Solveigs Geschichten: 1983
...wo Solveig nach Terrania reist, und bei der Dritten Macht landet.

Klassifizierung:
Gen, FSK 12, Abenteuer/Drama
ca. 35.000 Wörter
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1983


12. Juni

OK, neues Tagebuch, neues Glück. Seit vorgestern bin ich fertig mit der Schule, fertig mit -- ich weiß noch nicht, mit was sonst noch. Ab 29. August Studentin: Politologie und skandinavische Sprachen. "Was willst du damit werden?" Taxifahrer, sage ich. Politik? fragt Nikki. Dazu müßte ich eine Politik haben, sage ich. Schadet nur, sagt er. Lissa bewirft ihn mit einem Kissen.

Lissa. Meine beste Freundin. Wir hängen bei ihr rum, hören Musik, trinken Tee. Lissa und Nikki (mein Teilzeitfreund?) bewerfen sich mit Kissen. "Ach komm", sagt Lissa. "Schreib nicht die ganze Zeit. Erzähl' was. Du fährst wirklich nach Terrania?"

***

Ich fahre wirklich nach Terrania. Meine Eltern haben mich gefragt, was ich mir zum Schulabschluß wünsche, und ich habe gesagt, "eine Reise". Sie waren enttäuscht, daß ich nicht gesagt habe "ein Auto". Aber Autos begeistern mich nicht. Autos fühlen sich veraltet an. In zehn Jahren wird es keine Autos mehr geben, nur Gleiter, Schweber, Flieger. "Wohin?" fragen sie, und ich überlege: nicht, weil ich nicht weiß, wo ich hin will, und das könnte Ärger geben. "Terrania", sage ich trotzdem.

Meine Eltern halten nichts von Terrania, nichts von Rhodan, nichts von der Weltregierung, nichts von Raumfahrt. Raumfahrt ist für sie Anmaßung, und Rhodan ein amerikanischer Abenteurer und Imperialist. '67 sind sie gegen den Vietnamkrieg marschiert, da war ich zwei Jahre alt. Ich erinnere mich nicht daran, aber es gibt ein Foto davon, mein Vater mit langen Haaren und ich, bei meiner Mutter auf dem Arm, kaue auf einem Fähnchen mit einem Stern drauf herum.

Ich zucke die Schultern, ein 'nicht so wichtig'. "Wenn's mir nicht gefällt, fliege ich weiter nach Australien", sage ich. Das Great Barrier Riff. Ayers Rock. Känguruhs. "Sei vorsichtig", sagt mein Vater, "in Australien gibt es giftige Spinnen." Ich nicke. Er schreibt einen Scheck. Und ich fliege nach Terrania.

***

Früher habe ich mich jedem meiner Tagebücher vorgestellt. Hallo, ich bin Solveig Jamieson. Ich bin achtzehn Jahre alt und lebe in Stockholm, in Schweden. In Europa. Auf der Erde. Im Sol-System. In der Milchstraße. Jetzt habe ich das wieder gemacht. Hallo liebes Tagebuch. In zehn Jahren hat keiner mehr ein Tagebuch. Da haben sie... irgend etwas anderes, irgend etwas Intelligentes, Positronisches, in das ein ganzes Leben paßt, und das nur so groß ist wie eine Glasmurmel. Vor zehn Jahren fingen die Leute erst an, an Raumfahrt zu glauben, und an Leben auf anderen Planeten. Vor zwölf Jahren flog Rhodan zum Mond und unsere Lehrerin erklärte uns, daß es kein Leben auf anderen Planeten gab, daß es wahrscheinlich nicht einmal andere Planeten gab, daß die Erde und das Leben unglaublich unwahrscheinlich waren. Ich war wütend! Ich wollte nicht unter einem leeren Himmel leben. Und Rhodan kam zurück und füllte den Himmel mit Geschichten von Raumschiffen und fernen Zivilisationen, einer Galaxis, die von Leben wimmelte wie ein Ameisenhaufen. Wenige Tage feuerten die Großmächte ihre Atomraketen aufeinander ab, weil jeder glaubte, Rhodan würde für einen der anderen arbeiten. Keine der Bomben explodierte, aber ich denke, meine Eltern haben Rhodan nie den Schock verziehen, den er ihnen versetzt hat.


30. Juni

Morgen. Morgen fliege ich nach Terrania. Der Rucksack steht gepackt neben meinem Bett, und ich kann nicht schlafen. Habe ich alles?

Reiseführer, Tagebuch, Traveller Cheques, Walkman, Kassetten. Was zu lesen. Zwei lange Hosen, Shorts, fünf T-Shirts, Pulli, Regenjacke (wozu?), Wäsche zum Wechseln. Sandalen, Turnschuhe, Wanderschuhe. Seife, Zahnpasta, Zahnbürste, Haarbürste (wozu? Ich habe mir noch mal die Haare schneiden lassen. Sie sind jetzt ganz kurz). Shampoo. Zeug. Reiseführer? Ja, da. Reisewecker, Paß, Flugtickets. Traveller Cheques? Ja. Auf Dollar ausgestellt, zweitausend Dollar. Ich habe gehört, Terrania ist teuer. Hundert Dollar in kleinen Scheinen. So viel Geld.

Sonnencreme!

So, ist jetzt auch eingepackt. Ich sollte jetzt wirklich schlafen. Der Flieger geht morgen um 8. Er fliegt gegen die Sonne, umsteigen in Moskau, vier Stunden Reisezeit, elf Stunden auf der Uhr. Ich war noch nie so weit weg. Im Westen ist der Himmel noch hell. Wega steht so hoch, daß ich mich aus dem Fenster lehnen muß, um sie zu sehen. Weiße Riesensonne. 27 Lichtjahre entfernt. 42 Planeten. Und dort ist die nördliche Krone, dann ist der helle Fleck da M13. Arkon. Wenn ich noch ein bißchen in den Himmel gucke, sehe ich vielleicht Raumschiffe.


1. Juli

Vier Stunden Schlaf (keine Raumschiffe), eine Dusche, ein Frühstück und eine lange S-Bahn-Fahrt später bin ich am Flughafen. Ich kann dich hinfahren, bietet mein Vater an, verschlafen und unrasiert. Ich sage, ist nicht nötig. Ich versuche, mich zu erinnern, wie Flugzeuge aussahen, vorher. Schließlich gehe ich auf die Galerie hinauf, wo Bilder von alten Flugzeugen sind. Sie sind schlanker und haben viel größere, längere Flügel, und ich frage mich, wie ich das vergessen konnte.

Halb acht. Ich sitze da und gucke aufs Rollfeld. Der Flug ist mit Aeroflot. Das Flugzeug da hinten da könnte es sein. Es beginnt zu regnen.

***

Eine Stunde, nachdem wir abgehoben sind, landen wir in Moskau. Hier ist es später Vormittag und heiß. Die Passagiere nach Terrania werden in einen Shuttlebus geladen und übers Flugfeld zu einem noch breiteren, dickeren und kurzflügligeren Flugzeug geschafft.

Düster dreinblickende Uniformierte mustern unsere Papiere, als suchten sie einen Vorwand, uns auf der Stelle zu erschießen, winken uns aber schließlich durch. Die Sitze in dem Klipper nach Terrania sind breiter als in der Aeroflot-Maschine. Dafür habe ich jetzt keinen Fensterplatz. Auf dem Flug nach Moskau konnte ich die Ostsee sehen, sobald die Wolken aufrissen, Helsinki, Leningrad mit seinem großen See, und grün, grün, grün.

Düsentriebwerke heulen. Der Klipper hebt sich vom Boden und startet in einer steilen Kurve. Der Flughafen zieht unter uns weg als hätte jemand auf den Fast-Forward-Knopf gedrückt. Man hört keinen Überschallknall, wenn man selber im Flugzeug sitzt, man fliegt dem Schall davon.

Lissa meinte, ich sollte Physik studieren. Was werde ich dann, fragte ich, Lehrerin? Besser als Taxifahrerin, sagte sie. Die Eltern werden sich beschweren, wenn ich ihre Kinder für Experimente benutze, sagte ich.

Lissa wird Maschinenbau studieren. In einem Monat werde ich diese Strecke in die andere Richtung fliegen, nach Hause. Schreckliche Vorstellung. Der Mann im Sitz neben mir schnarcht. Ich krame meinen Walkman heraus. Springsteen. We gotta get out while we're young.

***

Dann bin ich eingeschlafen. Die Kassette lief noch, als ich aufwachte, is a dream a lie if it don't come true, or is it something worse, und ich war desorientiert und meine Augen waren feucht von fehlplazierter Melancholie oder aus Protest gegen die Klimaanlage. Terrania, habe ich gelesen, ist eine Insel aus Grün in der Wüste und Trockensteppe der Gobi, bewässert, wetterkontrolliert, fünfzigtausend Quadratkilometer Garten um einen hellblauen Salzsee, und eine schimmernde Energiekuppel über dem Zentrum der Dritten Macht. Wieso eigentlich Dritte, wenn es schon Russen, Chinesen und Amis gab, wer wurde auf den vierten Platz verschoben? Ich recke und verdrehe mich, um einen Blick aus dem Fenster werfen zu können. Der Typ neben mir wacht auf und guckt mich kariert an. "Waren Sie schon mal in Terrania?" frage ich. Er sagt etwas in einer Sprache, die Spanisch sein könnte. Oder Italienisch. Der Pilot sagt über die Sprechanlage, daß es am Zielort sieben Uhr abends ist. Wir landen.

***

Draußen krachte die Hitze in mich rein wie ein rangierender Laster. Ich war durchgeweicht, ehe ich im (klimatisierten) Bus war, der uns in die (klimatisierte) Ankunftshalle brachte. Die Luft roch nach Staub und verdorrten Pflanzen. Der Staub war gelb.

Erst mußten wir durch eine Paßkontrolle, die problemlos ablief. In der Ankunftshalle drängte sich das Volk vor den Schaltern und auf den Bänken. Große Fensterfronten überblickten das Landefeld. Ich beschloß, daß ich hier im Urlaub war und nicht auf der Flucht, suchte mir eine Ecke, wo ich niemandem im Weg war, hockte mich auf meinen Rucksack, und beobachte jetzt das Treiben.

Die Touris sind in der Minderzahl. Eine Gruppe von Deutschen, kaum älter als ich, brütet über Landkarten, Stadtplänen und drei verschiedenen Reiseführern. Ein amerikanisches Pärchen debattiert lautstark. Hinten in der Schlange am nächsten Schalter steht ein Mann, der aussieht wie ein Lehrer. Er hat nur ein Handköfferchen. Aus der Vordertasche guckt ein Reiseführer. Da drüben kichert eine Gruppe vergnügter älterer Damen. Bis auf zwei von den Damen sind alle Touris weiß.

Schlips-und-Anzugträger sind zahlreicher vertreten. Sie tragen alle ähnliche Anzüge und ähnliche Aktenkoffer, sind alle männlich und überwiegend mittleren Alters. Dafür gibt es sie in allen Farben, Formen und Größen.

Die überwiegende Mehrzahl der Leute schleppt große Koffer oder Seesäcke, ist eher jung als alt, wirkt eher arm als reich und ist asiatisch oder mediterran -- vielleicht Südamerikanisch?

Das Licht in der Halle geht an. Draußen geht schon die Sonne unter. Terrania liegt weit südlich. Die Deutschen streben der Hochbahnstation zu. Die Amerikaner haben beschlossen, ein Taxi zu rufen. Ich sollte auch mal sehen, daß ich weiterkomme. Mein Reiseführer sagt, es gibt hier eine Zimmervermittlung. Oh, großartig. Das ist der Schalter mit der längsten Schlange davor.

