bis auf Sharevi, die sich einer Gruppe von Kindern (Menschen- und Hobbitkindern) angeschlossen hatte, die in der vereisten, abschüssigen Torstraße Schlitten fuhren. Sharevi nahm bei verschiedenen Abfahrten fast das Stadttor mit, landete in mehreren Schneehaufen und bretterte am Ende zur allgemeinen Gaudi gegen die Wand. Der Schlitten zerlegte sich, und Sharevi bot Wiedergutmachung an. Das hörten die Kinder gerne, und man holte sich einen heißen Imbiß "bei Esmeraldas Eltern" -- was hieß, in der Küche des Ta Fae Hobbite, des besten Freßlokals in Mora.

Gegen Mittag reisten sie weiter, gerieten aber schon am Nachmittag in einen Schneesturm und verbrachten Abend und Nacht in der Scheune eines Bauern.

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5. Der Unwirklichkeitssturm

(14.1.1026)

Am Morgen schien der Sturm sich gelegt zu haben. Es war immer noch kalt, und der Himmel war grau verhangen. Die Reisenden wickelten sich in ihre Mäntel und machten sich wieder auf den Weg.

Doch gegen Mittag kam der Sturm mit voller Wucht wieder. Es wurde nachtdunkel und so kalt, daß sogar Sharevi die Zähne klapperten, und der Schnee bestand aus kleinen Eisnadeln. Die Abenteurer versuchten, Schutz zu finden, aber in der weißen Dunkelheit hatten sie schnell jegliche Orientierung verloren.

Plötzlich fühlte Sharevi, daß etwas sie anstupste: ein großer grauer Hund, den sie irgendwo schon mal gesehen hatte... Natürlich, in dieser merkwürdigen Gastwirtschaft, von wo aus sie das unglaubliche Abenteuer im Land der Magierkriege gehabt hatten (falls es nicht doch alles ein Traum gewesen war...).

Der Hund war jedenfalls da, und die Abenteurer folgten ihm: welchen schrägen Auftrag die Wirtin auch für sie haben mochte, besser als dieser Sturm war es allemal.

Doch der Hund führte sie nicht in die große, hell erleuchtete Gaststube, sondern in einen kleinen Nebenraum, den sie bisher noch nie bemerkt hatten. Dort saß die Wirtin über einem kleinen Ofen, der nicht ganz ausreichte, um das Zimmer zu heizen. Sie erkannte die Abenteurer wieder, und war offensichtlich nicht begeistert, daß der Hund gerade die angebracht hatte -- aber sie war auch nicht in der Lage, wählerisch zu sein.

Wie sie den Abenteurern bei einem Becher Kräutertee erklärte, war sie mitsamt ihrem Haus in einen Unwirklichkeitssturm geraten. Der Sturm hatte das Haus beschädigt, und anstatt nachzulassen, würde er immer heftiger. Ihr Auftrag an die Abenteurer war noch schräger, als diese vermutet hatten: Sie gab ihnen eine Flasche und erklärte, sie müßten das Wesen finden, daß im Auge des Sturmes tanzt, und es in diese Flasche bannen. Dabei sollten sie vorsichtig sein, denn in dem Sturm würden sich wahrscheinlich seltsame Wesen aus seltsamen Gegenden herumtreiben, und einige davon könnten richtig fies werden.

Sie gab den Abenteurern warme Mäntel "die werdet ihr brauchen", warf einen Blick auf Sharevi und erklärte kategorisch, "du bleibst hier, Mädchen, du hast ja Fieber", (ach, deshalb das Zähneklappern) und schickte die anderen los.