***

Sitze in der Hochbahn. Draußen ist es inzwischen dunkel. Vor und unter mir glitzert Terrania. Habe eine Adresse von einem Mädchenwohnheim. Kinsaha-Platz 12E, Terrania-West. Ich hoffe, die Frau von der Zimmervermittlung hat mich richtig verstanden. Vielleicht ein Studentenwohnheim, wo die Zimmer zwischen den Semestern an Touris vermietet werden? Sicherheitshalber habe ich mir noch einen Stadtplan und eine Hotelliste mitgeben lassen. Aber die meisten Hotels kosten mehr als hundert Dollar die Nacht. Gucken wir mal. Muß jetzt Walkman hören und aus dem Fenster gucken. Bin zufrieden mit der Welt.

***

Halb elf Terrania-Zeit. Für mich ist es halb vier Uhr nachmittags, und ich hatte noch kein Mittagessen. Ich sitze im Gemeinschaftsraum des Wohnheims. Ein paar Asiatinnen spielen in einer Ecke Domino oder so was. In einer anderen Ecke brummt ein Fernseher und zeigt ein Programm mit englischen Untertiteln, das ich trotzdem nicht verstehe. Sieht indisch aus. Meine Zimmergenossin ist aus Malaysia und spricht fast kein Englisch. Sie sucht Arbeit. Ich glaube, sie glaubt, daß ich das auch tue. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich reich bin und hier das Geld meiner Eltern verprasse. Das Zimmer kostet zweihundert Dollar die Woche, Bettwäsche und Tee inklusive, Duschen und Wäsche waschen extra. Bis zum Stadtzentrum sind es fünfzehn Kilometer, acht Haltestellen, das sind knapp zwanzig Minuten mit der Hochbahn, und es kostet nichts. Nett.

Soll ich noch mal los? Ich habe jedenfalls Hunger. Terrania ist eine sichere Stadt, sagt mein Reiseführer. Sie haben hier Roboter-Polizisten. Gruselig. Keine Klimaanlage hier drinnen. Ich geh' noch mal raus. Vielleicht ins Univiertel, da gibt es eine Direktverbindung mit der Hochbahn. Hoffentlich gibt's da um diese Tageszeit noch Futter.


2. Juli (morgens)

OK, das war nett.

Die Uni in Terrania ist im Prinzip eine Campus-Universität, das heißt, man haust auf dem Unigelände gleich neben den Hörsälen, anstatt wie anderswo ein Zimmer in der Stadt und ein Fahrrad zu haben. Das Gute daran ist, daß Studis natürlich auch ausgehen wollen und spät in der Nacht noch Hunger kriegen, und so gibt es vor den Toren des Campus eine gut ausgebildete Infrastruktur an Kneipen, Clubs, Kaffeehäusern, Imbißbuden und was sonst noch das Studentenleben erträglich macht.

Ich begann mit "Hunger!", in einem wohlfrequentierten Laden namens "Will's Diner", wo ich an der Theke saß, Curry-Hotdogs aß (scharf!) und bunte Handzettel, die auf den Fensterbrettern und dem Zigarettenautomaten auslagen, durchsah. Dann kam ich ein bißchen mit der Kellnerin ins Gespräch, die aus Neuseeland war und sich durch die Welt jobbte. Sie gab mir ein paar Tips, wo man um diese Zeit noch gut hingehen konnte, darunter eine irische Kneipe und ein Tanzschuppen.

Tanzschuppen, dachte ich. Wenn ich mich ein bißchen austobte, konnte ich vielleicht anschließend schlafen und kam über die Zeitumstellung weg.

Der Tanzschuppen hieß King Kong und hatte einen Türsteher, der dem Namen alle Ehre machte. Türsteher machen mich nervös, aber der hier grinste mich nur fröhlich an und nahm mir zwei Dollar ab, also war mein Aufzug (Shorts, ärmelloses T-Shirt und Laufschuhe) nicht ganz daneben, wenn auch ungewöhnlich. (Mit anderen Worten, ich sah aus wie ein Landei.) Die Musik ging stark in Richtung europäische New Wave und Synthrock, was eigentlich nicht so meins ist, aber es war OK.

Ich wimmelte zwei Typen ab, die beide den Eindruck machten, daß sie ein Mädchen, die ihnen einen zweiten Blick schenkte, gleich zum Traualtar schleifen würden, und tanzte mit einem dritten, der deutlich mehr Rhythmus hatte als ich und mit einer gemischten Clique da war. Leider verschwand der dann mit einer Anderen, und die Clique ging statt dessen mit mir noch "zum Abkühlen" in ein Lokal names "Maxi", wo man auf der Dachterrasse sitzen konnte und die Cocktails nach ein Uhr nachts nur noch die Hälfte kosteten. Es war angenehm kühl geworden. Wir redeten über Filme und Musik und verabredeten uns, übermorgen auf das Konzert einer Indie-Band zu gehen, die hier wohl ziemlich Kult ist.

Es war zwar noch dunkel, als ich zurückfuhr aber es war vier Uhr durch. So schaff' ich die Zeitumstellung nie.


5. Juli

Eh. Komme gar nicht mehr zum Schreiben. Soviel zum Thema gute Vorsätze. Habe heute Postkarten geschrieben, an meine Eltern, an Lissa und an Nikki. Die Postkarten sind alle fürchterlich, oder jemand hat die guten alle weggekauft. Eine einzige mit einer Weltraumaufnahme von der Erde habe ich noch bekommen und mit Lackstift "Ich bin hier" und einen Pfeil draufgemalt. Die kriegen meine Eltern. Ansonsten gibt es Aufnahmen von furchtbar langweiligen öffentlichen Gebäuden von Architekten, die Beton, Glas und rechte Winkel als eine heilige Pflicht sehen. Und realsozialistische figürliche Hübschheiten. Und idealisierte Portraits von galaktischen Heroen (oder so). Ich habe mich also ins Infantile geflüchtet. Lissa kriegt das Bild eines faden Verwaltungsgebäudes mit der Überschrift "Mein Ferienhaus" und so kreativen Beschriftungen wie "Bootsanleger" (im 12. Stock) und "Außenklo". Nikki kriegt einen Perry Rhodan mit Hornbrille und Zöpfen. Vielleicht finde ich noch irgendwo bessere Postkarten.

Einen Tag war ich am Rand der Wüste. Es gibt hier altchinesische Ruinen. Der Goshun-See hat wirklich ein ganz seltsames helles Blau, und glitzernde Salzstrände. Ich war einmal Baden und habe mir prompt einen Sonnenbrand geholt, der juckt jetzt.

Die Energiekuppel über dem Regierungsviertel sieht komisch aus, wie etwas, das es gar nicht geben sollte. Gestern habe ich ein Raumschiff starten sehen, einen Riesenbrocken. Ich weiß nicht einmal, ob das die STARDUST II war oder die SOLAR SYSTEM oder die TERRA. Ohne einen Maßstab daneben kann man nicht sagen, ob etwas nur "riesig" ist oder "oh mein Gott".

Manchmal ist gelber Staub in der Luft. Die Leute merken das gar nicht mehr. Ich wollte die ursprüngliche STARDUST sehen, die Mondrakete, aber die, habe ich erfahren, ist nach Nevada Space Fields zurückgeschafft worden.

Nachts legt sich der Wind und die Luft wird klar, dann sieht man die Sterne. Selbst die Stadt überstrahlt sie nicht. Es gibt ein Museum, wo Bilder und Sachen von anderen Welten ausgestellt sind. Ich habe einen ganzen Tag dort verbracht und fünf Kilo Bücher gekauft. Alles gesehen habe ich noch lange nicht.

In der Innenstadt gibt es fahrende Bürgersteige. Etliche laufen in unterirdischen, klimatisierten Gängen, in die sich alle Welt verdrückt, wenn es mittags über 40 Grad im Schatten ist. Fast überall wird gebaut. Manche der Baugruben scheinen groß genug, um ein mittleres Kuhdorf darin zu versenken. Ich frage mich, was das alles werden soll, wenn es fertig ist.

Abends ziehe ich mit Leuten rum. Einer davon, Cecil, hat einen Bruder bei der Raumakademie. Nächste Woche haben die da irgendeine Festivität und er hat mich gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte. Und ob ich möchte.

Ansonsten: Simon, studiert Volkswirtschaft, Adeline, Biologie, Samantha, Kybernetik, Edward, will sich zum nächsten Semester einschreiben, weiß aber noch nicht für was. Jeanne und Frederik studieren auch nicht, mögen nur die gleiche Musik wie der Rest. Jeanne und Simon sind zusammen zur Schule gegangen, seit sie 14 waren. Hier, in Terrania. Das macht sie fast zu Eingeborenen.


7. Juli

Bin heute zur Uni gegangen und habe mir Info geholt, was man braucht, um da studieren zu können. Antwort, einen Notendurchschnitt besser als den von Tomas, unserem heimischen Klassengenie, drei Empfehlungsschreiben, einen preiswürdigen Hausaufsatz, und eine Menge Kohle, weil man mit dem Aufgelisteten alleine noch kein Stipendium hat. Hmpf. Wieso denke ich da überhaupt drüber nach.

Tatsächlich hat Terrania noch drei andere, spezialisierte Unis. Gehe ich zu denen auch noch?

Sitze in einer Musikkneipe, wo Classic Rock läuft. Schreibe, trinke Cola. Rauche. Nein, ich gewöhn's mir nicht wieder an. (Wenn ich es mir je abgewöhnt habe. Das würde voraussetzen, daß ich es mir je richtig angewöhnt habe. Wie auch immer). Es ist nur so verqualmt hier, daß es egal ist, ob man selber raucht oder nicht, aber wie bei Knoblauch stört es einen weniger, wenn man mitstänkert.

Habe im Wohnheim für eine Woche verlängert. Sie haben uns noch jemand Drittes ins Zimmer gequetscht, Suzy aus Hongkong, die Englisch spricht wie ein Ansager beim BBC, und in der Rechtsabteilung einer internationalen Company arbeitet. Die haben aber auch keine Wohnung für sie, daran wird noch gebaut.

Terrania quillt über. Die Leute ziehen schneller her als jemand bauen kann, von aufstrebenden Anwältinnen wie Suzy bis zu Aziza, der Malaiin, dritte Tochter einer Landarbeiterfamilie, die jetzt Nachtschicht in einer Fabrik arbeitet und sagt, daß das besser ist als alles, was sie sich je erhofft hat. Es gibt Arbeit, aber vieles ist schlecht bezahlt, und Terrania ist teuer, es gibt immer jemanden, der billiger arbeitet oder teurere Mieten zahlt. So muß es in New York im 19. Jahrhundert gewesen sein.

Es sollte schrecklich sein, aber es ist... alles mögliche. Komplex. Man hat das Gefühl, daß hier alles möglich ist, daß ständig etwas passiert, und man möchte dabei sein.


10. Juli

War einkaufen. Das berühmte "kleine Schwarze" für die Abschlußfeier von Cecils Bruder. Lissa wird sich ausschütten vor Lachen.

Das bin nicht ich, denke ich, aber was immer "das" ist, es gefällt mir, und es beunruhigt mich. Ich bin hektisch und nachtaktiv und ich rauche zu viel und denke zu wenig, ich weiß nicht, ob ich abhauen soll, so lange ich mich noch wiedererkenne, oder bleiben und jemand anders werden. Hier zu sein ist eine Chance, aber ich sehe die Chance nicht, es ist immer noch meines Vaters Geld, das ich ausgebe. Soll ich auch nach Arbeit suchen? Ich habe nichts gelernt. Was WILL ich? Ich will ins Galactica-Museum gehen und Artefakte von fremden Welten ansehen. Und Bilder. Und Sterne.

Und heute abend gehe ich mit der Bande in ein experimentielles Theaterstück, das dem Vernehmen nach so schlecht ist, daß es Kult ist und schon seit drei Jahren gespielt wird.

Ich gewöhne mich langsam daran, daß es so heiß ist. Oder mir ist das Gehirn zu den Ohren herausgeschmolzen. Das würde vieles erklären.