Die Gaststube bot einen traurigen Anblick. Irgendetwas sehr starkes (der Sturm?) hatte ein riesiges Loch in die Rückwand geschlagen, durch das man in eine sternfunkelnde Leere guckte. Das Mobiliar lag verstreut umher, und unter der Treppe ins obere Stockwerk hatte sich ein großes schwarzes und sehr ängstliches Monster versteckt, daß sich bedroht fühlte und mit Gegenständen warf, wenn man ihn zu nahe kam -- was man unvermeidlich tat, wenn man sich dem Loch näherte. Die Abenteurer warfen mit Proviantpaketen zurück, bis das Monster hinreichend beruhigt oder beschäftigt war, um sie durchzulassen.

Hinter dem Loch lag eine Leere. Sie traten hinein und stellten fest, daß sie sie trug: Sie schwebten im Nichts, eine leicht schwwindelerregende Erfahrung. Der Wind war sehr stark, und bald war das Gasthaus in der Dunkelheit verschwunden.

Die Abenteurer wendeten sich gegen den Wind. Das Vorankommen war mühsam, und trotz der Mäntel spürten sie eine Kälte, die mehr war als nur die Winterkälte draußen. Es war die Art von Kälte, die man sich vielleicht vorstellt, wenn man von den Gefrorenen Höllen redet.

Endlich sahen sie ein Licht vor sich. Ein Haus mit erleuchteten Fenstern trieb in der Leere. Erleichtert hielten sie darauf zu und traten nach irgendeiner Zeit auf eine große, hölzerne Eingangstreppe, die zu einem gewaltigen, mit Schnitzereien verzierten Portal führte. Auf der Treppe war es windstill. Sicher, daß dies das Auge des Sturms sein mußte, machten sich die Abenteurer hoffnungsfroh ins Innere des Hauses auf.

Leider erwies sich das Haus als wenig kooperativ. Von außen hatte es gar nicht so groß ausgesehen, aber in seinem Inneren taten sich immer neue Räume und Gänge auf. Die Räume enthielten Monster (iih! Tür zu und weg), Wichtel (sofort ausfragen -- wissen leider auch nichts) und belebte Gegenstände (wer wirft hier mit Löffeln?). Kojiro nahm Teile des aggressiven Bestecks mit (Silber ist Silber- vielleicht würde es diesmal nicht verschwinden), die Panzerhandschuhe einer Rüstung und ein dekorativ über dem Kamin hängendes Schwert. Man nimmt halt was man kriegt, so als Söldner.

Irgendwann stießen sie auf etwas, das wie eine Küche wirkte. Eine freundliche, aber etwas merkwürdige Köchin wollte sie unbedingt dazu bringen, von ihrer Suppe zu essen ("Kommt rein, Kinder, Eßt, ihr seid ja ganz durchgefroren, eine warme Suppe wird euch gut tun!"), zu ihrer seltsamen Umgebung befragt bestritt sie allerdings, daß irgendetwas ungewöhnlich wäre. Die Abenteurer beobachteten die Suppe mißtrauisch, und Kojiro bemerkte, als er aus dem Augenwinkel auf den Teller schaute, daß das Essen offenbar noch nicht ganz tot war -- es bewegte sich. Sie verließen fluchtartig die Küche.

Die ganze Sucherei brachte sie nicht weiter. Kleine Kämpfe und die ständige Kälte fingen an, ihnen an die Substanz zu gehen. Eine Weile versuchten sie es noch mit reiner Sturheit, und dann, endlich, mit Nachdenken.

"Paßt auf, womit ihr rechnet", hatte ihre Auftraggeberin ihnen gesagt, "es könnte geschehen." Konnte das bedeuten, daß sie ewig weitere Räume finden würden, wenn sie annahmen, daß diese Räume da waren? War es in Jené nicht so ähnlich gewesen? Und -- kein Wind: waren sie wirklich "im Auge des Sturms", oder ließen sie sich, wie die Seehexe S'yrca vermutete, nur treiben?

Schließlich verließen sie das Haus und wendeten sich wieder gegen den Wind, dessen Stärke noch zugenommen hatte.

Sie schauten nicht zurück und niemand merkte, daß eines der Wesen, vor denen sie gewarnt worden waren, hinter ihnen aufgezogen war -- bis S'yrca sich im letzten Moment umdrehte, und zwar noch Zeit hatte zu schreien, als sie das Alptraumwesen sah, das mit Händen wie Schlachtermesser nach ihr griff, aber keine Zeit mehr, ihm auszuweichen. "Das ist alles nur ein Traum", dachte S'yrca, als das Ungeheuer sie fast in zwei Teile schnitt, "das ist alles gar nicht wahr". Und so bewies sie, daß in dieser merkwürdigen Unwirklichkeitsebene fest-dran-glauben (oder eben: nicht-dran-glauben) die wirksamste Magie war, denn die schrecklichen Klingen gingen durch sie hindurch, ohne Schaden anzurichten.

Ein höchst absonderlicher Kampf begann, in dem die Kontrahenten mehr damit beschäftigt waren, an die Wirksamkeit ihrer Attacken zu glauben als damit, sie tatsächlich auszuführen. Leider erwies sich, daß das Ungeheuer auch im Dran-Glauben nicht schlecht war. Die Abenteurer sahen sich schon auf der Verliererseite, als Thegil die rettende Idee kam: Er fischte eine Handvoll Silbernadeln aus seiner Tasche mit den Zaubermaterialien und überzeugte sich selbst davon, daß die Nadeln unter diesen Umständen zu Feuerbällen werden würden, wenn sie jemanden oder etwas trafen. Thegil warf also mit Nadeln und löste ein hübsches und effektives Feuerwerk aus. Das Ungheuer verschwand in einem Hagel von Feuerbällen.

Der Rest war fast verblüffend einfach. Die Gestalt im Auge des Sturms erschien als ein junges Mädchen in einem weißen Kleid, die sich keiner Schuld bewußt war, aber die Abenteurer hatten die Faxen dicke und der Zauber in der Flasche war stark genug, um auch ein unwilliges Opfer einzufangen. Der Rückweg war einfach und viel kürzer als der Hinweg.

Die Wirtin dankte ihnen und sagte, sie könnten die Mäntel behalten. Sharevis Erkältung war fast weg, und Kojiros "Beute" war noch da. Sie verließen das Gasthaus und fanden sich zwischen Schneewehen in einem Schilffeld am Ufer der zugefrorenen Sorla, während im Osten eine große orangene Wintersonne aufging.

rauf


6. Löwenmenschen

(15./16.1.1026)

Die Abenteurer reisten weiter, um das Tageslicht zu nutzen, hatten aber vor, bald nach dem Mittag eine Rast einzulegen und sich auszuschlafen. In der klaren Luft sahen sie die beiden Berge des Sorladurchbruchs, die Grenze zum Kaiserreich, vor sich liegen, und ehe sie die überquerten, waren ohnehin noch ein paar Überlegungen anzustellen. Der letzte Ort vor der Grenze war Vasstad, dort konnte man ihnen vielleicht praktische Hinweise geben. Sie verließen den Fluß und zogen auf der zugeschneiten Straße am Ostufer der Sorla weiter, um Vasstad nicht zu verpassen.

Gegen Mittag fanden sie auf der Straße einen Toten. Die Spuren waren leicht zu lesen: Der Mann war mit einem Pony auf der Straße gereist, in einem Hohlweg aus dem Hinterhalt von zwei Leuten überfallen und mit schweren Kriegspfeilen niedergeschossen worden. Die Räuber waren in Richtung Osten abgehauen. Weitere Spuren von dem Pony waren nicht zu entdecken. Der Tote war nicht ausgeplündert worden: er hatte Geld und einen Paß des Kaiserreiches dabei.

Es war kein angenehmer Ort, aber leidlich geschützt, und die Abenteurer wollten zwar der Sache nachgehen, waren aber viel zu müde, es noch am selben Tag zu tun. Also suchten sie sich einen sicheren Platz, teilten Wachen ein und machten es sich so gemütlich wie es eben ging. Sharevi bestand darauf, daß für den Geist des Toten die üblichen Gesänge angestimmt werden müßten, aber das, meinten die anderen, könnte die Wache doch aus tun -- oder?