***

10. Juli, spät abends, oder 11., früh morgens:

OK, mit IST das Gehirn zu den Ohren herausgeschmolzen. Das war so abartig, daß ich denken würde, ich hätte es geträumt, wenn ich nicht furchtbar wach und furchtbar nüchtern gewesen wäre, als hätte jemand die drei Cocktails und den Joint, den ich hatte, einfach abgeschaltet und mich in Eiswasser gedippt. Ich hatte noch nie im Leben so viel Schiß, und dann wurde es gruselig.

Mann. Meine Hände zittern. Ich brauche einen Tee.

Wir sind überfallen worden, aber auch irgendwie nicht.

Das Theaterstück oder "Happening" war genau so bekloppt wie vorhergesagt. "Zwei Hühner auf dem Weg nach vorgestern", sagte Diana, eine Kollegin von Jeanne, und wir lachten uns halb tot. Wir lachten noch, als wir rauskamen, hatten einen Mordshunger und holten uns jeder drei Curry-Hotdogs. Dann war mir übel, und Cecil bot an, mich zu meiner Hochbahnhaltestelle zu bringen, da ich nicht aussah, als sei ich alleine den fahrenden Bürgersteigen gewachsen. Ich war ihnen überhaupt nicht gewachsen, und wir gingen statt dessen zu Fuß auf der untersten Ebene, also auf dem Boden, mit der Bahn und den Transportsteigen und allem über uns. Es war ziemlich dunkel und ich starrte die Schattenmuster an, die beinahe Sinn ergaben. Und dann bewegte sich etwas. Es war ein enges Stück Weg, mit einem Wartungscontainer links und einem Bauzaun rechts, wir konnten gerade so nebeneinander gehen, und vor uns war dieser Typ, der war mindestens zwei Meter groß und hatte eine Waffe, ein ganz komisches, kleines, rundliches, silbern glänzendes Ding. Ich konnte auf nichts anderes gucken, ich freakte ganz still und leise aus. Der Typ redete, und ich realisierte, daß Cecil den Typen anstarrte statt die Waffe, und das vielleicht irgendwie cleverer war, also tat ich das auch. Der Typ erzählte Cecil und mir, daß wir eine Bombe auf die Abschlußfeier von der Raumakademie schmuggeln und dort detonieren lassen würden. Der glaubte das echt und beschrieb es in jedem Detail. Wie kam ein Irrer an so eine Waffe, fragte ich mich, sperrten die in Terrania die Irrenhäuser nachts nicht ab? Nach allem was ich wußte, konnte er das Ding in der Basteltherapie aus Salzteig gemacht und lackiert haben, was wußte denn ich? Ausprobieren wollte ich das aber nicht! Es war so oder so ein Scheißplan, weil wir neben der Bombe gestanden hätten (stehen würden?) wenn sie hochging. Der Typ war völlig irre. Cecil tat das Vernünftige und sagte, "ja, ja, ja, ja verstanden", und der Typ endete mit, "Sie werden niemandem etwas davon erzählen und diese Begegnung vergessen."

Dann ist ja gut, dachte ich. Der Typ ließ die Waffe verschwinden wie ein Hütchenspieler eine Erbse und trottete an uns vorbei, als gingen wir ihn nicht die Bohne was an. Cecil latschte weiter, ich ebenso. Erst als wir sicher und garantiert außer Hörweite waren, auf einer breiten, offenen, hellen Straße holte mich der Schock ein und ich hielt mich an einer Straßenlaterne fest, weil meine Knie weich wurden.

"Was ist los?" fragte Cecil besorgt. "Ist dir wieder übel?"

"Mein Gott, dieser Kerl!" sagte ich. "Was WAR das?"

"Welcher Kerl?" fragte Cecil. Ehrlich verwirrt.

"'Welcher Kerl'?" fragte ich empört. Etwas hysterisch vielleicht. Meine Stimme echote von den Wänden. "Der Kerl mit der Waffe, der uns da eben fünf Minuten lang vollgelabert hat?"

"Solveig", sagte Cecil mit einer Art von Vorsicht in der Stimme, als fragte er sich, wer von uns im falschen Film war, "da war niemand. Wir haben niemanden getroffen." Er schüttelte den Kopf, energisch, vernünftig. "Du hast viel zu viel abbekommen. Vielleicht solltest du ein Taxi nehmen?"

Meine Knie waren so weich, ich konnte kaum stehen. Ich sagte, "Ja, in Ordnung", und er rief ein Taxi. Ich wollte nicht auf offener Straße über Bomben reden. Vielleicht, dachte ich, wollte er das auch nicht. Oder er hatte noch mehr Schiß gehabt als ich und mußte mich ganz schnell loswerden und seine Hose wechseln.

Ich habe mir das nicht eingebildet. Ich weiß, daß ich mir das nicht eingebildet habe.


11. Juli

Oh Gott, war ich gestern abend zu. Was ich da geschrieben habe, macht überhaupt keinen Sinn.

Ich wachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen und dem Gefühl, daß etwas ganz und gar falsch war, auf. Nach einem kurzen Dialog mit der Kloschüssel trank ich einen halben Liter Wasser, nahm zwei Kopfschmerztabletten und duschte kalt und extra lange. Nie wieder Cocktails, schwor ich mir. Tee würde heute morgen nicht reichen, also machte ich mich auf den Weg in ein Kaffeehaus.

Jetzt habe ich zwei Kaffee (schwarz, extrastark) intus und fühle ich mich klarer als seit Tagen. Die Klimaanlage tut das ihrige dazu.

Das Problem ist: Ich fühle mich völlig klar, und ich erinnere mich völlig klar, was gestern abend passiert ist. Ich bin es in Gedanken durchgegangen, bevor ich den letzten Eintrag noch einmal gelesen habe, und habe die Erinnerung von heute mit den Notizen von gestern verglichen, und es ist das gleiche.

Mögliche Erklärungen:

1. Cecil hat auch keine Ahnung, was das alles sollte, und will das nicht zugeben, also leugnet er erst mal, daß etwas passiert ist und hofft, daß ich zu knülle war, um mich zu erinnern. Die Ratte.

2. Der Irre war ein Kumpel von Cecil, der ihm eine Gelegenheit geben sollte, den Helden zu spielen und mich zu beeindrucken. Cecil hat irgendwie seinen Einsatz verpaßt.

3. Der Irre ist ein Kumpel von Cecil, der ihm einen Streich gespielt hat. Cecil ist es peinlich, solche Spinner zu kennen, deswegen tut er so als wäre nichts gewesen. Ja, das klingt am einleuchtendsten. Ich kenne sogar Leute, die so etwas ähnliches tun würden, allerdings hat Nikki es mehr mit Dadaismus als mit Bomben und seltsamen Waffen.

Aber Cecil ist aus Südafrika. Alle Kumpels, die er hier hat, kenne ich so ungefähr.

Anscheinend nicht alle.

***

Habe bei Cecil angerufen und er ist nicht da. Vielleicht ist er gerade dabei, seinem Kumpel die Hammelbeine langzuziehen. Oder mit ihm über das dusselige Landei zu lachen, das auf die blöde Show reingefallen ist. Vielleicht ist das seine Methode, lästige Freundinnen abzuservieren.

Seufz. Blöder Idiot.

***

später:

So, jetzt war ich am Flughafen und habe Flüge nach Australien herausgesucht. Es geht jeden Tag ein Flug nach Sydney (direkt), und einer nach Melbourne (umsteigen in Singapur). Dabei habe ich gemerkt, daß ich nicht wirklich aus Terrania weg will. Schon gar nicht wegen einem blöden Idioten.

Und ich bin nicht ganz überzeugt, daß Cecil in den Streich eingeweiht war. Er ist eher so ein ernsthafter Typ.

Ach, zum Kuckuck. Ich rücke ihm jetzt einfach mal auf die Bude. Sonst grübel' ich mich noch dumm und dusselig.

***

noch später:

Oh, Scheiße. Was mach' ich jetzt?

Ich war noch nie bei Cecil gewesen, aber ich hatte seine Adresse. Er wohnt nicht auf dem Campus, sondern in so einer Art Containerbau, wo jede Wohneinheit eine Tür auf einen Außenflur hat. Es ist ziemlich zentral gelegen, man kommt also nicht mit der Hochbahn hin, sondern mit den Rollsteigen. Davor ist ein großer Parkplatz, und auf der anderen Seite von dem Parkplatz ist ein Einkaufszentrum. Ich stiefelte zu Cecils Bude (Nummer 392), läutete dreimal und kam mir vor wie eine dumme Tussi, riß schließlich ein Blatt aus meinem Notizbuch und schrieb drauf, "triff mich heute abend im 'Maxi'", und überlegte, ob ich "du feige Sau" mit draufschreiben sollte, oder ob das übertrieben war. Dabei guckte ich über die Brüstung des Außenflurs und sah, daß Cecil an einem weißen Transporter mit einem schlaksigen Kerl sprach. Von hier oben konnte ich nicht erkennen, ob es der Witzbold von gestern nacht war. Dann sah ich Cecil mit einer zugerollten Papiertüte im Arm über den Parkplatz dem Wohnblock zuwandern. Der Transporter startete, und ich hoffte, daß ich die Nummer sehen würde, aber dann quietschten Bremsen, es gab Gehupe und Geschrei, als Cecil fast von einem roten Kleinwagen überfahren worden wäre, und als ich wieder zu dem Transporter guckte, war der schon zu weit weg.

Ich ließ den Zettel, den ich geschrieben hatte, verschwinden. Wenige Minuten später stieg Cecil aus dem Aufzug.

"Hallo", sagte ich, und rechnete mit irgend etwas. Er sah mich an, als hätte er Schwierigkeiten, sich an mein Gesicht zu erinnern.

"Du blöder Hund!" fauchte ich. "Was sollte das gestern abend?"

Hinter seinen Augen klickte etwas. "Solveig", sagte er, und klang ganz normal. Ich kriegte eine Gänsehaut. Mußte an der Hitze liegen. "Tut mir leid, daß ich dich hab' warten lassen. Komm' rein."

Er machte die Tür auf. Drinnen war es kühl.

"Gestern abend?" fragte ich auffordernd.

"Du warst völlig zugedröhnt", sagte er, und warf einen Blick um sich, der andeutete, daß er das nicht vor den Nachbarn ausdiskutieren wollte.

Ich seufzte Zustimmung und folgte ihm in seine Bude.

Drinnen war es aufgeräumt. Er stellte die Papiertüte neben dem Sofa ab.

"Wegen morgen..." sagte er dann.

"Nein", sagte ich. "Wegen gestern. Ich war nicht ganz nüchtern, aber nicht 'völlig zugedröhnt'. Ich möchte eine Erklärung. Es ist mir inzwischen egal, ob die Erklärung gut oder schlecht ist, und ob sie meine Eitelkeit verletzt. Wenn das ein dummer Scherz war, den du sehr witzig findest, oder wenn du mich loswerden willst, dann sag das. Aber tu nicht so als wäre nichts passiert!"

Er sah mich fast besorgt an. "Solveig, es ist nichts passiert. Ich schwöre bei Gott, ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du redest. Habe ich irgend etwas angestellt? Ich will dich nicht loswerden, ich will, daß wir morgen zusammen auf die Abschlußfeier meines Bruders gehen und du das kleine Schwarze trägst und..." Er hielt inne und sah wieder für einen Moment durch mich hindurch.

"In Ordnung", sagte ich. Ich glaubte ihm, obwohl das gar keinen Sinn ergab. "In Ordnung. Wer war der Kerl gerade eben mit dem weißen Transporter? Ein Kollege von dir?"

Er sah wieder verwirrt und besorgt aus und schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, wovon du sprichst", sagte er. "Bist du auf Drogen?"

"Nur Kaffee", sagte ich. "Aber es ist fürchterlich heiß, und ich habe Kopfschmerzen. Kannst du mir vielleicht etwas Kaltes zu trinken holen? Mit Eiswürfeln?"