Am nächsten Morgen versuchte Thegil, den Paß zu kopieren, was ihn allerdings vor beträchtliche Probleme stellte, da ihm die Sprache völlig unbekannt war. Derweil begruben die anderen den Toten.

Später folgten sie den Spuren der Räuber ein paar Kilometer weit und stellten fest, daß die Banditen ziemlich groß sein mußten: sie machten riesige Schritte und ihre Fußabdrücke waren erheblich größer als selbst die von S'yrca. Nach knapp einer Stunde fanden sie in einem Gebüsch Knochen und einen großen Blutfeck. Die Knochen identifizierten sie als Ponyknochen.

Darüber grübelten sie eine Weile. Hieß das, die Räuber hatten das Pony getragen? Und dann hier geschlachtet -- und bis auf die Knochen abgenagt? Tatsächlich waren Spuren von Zähnen an den Knochen, und einige waren gespalten und das Mark herausgelutscht. Die Abenteurer kamen zu dem Schluß, daß sie diesen Räubern vielleicht lieber doch nicht begegnen wollten. Sie kehrten zur Straße zurück und kamen am Nachmittag nach Vasstad.

Vasstad war ein Dorf, aber von einer ernstzunehmenden Palisade umgeben. Die Reisenden wurden zu Layini Mirrison, der Dorfvorsteherin geschickt. Die resolute Frau in den fünfzigern war keine Fremde in Sachen Grenzverkehr zum Kaiserreich, und ihr Haus sah nach bescheidenen Wohlstand aus. Die Abenteurer berichteten ihr von dem Toten auf der Straße und den merkwürdigen Spuren. Anhand des Passes konnte sie ihnen sagen, daß der Tote ein Krämer gewesen war, der mit Nippes handelte. Sein Paß berechtigte ihn zu Grenzübergang und zum Handel im Kaiserreich.

Auch Vasstad hatte einen haftigen Sturm erlebt, und das wirklich merkwürdige daran war, erzählte Layini, sei, daß der Sturm einige Sachen durcheinander geblasen habe, die man ihm gar nicht zugetraut hätte: So hätte zum Beispiel am Morgen nach dem Sturm ihre Stalltür verkehrt herum in den Angeln gehangen, und auf dem Dorfplatz sei ein Frosch von der Größe eines Hasen aufgetaucht und dann mit einem Satz spurlos verschwunden -- behauptete zumindest Kelan Drattir der, zugegebenermaßen, manchmal etwas wunderliches Zeug erzählte.

Kojiro schaltete plötzlich und prustete vor Schreck in seine Suppe. Sturm? Merkwürdige Erscheinungen? Könnte es sein, daß die Ponyfresser vom Unwirklichkeitssturm hertransportiert worden waren?

Zuerst war aber das Problem des Grenzübertritts zu diskutieren. Layini empfahl, sich als Händler, Gaukler, oder Söldner auf Arbeitssuche auszugeben und möglichst nichts von Zauberei zu erzählen, da die Kaiserlichen da ziemlich übertrieben drauf reagieren würden.

A propos übertrieben... Die Abenteurer erzählten von Toran ("Es war ein Unfall und er hat angefangen!"). Als sie das Rabenmedallion vorzeigten, verfärbte sich Layini und begann zu lachen: nein, meinte sie, das sollte im Kaiserreich wirklich nicht bekannt werden! Woraufhin Thegil und Kojiro, die in Kallaby am deutlichsten in Erscheinung getreten waren (und in dieser Gegend am wenigsten als Einheimische durchgingen) beschlossen, sich lieber über die Grüne Grenze zu machen und ein paar Silberstücke in falsche Pässe zu investieren.