Cecil verschwand in der Küche. Ich wieselte zu der Papiertüte. Ich hatte gerade eben Zeit, einen Blick hineinzuwerfen, als Cecil mit einem großen Glas Eistee wiederkam und mich beim Rumschnüffeln entdeckte.

Der Becher mit dem Eistee fiel ihm aus der Hand. Cecil guckte nicht mal hin. "Du darfst da nicht reingucken", sagte er tonlos.

Ich zog mich in Richtung Tür zurück. "Tut mir leid", stammelte ich, "ich muß jetzt gehen..."

Er lächelte. "Dann treffen wir uns morgen um halb vier, für die Abschlußfeier, ja? Wir sollten früh da sein."

"Ja", sagte ich, war durch die Tür und rannte.

In der Tüte waren quaderförmige, in rotes Papier eingeschlagene Päckchen mit chinesischen Schriftzeichen darauf gewesen, Klebeband, ein paar Batterien und ein Elektrobaukasten für Kinder. Cecil hat keine Kinder. Cecil mag keine Kinder.

Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße, dachte ich, was mach' ich nur?

Was mach' ich nur? Ich glaube, ich sollte in Panik geraten.

***

Ich fuhr ins Galactica-Museum. Es war der nächste Ort, wo ich mich sicher fühlte. Unter den Bildern fremder Welten in der Cafeteria bestellte ich mir einen Eisbecher und eine Flasche Mineralwasser. Meine Hände zitterten, aber das Eis half.

Also.

Cecil verarscht mich, oder er verarscht mich nicht. Alles ist in Wahrheit ganz harmlos, oder es ist das nicht.

Ob er mich verarscht, ist unwichtig. Wichtig ist: Ist das harmlos?

Wichtig ist: Habe ich gesehen, was ich glaube, gesehen zu haben?

Was habe ich gesehen?

Cecil und ich werden von einem Menschen (weiß, hochgewachsen, sehr hager, neutraler Straßenanzug, mir unbekannter Akzent) in einer nächtlichen Gasse mit etwas bedroht, das eine Waffe sein könnte. Der Mensch erzählt uns, daß wir -- wir? Ja, er hat im Plural gesprochen. Wieso zum Teufel weiß ich, daß er im Plural gesprochen hat, wenn er Englisch gesprochen hat? Hat er Englisch gesprochen? Ich bin nicht sicher. Logischerweise muß er Englisch gesprochen haben, es ist die einzige Sprache, die Cecil und ich gemeinsam haben. Mist, ich erinnere mich nicht an alles, ich war zu betrunken und zu panisch, aber er sagte, daß wir eine Bombe auf die Abschlußfeier der Akademie einschmuggeln würden. Wir würden sehr früh kommen und unter den freien Plätzen die nehmen, die am nächsten am Rednerpult waren. Und die Bombe zünden, wenn Perry Rhodan seine Rede für die Abgänger halten würde.

Mal ganz ehrlich, ist das ein beschissener Plan oder was? Wenn Rhodan selber da spricht, werden sie dort doch eine Million Sicherheitsleute haben, Bombenhunde und Gottweißwas. Wahrscheinlich hat er einen persönlichen Energieschirm oder so was.

Jedenfalls. Der Kerl, nachdem er sein Sprüchlein aufgesagt hat, sagt noch, "Sie werden sich an nichts erinnern".

Und Cecil?

Erinnert sich an nichts.

Oh Scheiße.

***

Ich fegte aus der Cafeteria ins Museum. Bis jetzt hatte ich mich nicht für die Abteilung mit den Repliken aller möglichen Waffen interessiert. Ich finde Waffen abstoßend. Ich suchte die Schaukästen im Schnelldurchgang ab, guckte über begeistert gaffende Schuljungen hinweg oder schob die größeren Exemplare einfach zur Seite.

Im dritten Raum wurde ich fündig. Hypnostrahler, arkonidisch. Oh, verdammt, verdammt. Ich muß es laut gesagt haben, der ältere Mann, der neben mir stand, sah mich entsetzt an. "Junge Dame!"

Aber das kann nicht sein. Es steht auf dem Schild bei dem Exponat, nur psychisch besonders begabte oder extrem willensstarke Menschen können dem Einfluß eines Hypnostrahlers Widerstand leisten. Keine betrunkenen (und bekifften, nicht zu vergessen) achtzehnjährigen Touristinnen. Oder haben sie nur vergessen, das dazuzuschreiben?

Wie auch immer. Wenn der Typ einen Hypnostrahler hatte -- auch wenn er ihn so inkompetent eingesetzt hat, daß nur Cecil betroffen ist und nicht ich -- meinte er es ernst. Und das heißt, und das heißt, Cecil wird eine Bombe... gah.

Es ist aber trotzdem ein saublöder Plan. Es wird nicht funktionieren. Sie werden ihn nicht mal reinlassen, und Rhodan hat sehr schlaue Leute, die werden schon merken, daß Cecil nicht aus freiem Willen gehandelt hat, und dann können sie ihm ja keinen Vorwurf machen.

Aber wenn ich mich dann nach Australien abgesetzt habe, denken sie möglicherweise, ich habe etwas mit der Sache zu tun.

Also setzte ich mich nicht ab und spiele einfach mit.

Nur, wenn er dann eine Bombe hat, bin ich die, die's vorher gewußt hat. Gar nicht gut.

Was für ein heilloses Schlamassel.

Ich könnte zur Polizei gehen.

Dann müßte ich sagen, daß ich betrunken und stoned war. Das gibt einen Riesenärger.

Und wenn ich die ganze Sache irgendwie völlig falsch interpretiere, und es nur ein harmloser Ulk ist? Dann bringe ich alle in Teufels Küche, und völlig für Katze.

Australien. Klingt gut. Die einzige Möglichkeit, die mich nicht sicher in Schwierigkeiten bringt und eine "Solveig hat mal wieder alles falsch verstanden"-Riesenblamage ausschließt.

Aber.

Aber wenn da wirklich eine Bombe ist. Und wenn sie explodiert. Rhodan mag einen Energieschutzschirm haben. Aber da sind tausend Leute. Zweitausend. Und ich kann mich nicht an alle Details des Plans erinnern. Vielleicht kenne ich nicht einmal alle Details, schließlich hat der Typ heute Cecil wiedergetroffen. Er kann ihm Werweißwas gesagt haben.

Ich will mit der Sache nichts zu tun haben.

Ob ich einfach anonym eine Bombendrohung reintelefonieren kann?

Ich weiß nicht, was für Technik Rhodans Leute haben. Niemand weiß das. Wenn ich versuche, sie anonym zu warnen und das klappt nicht, dann wird das so richtig peinlich.

Australien.

Seufz.

Wenn das Zuhause passiert wäre, würde ich sofort zur Polizei gehen. Wäre schon da. Aber Zuhause weiß ich, wie sehr sie sich wegen Drogen anstellen (nicht besonders). Hier? Ich habe keinen Blassen.

Steht auch nicht in meinem Reiseführer.

Was mach' ich?

***

abends:

Immer noch keine Entscheidung. Feige, Solveig.

Na gut. Na gut.

Das können sie mir auf meinen Grabstein schreiben: "Niemand nennt mich eine feige Sau!"

***

nachts:

Ich wollte nicht anrufen, weil jeder Idiot anrufen kann. Mein Reiseführer gab mir die Adresse der zentralen Polizeiwache in der Innenstadt. Ich fuhr hin. Zwei Roboter standen wie moderne Statuen links und rechts des Eingangs. Sie hatten vier Arme und waren zweieinhalb Meter hoch. Ich fand es erst unmöglich, an ihnen vorbeizugehen. Zwei ihrer Arme endeten in Geschützrohren. Wie kann man so etwas irgendwo hinstellen, wo normale Leute dran vorbeigehen sollen? Warum nicht gleich Drachen oder Gorgonen? (Wahrscheinlich haben sie keine.) Ich setzte mich hundert Meter entfernt unter einen Baum auf den Rand eines Brunnens und beobachtete.

Leute gingen rein und raus. Leute gingen vorbei. Die Roboter taten nichts, aber das Gefühl der Bedrohung, das von ihnen ausging, wurde um nichts geringer. Schließlich raffte ich meine schon stark mitgenommene Willenskraft zusammen, stand auf und marschierte auf den Eingang zu, zwischen den Robotern hindurch, durch das Tor, bis zu einer Pförtnerloge. Der Pförtner sah auf. Er war ein Mensch. "Kann ich Ihnen helfen?" fragte er.

"Ich glaube, ich habe heute gesehen, wie ein Verbrechen geplant wurde", sagte ich. "Mit wem rede ich da am besten?"

"Verbrechen?" sagte er, als wolle er sich vergewissen, daß es sich nicht um Fahrraddiebstahl ging. Ich nickte. "Inspektor Pawlak, Treppe hoch, links, erste Tür."

"Danke", sagte ich, und versuchte, so zu gehen, als wäre ich alle Tage auf der Polizeistation, um mögliche Verbrechen zu melden. Oder vielleicht lieber nicht. Wie alle Gebäude war auch das Polizeigebäude neu. Es war nicht viel los, wahrscheinlich war schon Feierabend. Ein Roboter, der aussah wie ein belebter Mülleimer feudelte den Boden.

Treppe hoch, links, an der ersten Tür stand, "Kriminalpolizei, Bezirk Terrania-Mitte, Inspektor Pawlak." Die Tür flog auf, als ich gerade die Hand hob, um zu klopfen. Ein beleibter Mann in Bermudashorts, einem karierten Hemd und einer Baseball-Mütze eilte aus dem Raum, rief zum Abschied, "Sie hören von meinem Anwalt!", rempelte mich an und rauschte davon, ohne sich zu entschuldigen. Ich ging durch die Tür, die er halb offen gelassen hatte, in eine modern eingerichtete Amtsstube mit einem ausgesprochen klassischen Gummibaum. "Nehmen Sie sich besser einen Verteidiger!" kam hinter dem Gummibaum hervor.

"Äh", sagte ich zu dem Gummibaum. "Entschuldigung, ich suche Herrn Inspektor Pawlak?"

Unter dem Tisch neben dem Gummibaum rumpelte es, und ein Mann in Zivil mit einem blonden Schnauzbart im Gesicht und einer Akte in der Hand tauchte auf. "Oh, verzeihen Sie, Miß..." Er deponierte eilig die Akte auf dem Tisch und strich sich den Schnauzer zurecht.

"Jamieson. Solveig Jamieson", sagte ich. "Ich bin...." Ich schluckte. "Ich glaube, ich habe gesehen, wie ein Verbrechen vorbereitet wurde. Ich bin mir nicht sicher, aber..."

Er winkte mich in einen gepolsterten Stuhl hinter einem einfachen Tisch. "Setzen Sie sich erst mal hin. Mögen Sie einen Kaffee?"

"Ja, bitte", sagte ich. Kaffee war immer gut.

Er zapfte Kaffee aus einem Hahn an der Wand, stellte mir eine Tasse hin, und rangierte auf einem Schreibtischstuhl mit Rollen durch den Raum, bis er mir gegenüber saß, dann zog er ein Gerät, nicht größer als eine Zigarettenschachtel unter dem Tisch hervor. "Sind Sie damit einverstanden, daß ich unser Gespräch aufzeichne?"

Ich war einverstanden. Ich frage mich, was er gemacht hätte, wenn ich es nicht gewesen wäre.

Dann erzählte ich meine Geschichte. Ich gab mir große Mühe, mich an jedes Detail zu erinnern, erwähnte aber keine meiner Vermutungen. Ich beschrieb die Waffe, den Inhalt von Cecils Papiertüte, sein merkwürdiges Verhalten, aber benannte die Waffe nie als Hypnostrahler und spekulierte nicht, was in den Päckchen in der Tüte gewesen sein könnte. Ich gab zu, mehrere Cocktails getrunken zu haben. Das war schließlich nicht illegal.

Pawlak hörte aufmerksam zu und stellte sinnvolle Fragen. Er wirkte weder übermäßig besorgt noch ungläubig. Am Ende gab er mir ein Protokoll zum Unterschreiben, das meine Aussage zusammenfaßte, und fragte, wie lange ich noch in Terrania bleiben wollte und wo er mich erreichen könnte. "Drei Tage", sagte ich, und gab ihm die Adresse des Wohnheims.

"Weiß Ihr Freund, wo Sie wohnen?" fragte er.

Ich wußte es nicht. "Vielleicht. Vermutlich."

"Können Sie in ein Hotel ziehen?"

"Im Prinzip ja", sagte ich, "aber es darf nicht zuviel kosten."

Er schrieb mir eine Adresse auf. "Nehmen Sie für eine Nacht ein Zimmer hier", sagte er. "Lassen sie sich ein Übernachtungsset geben. Kehren Sie nicht in Ihre Unterkunft zurück und meiden Sie Orte, an denen Sie mit ihrem Freund zusammentreffen könnten. Am besten schlafen Sie sich mal aus. Wir melden uns morgen früh bei Ihnen. Hier ist meine Visiphonnummer." Er gab mir eine Karte. "Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt oder Sie Ihren Freund oder den dünnen Mann wiedersehen."

Ich nickte, verabschiedete mich und verließ das Polizeirevier mit dem unguten Gefühl, gewaltige Kräfte in Bewegung gesetzt zu haben.

***

Das Hotel liegt zentral und ist sehr modern und voller Schlipsträger. Die Übernachtung kostet vierzig Dollar. Ein Glück, daß ich mein Geld und meine Traveller Cheques im Geldgürtel habe und nicht im Schließfach des Wohnheims, sonst stünde ich jetzt ganz schön dumm da. Die Zimmer sind winzig, haben aber Visiphonanschluß, einen ausklappbaren Schreibtisch, ein Fernseh- und Radiogerät, ein eigenes Bad und eine Minibar, die unter anderem verschiedene selbstwärmende Imbißschachteln enthält. An der Rezeption wurde ich bereits erwartet und kriegte mein Übernachtungsset: Waschzeug, Nachthemd, und Wäsche aus einem komischen Kunstfasermaterial.

Ich bin frisch gebadet, habe meine Haare gewaschen, ein Päckchen selbstwärmender Frühlingsrollen gegessen, und trinke jetzt Cola aus der Minibar, und habe eine Weile vergeblich versucht, mich auf ein Buch über Ferrol zu konzentrieren, das ich in letzter Minute in meinen Stadtrucksack gestopft habe, falls ich auf der Polizeistation warten muß.

Ha. Mein Walkman ist auch im Rucksack, und ein paar Tapes. Was ist drin? Queen, na großartig. Is this the real life? Is this just fantasy? Das frag' ich mich auch.


12. Juli

Ich wachte um halb sechs auf, stand eine Weile am Fenster -- mein Zimmer ist im 23. Stock -- und sah zu, wie der Morgen über Terrania kroch. Ich hatte Terrania in den Stunden vor Sonnenaufgang gesehen, aber ich hatte die Stadt nie wirklich erwachen sehen. Das Licht war unglaublich. Von hier oben sah man, daß es keinen Übergang zwischen Grün und Wüste gab, nur eine scharfe Trennline. So früh war die Luft war noch klar, und weit im Süden oder Südwesten sah ich himmelhohe, schneebedeckte Berge. Ich fragte mich, ob die Polizei Cecil verhaftet hatte. Ich fürchtete, daß ich es vermasselt hatte.

Um sechs ging ich frühstücken. Die Frühstückskarte enthielt die seltsamsten Dinge. Ich nahm Joghurt, Obstsalat und Orangensaft, und natürlich Kaffee, und las die bereitliegenden Tageszeitungen. Es gab einen kleinen Artikel über die Abschlußfeier der Raumakademie die heute stattfinden würde, aber nichts, was mit mir zu tun hatte.

Gegen acht war ich wieder in meinem Zimmer und fand, daß es an der Zeit war, Inspektor Pawlak anzurufen. Statt dessen kriegte ich einen Constable Krishan an die Strippe, der überhaupt nicht wußte, wovon ich redete und mir erklärte, Inspektor Pawlak sei nicht da, und er wisse nicht, wann er wiederkäme. Er hatte keine Ahnung, wer ich war, und konnte mir nicht sagen, ob ich zurück ins Wohnheim und zu meinem Gepäck konnte. Na großartig.

***

nachmittags:

Ich checkte also aus und ließ die Frau an der Rezeption wissen, daß ich noch mal zurückkommen würde, um zu fragen, ob jemand für mich angerufen hätte, und je nachdem, ob das der Fall wäre, eventuell eine zweite Nacht bleiben. Ich gab ihr fünf Dollar Trinkgeld dafür, daß sie für mich Telefonwache schob, und machte mich in die Stadt auf. Ich brauchte was zum Anziehen und etwas zu lesen. Also schlug ich den Vormittag in einem Megakaufhaus tot. Schließlich war es zwei Uhr und ich fand, Inspektor Pawlak könne jetzt langsam mal wieder auf Posten sein, also ging ich zum Hotel zurück.

Die Rezeptionsfrau sagte, es seien drei Anrufe für mich gekommen, und gab mir eine Nummer mit Bitte um Rückruf. Inspektor Pawlak. Anscheinend war er doch um neun schon auf den Beinen gewesen. Ich hätte mal länger schlafen sollen.

"Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt?" eröffnete Pawlak das Gespräch, nachdem ich mich gemeldet hatte. Er sah übernächtigt und struppig aus.

"Einkaufen", sagte ich. "Da ich nicht weiß, wann ich wieder an mein Gepäck komme..."

"Sie hätten mich vorher anrufen sollen!"

"Ich habe Sie angerufen. Es meldete sich Herr Constable Krishan, der mir leider nicht weiterhelfen konnte. Gibt es denn ein Problem?"

"Wir haben den Hintermann noch nicht gefunden!"

Ach, jetzt waren wir schon bei "Hintermännern". "Das heißt was?"

"Wir brauchen Sie hier, um ein Phantombild zu erstellen. Außerdem -- entschuldigen Sie, ich bekommen einen Anruf auf einer anderen Leitung." Er wandte sich von dem Visiphon ab, dann erschien ein "Bitte warten"-Schriftzug.

Es dauerte nur etwa zehn Sekunden, bis er wieder dran war. "Ich schicke Ihnen einen Wagen vorbei", sagte er und legte auf.

Und ich weiß immer noch nicht, ob ich jetzt eine zweite Nacht in diesem Hotel buchen sollte. Ich laß' es erst mal.

Ich glaube, da kommt der Wagen.

***

abends:

Jetzt bin ich endgültig in das Kaninchenloch gefallen, glaube ich. Fehlt nur noch, daß der Märzhase und der Hutmacher auftauchen.

Der Wagen kam, gefahren von einem mißvergnügt aussehenden Constable Krishan. Ein Polizist in Zivil und ein junger Kerl in Zivil saßen im hinteren Abteil, wo ich auch einstieg. Ich fühlte mich gar nicht gut dabei. Staatsmacht macht mich nervös, und Terrania hat genug Staatsmacht, um mich nervöser zu machen als eine langschwänzige Katze in einem Zimmer voller Schaukelstühle. Ich tat mein Bestes, mir nichts anmerken zu lassen und war höflich. Dem Polizisten war es anscheinend egal, mich kennenzulernen. Der Kerl in Zivil, der sich als "Mr. Johnson" vorstellte, wirkte mißvergnügt. Ich dachte sehnsüchtig an Känguruhs und wünschte, ich hätte Zeit gehabt, mich umzuziehen.

Wir fuhren zur Polizeiwache, dieses Mal aber nicht zu Pawlaks Büro im Hochparterre, sondern in eine Zimmerflucht im 9. Stock, mit Fenstern, die keine Griffe hatten. Langsam geriet ich in Panik, was natürlich völlig nutzlos war. Mr. Johnson massierte sich die Nasenwurzel, als litte er unter Migräne.

Pawlak und ein Typ, der definitiv eine Uniform hätte tragen sollen und sich "Herr Klein" nannte, warteten auf uns. Jetzt fehlte nur noch Herr Svensson, und unser Ensemble von Namenlosen wäre perfekt. Pawlak sah auch nicht glücklich aus.

Wir plazierten uns in einer trügerisch gemütlichen Sitzgruppe. Eine Sekretärin brachte Kaffee und Kekse und verzog sich dann diskret. Wenn ich in Schwierigkeiten war, gab es nichts, was ich sagen konnte, um es besser zu machen, und viel, um es schlimmer zu machen, also sagte ich nichts.

"Miß Jamieson", begann Klein, "würden Sie bitte noch einmal erzählen, was Sie in der Nacht vom 10. zum 11. Juli gesehen und gehört haben?"

Ich tat das. Er fragte mir die ganze Geschichte noch mal ab, inklusive meines Treffens mit Cecil am nächsten Tag. "Warum sind Sie nicht eher zur Polizei gegangen?"

Ich erklärte, ich hätte angenommen, daß es sich um einen dummen Scherz gehandelt hätte.

"Was brachte Sie auf die Idee, daß es ein Scherz war?"

"Die Sinnlosigkeit des Ganzen", sagte ich. "Wer außer einem Wahnsinnigen oder einem Scherzbold würde einer wildfremden Frau irgendeine wüste Räuberpistole wie diese erzählen und dann ungerührt davonschlendern? Ich dachte zuerst, es sei ein Wahnsinniger, aber nachdem Cecil mir vormachen wollte, ich hätte mir die ganze Szene nur eingebildet, nahm ich an, daß er eingeweiht war, und mir einen Streich spielen wollte. Einen sehr schlechten Streich."

"Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?"

Ich überlegte. Warum hatte ich? "Die Sache wurde mir unheimlich", sagte ich. "Ich war nicht mehr hundertprozentig sicher, daß es keine Bombe gab, sondern nur noch..." Mir fiel keine Zahl ein. Als ich aus Cecils Wohnung geflohen war, war ich sicher gewesen, daß es eine Bombe gab. "...weniger als das", beendete ich den Satz.

"Sie wußten, daß die Waffe ein Hypnostrahler war", sagte Mr. Johnson, zur Verwirrung aller Anwesenden.

"Nein", sagte ich, "das wußte ich nicht. Mir kam die Idee, daß es einer sein könnte -- ich habe darüber gelesen -- und ich habe in der Ausstellung im Galactica-Museum nachgesehen, und die Waffe sah einem Hypnostrahler sehr ähnlich, aber ich verstehe nichts von Waffen. Es hätte etwas ganz anderes sein können."

"Es war ein Hypnostrahler", bestätigte Klein. Ich fragte mich, wie er so sicher sein konnte, wenn er "die Hintermänner" noch nicht erwischt hatte. "Haben Sie eine Theorie, warum Sie von dem Effekt nicht betroffen waren?"

"Ich habe Hypothesen", sagte ich vorsichtig. "Erstens, ich war zu betrunken, um hypnotisiert zu werden. Zweitens, ich hatte zu viel Angst. Ich weiß nicht, ob einer dieser beiden Effekte--"

Johnson schüttelte den Kopf. Ich zuckte die Schultern. "Wenn es nicht an mir lag, dann lag es entweder an dem Gerät -- nicht genug Ladung? zu kleiner Abstrahlwinkel? -- oder an dem Benutzer. Es gibt bestimmt eine Menge Sachen, die man bei der Benutzung eines Hypnostrahlers falsch machen kann."

"Welche Sprache sprach der Mann, als er Ihnen seinen Plan auseinandersetzte?" fragte Klein. Johnson warf ihm einen "gute Frage"-Blick zu. Pawlak machte ein "ich will nicht hier sein"-Gesicht.