Die Anfertigung der Papiere würde ein paar Tage in Anspruch nehmen. Inzwischen, meinten die Abenteurer, könnten sie sich nochmal um diese Ponyfresser kümmern. Nur Thegil meinte, ein junger Elf bräuchte seinen Schlaf, ließ sich von Layina eine ruhige Ecke zuteilen und hoffte auf ein paar angenehme oder vielleicht hilfreiche Träume (jedenfalls behauptete er das).

Die anderen beschlossen, erstmal nach dem Gasthaus zu suchen. Wenn irgendwer wüßte, was mit Wesen, die sich in der Dimension geirrt hatten zu tun sei, dann doch sicher die Wirtin!

Sharevis Suche war erfolgreich: Am Waldrand fand sie erst den Hund und dann das Haus. Sie stieg durch das Loch in der Rückwand ein, stellte fest, daß das furchtsame Ungeheuer immer noch in der Besenkammer unter der Treppe lauerte, und fand die Wirtin. Die hatte eine gute Meinung von "Aufräumungsarbeiten" nach einem Unwirklichkeitssturm und kramte von ihrem Dachboden (ein faszinierender Ort voller obskurer Objekte!) ein bronzenes Horn. "Wenn du es in der Nähe eines Wesens bläst, das nicht in diese Welt gehört, öffnet sich ein Tor, durch das es in seine Welt zurückkehren kann" erklärte die Wirtin. "Du brauchst mir das Horn nicht wiederzugeben -- das kommt schon von alleine." Das Horn wurde an dem Besenkammermonster getestet und funktionierte zur allgemeinen Zufreidenheit.

Inzwischen wurde Sharevi vermißt, und S'yrca und Kojiro machten sich auf, um sie zu suchen. In der Dunkelheit hielten sie die grade zurückkommende Sharevi für eins der Ungeheuer und jagten sich gegenseitig einen Riesenschrecken ein.

Glücklich wiedervereint versuchten sie dann, die Spur der Monster wiederaufzunehmen, brachten es aber nur fertig, sich im nächtlichen Wald heillos zu verlaufen und jede Menge Krach zu veranstalten.

Was die "Monster" hörten und als Anlaß nahmen, sich in einen Hinterhalt zu legen. Nur die schiere Orientierungslosigkeit der Abenteurer verhinderte, daß sie mitten hineinliefen, und so wurde nur Kojiro von einem der schweren Pfeile, die sie schon in dem Krämer gefunden hatten, getroffen. Zum erstenmal sahen die Abenteurer ihre Beute -- und S'yrca und Sharevi waren hin und weg. Mit was auch immer sie gerechnet hatten: Löwenartige Humanoiden mit strahlendblauen Augen und prächtigen weißen-goldenen Mähnen waren nicht dabei gewesen.

Kojiro war weniger beeindruckt. Da waren Feinde, hier war sein Bihänder -- auf sie!

Eine kurze Schlägerei entspann sich. Kojiro hieb einem der Gegner mit einem meisterhaften Schlag glatt das Bein ab (was ihm wütende Blicke der beiden Frauen eintrug) und S'yrca rannte einen über den Haufen. Am Ende gelang es ihnen, den unverletzten Löwenmenschen durch das Tor zu locken und den anderen praktisch reinzuwerfen. Das Tor verschwand.

Körperlich und emotional ziemlch geschlaucht machten sich die Abenteurer auf den Rückweg, nicht ohne an Beute mitzunehmen was sich finden ließ: eines der Schwerter und einen kleinen Kasten ungeklärten Inhalts.

In der folgenden Tagen und Wochen sollte sich Kojiro noch oft seines meisterhaften Schlags rühmen, den er zu seinem Bedauern nie wieder hinbekam. Das einzige, was ihn zum Schweigen brachte, waren S'yrcas und Sharevis wütende Drohungen und Vorwürfe ("Das macht man einfach nicht! Die waren sooo schön!"). Er verstand zwar nie, was die beiden eigentlich hatten, aber er hielt den Mund.

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Wird fortgesetzt!


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