"Ich bin mir nicht sicher", sagte ich. "Ich nehme an, Englisch, denn Cecil und ich konnten ihn anscheinend beide verstehen. Andererseits bin ich sicher, daß er uns im Plural ansprach--"

"Was ist Ihre Muttersprache?" fragte Klein.

"Schwedisch."

Klein und Johnson wechselten einen Blick.

"Hat Schwedisch einen Plural in der Anrede?" fragte Johnson.

Ich nickte.

"Könnte der Mann Schwedisch gesprochen haben?"

Unmöglich, wollte ich sagen, überlegte dann aber und sagte, "Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht ausschließen, aber es erscheint mir unwahrscheinlich, daß mir das nicht aufgefallen wäre. Ich kann ebensowenig ausschließen, daß er Deutsch oder Französisch sprach, das wäre mir vielleicht weniger aufgefallen, da es ebenfalls Fremdsprachen sind. Und beide einen Anredeplural haben."

Schweigen fiel über die versammelte Mannschaft. Ich spürte einen schwachen Druck im Schädel und hoffte, daß sich das nicht zu ernsthaften Kopfschmerzen auswachsen würde. Wahrscheinlich Unterkoffeinierung. Ich goß mir Kaffee nach und nahm mir einen Keks.

Alle sahen jetzt Johnson an, als erwarteten sie, daß er etwas tun würde. Er räusperte sich.

"Miß Jamieson, wir haben Cecil Miers letzte Nacht in seiner Wohnung festgenommen. Er war im Begriff, einen Explosivkörper zu bauen, der den gesamten Festsaal der Raumakademie sowie die umliegenden Gebäude in Schutt und Asche gelegt hätte. Mr. Miers stand unter einem sehr starken, professionell angelegtem hypnotischen Zwang, den zu brechen den Rest der Nacht und einen Teil des Morgens in Anspruch nahm. Während wir mit Mr. Miers arbeiteten, brachen Unbekannte in das Wohnheim am Kinsaha-Platz ein und legten Feuer. Ich fürchte, von Ihrem Gepäck ist nicht viel übrig."

Oh mein Gott, dachte ich, das ist meine Schuld. Natürlich war es das nicht, wenn es jemands Schuld war dann Pawlaks, der daran gedacht hatte, mich zu warnen, aber nicht die Zurückgebliebenen. "Oh mein Gott. Ist jemand..."

"Eine Ihrer Zimmergenossinnen, eine Miß Lee, erlitt schwere Verbrennungen. Sie liegt im Gobi-Krankenhaus. Fünf weitere Mädchen wurden leicht verletzt."

Ich machte den Mund auf und wieder zu. Es dauerte etwas, bis ich etwas sagen konnte. "Und Sie hätten das nicht verhindern können?" sagte ich schließlich.

Johnson murmelte etwas davon, daß es ihnen sehr leid täte, den Ernst der Lage zu spät erfaßt und so weiter. Ich kämpfte wieder gegen das Gefühl an, daß das alles meine Schuld war.

"Sie haben mehr Glück, als Ihnen vielleicht bewußt ist", sagte Klein. "Ihr unbekannter Angreifer -- der 'dünne Mann' -- hatte es offenbar auf Mr. Miers abgesehen. Er hätte Sie leicht als unerwünschte Komplikation betrachten und an Ort und Stelle beseitigen können."

Ich fauchte etwas Unartikuliertes. Was sollte dieses 'hätte' und 'könnte'? Nichts davon war passiert, aber Suzy war von irgendeinem Arschloch erwischt worden, der es auf mich abgesehen hatte und...

"Suzy... ich meine, Miß Lee... Wie schwer ist sie verletzt? Wird sie wieder gesund?"

Johnson starrte eine Weile ins Leere. Der Druck in meinem Schädel wurde schlimmer. Im Nebenraum schien jemand einen Fernseher anzuhaben, ein Mann und eine Frau redeten, die Stimmen leicht verzerrt und die Worte unverständlich. Das Geräusch nervte mich. Alles nervte mich. Ich brauchte das nicht. Ich brauchte nichts von dem. Ich wollte nach Australien. Warum war ich nach Terrania gefahren? Ich nahm mir noch einen Keks.

"Die Ärzte sagen, sie wird sich vollständig erholen", sagte Johnson unvermittelt. "Möglicherweise wird sie Narben zurückbehalten -- wir sind noch nicht vollständig vertraut mit den Möglichkeiten und Grenzen arkonidischer Medizin -- aber nicht im Gesicht."

Besser würde es wohl nicht werden. Ich war immer noch sauer. Der Fernseher war verstummt.

"Worauf ich hinauswill", setzt Mr. Johnson seine unterbrochene Ansprache fort, "der 'dünne Mann' wußte genau, was er tat, der Hypnostrahler, den er verwendete, war voll funktionsfähig, und der Ort, wo der, hm, 'Überfall' stattfand, stellte sicher, daß Sie ebenso wir Mr. Miers vom Wirkungskegel des Strahlers erfaßt wurden. Es scheint, daß Sie eine ungewöhnlich starke Widerstandskraft gegen hypnotische Strahlung haben. Wären Sie bereit, an einem Test zu diesem Thema teilzunehmen?"

Wenn mir die Sache noch unheimlicher werden konnte, tat sie das jetzt. "Dazu würde ich gerne vorher mehr über Sie wissen, Herr 'Johnson' und Herr 'Klein'", sagte ich.

Johnson sah vollkommen baff aus. Klein hatte offenbar den Witz verstanden und lächelte säuerlich. "Ich verstehe Ihre Bedenken", sagte er. "Wenn Sie bitte einen Moment warten würden..."

Er schleppte den immer noch etwas belemmert wirkenden Johnson aus dem Raum. Ich sah fragend Pawlak an, der halb amüsiert, halb besorgt wirkte. "Meine Mutter hat mir gesagt, ich soll nicht mit Fremden mitgehen", erklärte ich.

Pawlak sah mich an als erwartete er, die Pointe erklärt zu kriegen. "Sie wissen wirklich nicht, wer... die beiden Herren sind?"

"Sollte ich das wissen?" fragte ich.

Er schnaubte nur.

"Wie geht es Cecil?" fragte ich, um das Thema zu wechseln.

"Da fragen Sie besser Mr. Johnson, wenn er wiederkommt."

"Wann kann ich wieder gehen?"

Er schaute nur vielsagend zur Tür.

"Na großartig." Wenn ich mir noch einen Keks nahm, wurde mir wahrscheinlich schlecht. "Kann ich ein Schinkenbrötchen und ein Glas Wasser kriegen?"

Ich konnte. Die Sekretärin war kaum aus dem Raum, als Johnson und Klein wiederkamen, in Begleitung einer kleinen und recht hübschen Asiatin, die sich nicht so hielt, als sei ihr Job das Servieren von Kaffee und Schinkenbrötchen. Pawlak verfärbte sich ein kleines bißchen.

"Inspektor", sagte Klein, "würden Sie uns bitte allein lassen?"

Pawlak ergriff das Hasenpanier. Klein sprach mich an. "Sie müssen entschuldigen, daß wir nicht ganz aufrichtig waren. Wir wollten Sie nicht erschrecken, aber es scheint, als hätten wir das Gegenteil erreicht."

Nicht erschrecken? Was für Scherzbolde waren das?

"Mein Name ist Albrecht Klein", fuhr er fort, "Oberst a.D. und Mr. Rhodans Stellvertreter in Terrania. Dies", er wies auf Mr. "Johnson" "ist John Marschall, Sonderoffizier und Chef des Solaren Mutantenkorps. Die Dame ist Ishi Matsu, Mitglied des Solaren Mutantenkorps. Ich interessiere mich vor allem für den Bombenanschlag, den Sie vereitelt haben. Mr. Marshall und Miß Ishi interessieren sich dafür, warum Sie das tun konnten."

OK, er hatte mich. Ich war sprachlos.

Natürlich hatte ich Gerüchte über Mutanten gehört, jeder hatte das, aber keiner wußte etwas Genaues. Mein Vater fühlte sich in seiner schlechten Meinung über Rhodan bestätigt als er hörte, daß dieser sich mit "Spökenkiekern und Scharlatanen" umgab. Lissa hatte einen Stapel Artikel, die beschrieben, daß psychische und psychokinetische Kräfte real und im Labor nachgewiesen waren. Unser Biologielehrer, den sie auf das Thema angesprochen hatte, hatte sehr sorgfältig keine Meinung gehabt. Ich dachte sehr konzentriert in Marshalls Richtung, Und, seid ihr alle Spökenkieker und Scharlatane?

Marshall sah mich empört an. Ishi schüttelte den Kopf und sagte, "Nein, Miß Jamieson, das sind wir nicht. Obwohl es uns nicht schadet, wenn in der Öffentlichkeit Zweifel an unserer Effektivität bestehen."

Sie hatte die Lippen nicht bewegt, und ich hatte keinen Ton gehört.

"Nun gut", sagte ich. Das hier war so abgefahren, daß Vorsicht kleinlich schien. "Machen Sie Ihre Tests."

***

später:

OK, das vorige habe ich in einem Zimmer in der F&E-Sektion der Gobi-Klinik geschrieben und habe dann eine Weile vor mich hin gestarrt und an überhaupt nichts gedacht. Dann kam Dr. Manoli rein -- den Namen hatte ich gehört! -- und fragte mich, ob ich schon Abendessen bekommen hätte -- ich hatte nicht -- und ob es in Ordnung wäre, wenn er und Marshall später am Abend ("gegen zehn", sagte er) noch vorbeikämen und mit mir über den Testplan "und sonstige Einzelheiten" reden würden.

"Ist in Ordnung", sagte ich. "Ich habe heute abend keine weiteren Verabredungen." Ich hatte die Abschlußfeier an der Raumakademie verpaßt, und fragte mich, ob mir das leid tat, und wenn ja, warum oder warum nicht. "Ich hatte noch kein Abendessen, allerdings bin ich keine Freundin von Krankenhauskost -- vielleicht könnte ich mir eine Pizza kommen lassen?"

"Oh", sagte er und wirkte amüsiert. "Machen Sie sich keine Sorgen. Sie können in unserer Kantine essen. Ich schicke Ihnen einen unserer Assistenzärzte vorbei, der kann Ihnen alles zeigen." Er sah auf seine Uhr. "Es tut mir leid, aber ich habe noch einen Termin. Wir sehen uns heute abend."

Meine Einkaufstüten waren aus dem Hotel hergeschafft worden, was bedeutete, daß ich wenigstens etwas zum Anziehen und zum Lesen hatte und neue Kassetten für meinen Walkman. Fast hätte ich mir noch einen neuen Walkman gekauft, es gibt hier welche, die nur so groß wie eine Zigarettenschachtel waren und mit einer Art von Speicherkristallen laufen, auf die sechs Stunden Musik passen, aber die Geräte kosten zweihundert Dollar oder mehr, und ich habe keine Ahnung, wie lange mein Geld noch reichen soll. Ich bin jetzt 12 Tage unterwegs, und von meinen 2100 Dollar habe ich noch 800 in Traveller Cheques und knapp fünfzig in bar. Das ist nicht gut. Wie lange soll das hier alles überhaupt noch dauern?

***

halb 10:

Kurz nachdem ich soweit hatte, klingelte es an der Tür. Ein junger Mann in Jeans und Hemd stand draußen. "Guten Abend", sagte er. "Sind Sie Miß Jamieson? Der Chef hat mich geschickt, damit ich Sie etwas herumführe." Er hatte einen netten irischen Akzent.

"Ich bin's, live und in Farbe", sagte ich. "Und Sie sind?"

"Liam Reeves. Assistenzarzt."

"Ich hoffe, ich halte Sie nicht von Ihren Patienten ab", sagte ich.

Er wedelte mit seiner Armbanduhr. "Ich habe Bereitschaft. Wenn das hier piept, muß ich alles stehen- und liegenlassen, Sie inklusive." Er warf dem Gerät einen skeptischen Blick zu. "Ich hoffe, es piept nicht."

"Ich glaube nicht, daß es das tun wird", sagte ich.

"Sie kennen den Laden hier nicht!"

"Aber ich bin ein Glückskind", sagte ich leichthin. "Ich werde nicht auf Krankenhausfluren ausgesetzt."

Er lachte.

Es war halb acht, und in der Mitarbeiterkantine war nicht viel los. Ich nahm etwas mit Reis und Gemüse, was gar nicht schlecht war. Reeves hatte eine Karte für mich, mit der ich die Türen öffnen und bezahlen konnte.

"Wieviel kostet das alles eigentlich?" fragte ich und versuchte, mir meine Besorgnis nicht allzusehr anmerken zu lassen.

Anscheinend vergeblich. "Machen Sie sich keine Sorgen, Miß Jamieson", sagte Reeves, "das geht auf's Haus. Das Zimmer ebenso, und alles, was Sie sonst brauchen. Wir haben hier ein Forschungsbudget, darin fallen Sie gar nicht auf."

"Solange Sie nicht erwarten, daß ich mit der Schnauze an bestimmte Türen stupse, um ein Leckerli zu kriegen..."

Er machte ein finsteres Gesicht. "Ich kann für nichts garantieren."

***

Zwei junge Frauen setzten sich an den gleichen Tisch, grüßten Reeves kurz und begannen angeregt, über den Patienten von Zimmer 77 und seine explosive Diarrhöe zu diskutieren. Reeves machte ein gequältes Gesicht und sah zu, daß er mit seinem Abendessen fertig wurde und mich an die Kaffeetheke dirigierte.

Ich mußte lachen. "Es macht mir nicht viel aus", sagte ich.

"Ich werde es den beiden Grazien ausrichten", sagte er. "Ich bin mir sicher, daß sie das mit Absicht gemacht haben. Wahrscheinlich halten sie Sie für eine Schwesternschülerin."

"Dann würde mir das erst recht nichts ausmachen", stellte ich fest.

"Ach, Sie wissen nicht, was für Leute wir hier kriegen."

Das überraschte mich. "Ich hätte angenommen, Sie können sich aussuchen, was für Leute Sie hier kriegen."

"Ja", sagte er, "und wir nehmen die Höchstqualifizierten. Leider sind das oft nicht die taffsten, und sie glauben, in Terrania hätten wir Roboter für so was."

Ich lachte laut. Es gab eine ganze Reihe von Witzen, deren Pointe war, "In Terrania haben wir Roboter für so was.". Die meisten davon waren, wie nicht anders zu erwarten, anzüglich.

Wir gingen zum Small talk über, während Reeves mir den Rest der Anlage zeigte. Es gab einen großen Park, ein Kurbad mit Sauna und Sportraum, das von 18 Uhr bis Mitternacht und von 6 bis 8 Uhr morgens für Mitarbeiter geöffnet war, eine Kapelle, einen buddhistischen Schrein, eine Bücherei und die obligatorische Kaffeeküche, die zum Schwesternwohnheim gehörte und sympathisch chaotisch aussah.

Es war dunkel geworden. Das Schwesternwohnheim war mit gelben Lichtquadraten gesprenkelt. Im Krankenhaus selber waren nur wenige Fenster erleuchtet, und das Licht war kälter. Das kälteste Licht kam aus den Kellerfenstern, wo ich im Vorbeigehen manchmal Labortische und esoterisches Gerät entdecken konnte. "Ein Großteil der Laborbereiche ist unter der Erde", sagte Reeves, und ich schauderte vor Klaustrophobie und dem Gedanken an geheime Regierungsprojekte, die nie das Licht des Tages sahen. Wie blöd war ich, hierzubleiben?

***

Es war viertel nach Neun, als ich wieder in meinem Zimmer war. Ich wartete zehn Minuten, griff dann meinen Stadtrucksack und den Ausweis und wanderte mit einem "ich habe hier zu tun"-Gesicht die Korridore entlang. Die Fenster im Erdgeschoß und ersten Stock ließen sich öffnen. Wenn es Überwachungskameras gab, sah ich keine. Ich nahm den Ausgang zum Park, wanderte fünfzig Meter bis zu einer Bank, wo es gerade noch genug Licht zum Schreiben gab, und schrieb das hier. Und jetzt ist es zehn vor Zehn, und ich werde wohl wieder reingehen.

***

Mitternacht, oder später:

Das war interessant, aber ich bin zu müde, um noch groß ins Detail zu gehen.

Marshall und Manoli hatten ihre Hausaufgaben gemacht und hatten nicht nur einen Testplan, sondern haben mir auch erzählt, was das soll. Sie sind sich ziemlich sicher, daß ich Antihypnotin bin -- und es gibt eine Menge an Hypnogeräten, die derzeit im Gebrauch sind, da rollen sich einem vor Schreck die Zehennägel auf -- und möglicherweise telepathische Begabungen in der ein oder anderen Richtung habe. Jedenfalls, sagt Marshall, ist es praktisch unmöglich, meine Gedanken zu lesen -- deswegen war er bei unserer ersten Begegnung so verwirrt, was ich als muffelig interpretiert hatte.

Die erste Reihe Tests war für zwei Wochen Dauer angesetzt.

Ich erklärte, daß das hier mein Urlaub war, daß ich in siebzehn Tagen zu Hause erwartet wurde, daß mein Geld knapp wurde und ich meine Eltern wissen lassen mußte, daß ich noch in Terrania war und nicht schon in Australien, wo ich (sagte ich düster) eigentlich in dieser Woche hingewollt hatte. Außerdem sagte ich, daß dieser ganze Aufwand mit Hotel und neuen Klamotten ein teurer Spaß gewesen wäre, und ich hoffte, daß keine weiteren unerwarteten Ausgaben auf mich zukämen, sonst müßte ich als blinde Passagierin auf einem Stückgutfrachter nach Hause fahren.

Beide versicherten eifrig, daß Geld kein Problem sei, daß ich selbstverständlich meine Eltern anrufen könnte, und wo ich denn nach Ende meines Urlaubs so dringend erwartet würde?

Ich erzählte von meinen Studium und rückte damit raus, daß das erst in gut sechs Wochen akut würde -- aber schließlich mußte ich mich vorher mit der Uni vertraut machen, ein Zimmer suchen und all das.

Beide nickten verständnisvoll und, wie ich vermutete, nicht ohne Hintergedanken, sagten, daß, falls die Tests länger dauern würden, wir bestimmt etwas abklären könnten, und falls nicht, die terranische Regierung mir zur Entschädigung bestimmt gerne eine Woche oder zehn Tage Australien spendieren würde (Marshall war Australier, aus Brisbane), und verzogen sich. Mir ließen sie die Testpläne da.

Morgen um diese Zeit werde ich mir wahrscheinlich wie eine Laborratte vorkommen. Aber diese Laborratte muß jetzt in ihr Rattennest, oder ich schlafe mit der Nase in meinem Tagebuch ein.


13. Juli

Die erste Testreihe war körperlich. Ich hatte hungrig und kaffeelos anzutanzen, und sie nahmen mir genug Blut ab, um einen Vampir über den Winter zu bringen. Sie durchleuchteten mich so gründlich, daß ich halb erwarte, jetzt im Dunkeln zu leuchten, guckten sich meine Zähne an als sei ich ein Pferd auf dem Markt, maßen Lungenvolumen und Herzschlag und Gehirnströme und was-sonst-noch und kamen gegen Mittag zu dem Schluß, daß ich achtzehn Jahre alt, weiblich und gesund war. Das hätte ich ihnen auch so sagen können.

Nach dem Mittagessen (immer noch kein Kaffee!) waren sie wieder blutgierig, dann durfte ich mich "von den Strapazen erholen", und kriegte endlich einen Kaffee und eine Zigarette. Es war zu heiß, um im Park spazierenzugehen, das Kurbad war derzeit nur für Patienten, und um irgendwohin zu gehen war die Zeit zu kurz, also holte ich am Kiosk vor der Klinik ein paar Postkarten und schrieb Lissa und meinen Eltern, daß ich immer noch in Terrania wäre und mich wieder melden würde. Ich schrieb nicht, wo ich war und was ich hier tat. Es hätte zu abgefahren geklungen, und ich wollte nicht, daß sich jemand Sorgen machte.

Am Nachmittag kam eine Augen- und Ohrenuntersuchung (alles 1a, danke der Nachfrage, ja, ich habe gute Nachtaugen, ich habe auch immer brav meine Mohrrüben gegessen, und was ist daran so witzig?), und ein unglaublich langer Intelligenztest. Anschließend war ich angemessen groggy, und es war nach 18 Uhr, also stattete ich dem Kurbad und der Sauna einen Besuch ab (nett), tigerte eine Weile durch den Park und versuchte, meine Gedanken zu ordnen, hörte aber letztlich doch nur Musik und ging immer schneller, bis ich fast rannte. Ich aß noch ein Sandwich, duschte kurz, und fiel gegen 10 in meine Koje.


14. Juli

Die körperlichen Tests waren heute Belastungstests, Kraft, Ausdauer, Koordination, Reaktion. Ich bin ganz gut in Form (wußte ich schon), etwa so stark wie meine "Gewichtsklasse" vermuten läßt und durchschnittlich koordiniert. Meine Reaktionen sind im Vergleich mit anderen Leuten besser, als ich dachte. Mit Erholungspausen und etwas Gerede mit dem Arzt verging so der ganze Tag. Reeves holte mich zum Abendessen ab und wir redeten ein bißchen, vor allem über Terrania. Danach las ich noch einen halben Krimi und fragte mich wieder, was jetzt mit Cecil war, was mit Suzy, und was mit den ominösen "Hintermännern", holte meine Tagebucheinträge nach und gehe jetzt pennen.


15. Juli

Am Morgen hatte ich Muskelkater, wie nicht anders zu erwarten, und kriegte einen anderen Arzt, der mir eine Batterie von Psychotests vorlegte. Mir wurde das zunehmend unangenehm, erstens ging das alles keinen etwas an, zweitens waren die Fragen absolut hirnlos, drittens bewirkte die Verbindung von erstens und zweitens, daß ich anfing, das Blaue vom Himmel herunterzulügen, und viertens war der Arzt ein Schleimbrocken und behandelte mich herablassend. Ich verlangte, mit Marshall oder Manoli zu sprechen. Der Arzt sagte, das ginge jetzt nicht. Ich sagte, in Ordnung, dann würde ich diese Tests nicht weiter bearbeiten. Er fragte, ob ich etwa versuchte, ihm Bedingungen zu stellen!

Ich hielt mich mit Mühe davon ab, die Augen zu rollen und ihm zu sagen, was ich von ihm hielt, und erklärte, ich hätte Probleme mit diesen Tests, die ich gerne mit Marshall oder Manoli abklären wollte, ehe ich weitermachte, das wäre alles.

Er drohte mir ein bißchen, stürmte dann hinaus und kam mit einem älteren Arzt wieder, der fragte, was mein Problem wäre. Ich erklärte ihm, daß ich erstens gerne wissen wollte, was sie das alles anging, und zweitens, daß die Fragen inkonsistent und irreführend wären und nichts mit dem Thema des Testes oder dem Testplan zu tun hätten. Er gab mir die "es ist alles in Ordnung, mein Kind, mach' brav deine Tests und dann kriegst du auch Milch und Kekse"-Routine. Ich verschränkte die Arme, lehnte mich zurück und erklärte, ich wolle mit Marshall oder Manoli sprechen.

Also, das ginge nicht!

Warum nicht?

Das seien schließlich vielbeschäftigte Herrschaften!

Das ist OK, sagte ich, ich mache gerne einen Termin aus. Aber bis dahin mache ich keinen von diesen Tests.

Es gab noch ein bißchen Gemuffel von allen Seiten, dann hatte ich einfach genug und marschierte raus.

Zwanzig Minuten später schlenderte Marshall den Weg hinunter zu der Bank, auf der ich saß. Ich nahm so verächtlich, wie ich konnte die Kopfhörer ab und sah ihn auffordernd an.

Taktischer Fehler, denn so sagte er, "Dr. Hascomb sagt, Sie weigern sich, die psychologischen Tests zu machen?", ehe ich meinen vernünftigen Satz, "Ich möchte mit Ihnen über diese psychologischen Tests sprechen" anbringen konnte.

Ich behalf mir mit dem weniger vernünftigen, aber tiefempfundenen, "Diese Tests sind pure Scharlatanerie!"

"Was bringt Sie zu der Annahme?" Er setzte sich auf die Bank neben mich.

Ich sagte, "Viele dieser Fragen kann man nicht vollständig und wahrheitsgemäß beantworten. Entweder sind sie so seltsam, daß man automatisch in Ironie verfällt, oder so zweideutig, daß man durch die Auswahl einer Antwort in eine Persona geschoben wird, die am Ende des Tests nichts mehr mit einem selber zu tun hat. Wir haben uns als Schulkinder einen Spaß daraus gemacht, Tests dieser Art zu manipulieren. Ich weiß noch nicht, was ich von dem, was Sie hier tun, halte, aber ich möchte Ihnen jedenfalls kein Theater vorspielen und keine Lügen erzählen. Diese Tests machen mir das unmöglich."

Er runzelte die Stirn. "Diese Tests wurden von namhaften Psychologen entwickelt. Es ist unwahrscheinlich, daß irgendeine Frage oder Antwort genau das bedeutet, was Sie glauben, daß sie bedeutet. Sie mögen glauben, den Test manipulieren zu können, aber höchstwahrscheinlich ist das eine Illusion."

Ich dachte darüber nach. Es änderte nichts daran, daß die Tests von einem verlangten, in eine Rolle zu fallen. "Ich mache Ihnen einen Vorschlag", sagte ich. "Sie besorgen mir zwei Bögen des gleichen Tests. Ich fülle beide aus, und schreibe auf Extrazettel, was ich getan habe und warum. Sie lassen die Tests auswerten, vergleichen das Ergebnis mit meinen Notizen und entscheiden dann, was Ihre Tests wert sind."

Er überlegte. "Sie könnten einfach lügen", sagte er.

"Ja", sagte ich, "das könnte ich. Das könnte auch jeder andere, davon mal abgesehen."

"Wären Sie bereit, Ihre beiden Tests unter einem Lügendetektor zu machen?"

"Die Tests wären weiterhin schriftlich?"

"Ja."

"In Ordnung", sagte ich, und fügte hinzu, "ich bin selber sehr neugierig, was dabei herauskommt."

***

Zum Glück hatte John nicht den "Sind Sie ein psychopathischer Serienmörder"-Test ausgesucht, sondern einen etwas kryptischeren mit Wort- und Bildassoziationen. Ich landete in einem anderen Raum. Eine Labortechnikerin montierte den Lügendetektor und stellte ein paar Fragen zur Justierung, so vom Typ "Wie heißen Sie, wie alt sind sie", wobei wahrscheinlich rauskam, daß ich mich selber frei erfunden hatte -- diese ganzen Gerätschaften machten mich nervöser als es mich gemacht hätte, der Technikerin Märchen zu erzählen. Dann gab sie mir die Testbögen. Ich überflog den Test und merkte, daß ich automatisch in die "nüchtern und strebsam"-Stimmung verfiel, die sich für Tests und Klassenarbeiten bewährt hat. Ich begann, die Fragen zu beantworten. Während ich das tat, guckte ich die anderen Muster an, die der Test suggerierte. Düster und zynisch war offensichtlich, naiv und ein bißchen simpel ein weiteres, verklemmt-neurotisch, hm. Gab es kein psychotisch-antisozial? Es wäre lustig gewesen, das auszuprobieren, aber ich wußte nicht, ob ich es hinkriegen würde.

Ich beendete den Test, schrieb meine Bewertung und atmete tief durch. OK, zynischer Teenager. Alles Scheiße, Null Bock, Leck mich, und so weiter.

Der Linie war tatsächlich einfach zu folgen. Ich schrieb die zweite Bewertung, packte alles zusammen und signalisierte der Labortechnikerin, die still in einer Ecke gesessen und ein Buch mit Drachen auf dem Umschlag gelesen hatte, daß sie mich jetzt abkabeln konnte.

***

Danach kriegte ich den Rest des Tags frei und ging ins Kino und anschließend zum Baden. Zurück an der Klinik ging ich zum Haupteingang und fragte, wo Suzy Lee liegen würde und ob ich sie besuchen könnte. Ich erhielt die Info, daß Suzy in einem künstlichen Heilschlaf läge. Ich könnte sie trotzdem besuchen -- sie sei nicht mehr auf der Intensivstation, und es sei vermutlich gut für Patienten, auch für ausgeknockte, wenn jemand da wäre und mit ihnen redete. Ich fuhr also in den 5. Stock. Suzy hatte ein Zimmer für sich alleine, einen Tropf im Arm, und sah noch ziemlich verbunden aus. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte und redete statt dessen ein bißchen mit der Stationsschwester, die sagte, daß Miß Lee in drei Tagen aufgeweckt werden würde. Dann ergriff ich die Flucht.

***

Nach dem Abendessen arbeitete ich mich durch ein populärwissenschaftliches Astronomiemagazin, als Marshall in Begleitung eines älteren Mannes vor der Tür stand, meine Testunterlagen unter dem Arm. Der ältere Mann stellte sich als Professor Korovin vor und guckte wie die Katze, die den Kanarienvogel erwischt hat. Ich winkte beide herein.

Korovin ergriff das Wort. "Ich nehme an, Sie interessieren sich für den Ausgang Ihres kleinen ...Experiments?"

"Das war der Zweck des Ganzen", sagte ich.

Er breitete die Unterlagen auf dem Tisch aus und legte mir einen grünen und einen schwarzen Schnellhefter vor die Nase.

"Zusammengefaßt", sagte er, "waren Sie zu Beginn des Tests sehr nervös, wurden dann aber, als sich eine Routine einstellte, stetig ruhiger, bis zum Moment, wo Sie die Tests abgaben. Das ist ein normaler Ablauf und läßt darauf schließen, daß Sie sich Ihrer Fähigkeiten sicher sind und meinen, gestellte Aufgaben gut einschätzen zu können, aber auch, daß Sie einen gewissen Ehrgeiz haben -- selbst bei Sachen, wo es, letzten Endes, um nichts geht. Ein überdurchschnittliches Maß an Konkurrenzdenken."

Das sollte mal meine Mutter hören, die immer fand, ich sei wurstig und ehrgeizlos. Persönlich mußte ich eher dem Prof recht geben. Ich verliere nicht gerne.

"Interessanterweise zeigt keiner Ihrer beiden Tests diese Tendenz. Das erste Ergebnis" -- er zeigte auf den grünen Ordner -- "ist ganz offensichtlich eine Person von großer Nüchternheit und Ergebnisorientiertheit, ohne das Bedürfnis, sich in den Vordergrund zu drängen. Ein wenig unemotional, die Kreativität strikt in den Dienst der Machbarkeit gestellt -- der archetypische Ingenieur, könnte man sagen. Dies war Ihre erste Vorgehensweise, deshalb nehme ich an, daß Sie Tests und Prüfungen für gewöhnlich in diesem mentalen Modus bearbeiten. Was vermutlich dazu geführt haben wird, daß Ihre Teamfähigkeit und Effizienz stets überbewertet wurden, Ihr Ehrgeiz und Ihre Kreativität dagegen unterbewertet."

Er machte eine Pause und ich dachte, er müßte sich jetzt eigentlich eine Pfeife anstecken. Er sah danach aus.

"Das zweite Ergebnis... nun, ich bin sehr erleichtert, daß Sie in Ihren Kommentaren vermerkt haben, einen, ich zitiere, 'rotzigen Teenager' darstellen zu wollen. Ansonsten hätte das Ergebnis Sie als selbstmordgefährdet eingestuft."

"Oh", sagte ich. "Ich hoffe, der Fehler lag auf meiner Seite."

"Das ist eine sehr gute Frage", sagte Korovin heiter. "Wie ich sagte, eine orthodoxe Interpretation des Ergebnisses beschreibt Sie als suizidgefährdet, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für eine dissoziative Persönlichkeitsstörung. Zieht man Ihr Alter in Betracht, könnte es auch ein introvertierter Jugendlicher sein, der sich der Erwachsenenwelt entfremdet fühlt und möglicherweise zu viele Schauerromane gelesen hat. Das ist allerdings meine private Meinung und steht nicht in der Auswertung des Tests."

Korovin schien kein großer Anhänger dieser Tests zu sein. Wahrscheinlich war er deswegen so guter Stimmung.

"Die Frage ist, Miß Jamieson", fuhr er fort, "welcher dieser beiden Charaktere sind Sie?"

"Keiner", sagte ich. "Ich denke nicht, daß dieser Test in seinen... wie vielen Persönlichkeitstypen? Ich habe vier Basistypen erkannt und nehme an, daß es Untergruppen gibt... irgend einen Menschen zufriedenstellend beschreiben kann. Das ist der Grund", sagte ich, jetzt an Marshall gewandt, "weswegen ich mich geweigert habe, ihn zu machen. Man muß sich in eine Schublade einsortieren, ehe man beginnt, die Fragen zu beantworten. Und dieser Test war einer der besseren. Haben Sie mal den Test zum Thema 'moralisches Verhalten' gesehen?"

"Hm, ja", antwortete Korovin an Marshalls Stelle, "habe ich. Er scheint mir außerordentlich geeignet, Schakale zu identifizieren. Narren und Aufrichtige haben in dem Test keine Chance."

Yepp, Korovin hielt nichts von Tests.

Marshall sah zweifelnd aus. "Wenn Sie unsere Tests täuschen können, Miß Jamieson... woher sollen wir dann wissen, ob Sie uns die Wahrheit sagen?"

Natürlich, er konnte meine Gedanken nicht lesen. Das mußte ihn verunsichern.

Ich sagte, "Wenn ich Sie anlügen wollte, säßen wir nicht hier."

Korovin mischte sich ein. "Im Gegensatz zu dem, was Sie annehmen, Miß Jamieson, ist es keine verbreitete Fähigkeit, diese Tests zu manipulieren."

Woher wollte er das wissen, fragte ich mich. Wenn ich hier irgend etwas anderes hätte erreichen wollen als meine Neugier zu befriedigen, hätte ich ja auch den Mund gehalten und meine Kreuzchen dahin gemacht, wo sie den besten Eindruck machten.

"Ich würde mich gerne weiter mit Ihnen darüber unterhalten, und herausfinden, ob es sich um eine intellektuelle, psychologische oder parapsychologische Fähigkeit handelt. Wären Sie bereit..."

Oh, großartig. Mehr Tests. Ich warf Marshall einen fragenden Blick zu, während ich sagte, "Ich finde das Thema faszinierend und bin auf die Ergebnisse ebenso neugierig wie Sie es vermutlich sind. Aber ich bin nicht Herrin meines Zeitplans. Bitte klären Sie das mit Mr. Marshall."

Korovin zog zufrieden ab. Marshall blieb. Ich fragte mich, ob er sauer war, und entschied, daß es mir egal sein konnte, ob er sauer war.

"Wo waren Sie heute nachmittag?", fragte er.

"Im Kino, und dann zum Baden", sagte ich wahrheitsgemäß.

"Das war sehr leichtsinnig von Ihnen. Wir haben den 'dünnen Mann' immer noch nicht gefaßt, aber wir sind uns sicher, daß er nicht alleine gearbeitet hat. Sie sind Leuten in die Quere gekommen, die skrupellos und möglicherweise rachsüchtig sind. Niemand, am wenigsten Sie, hat etwas davon, wenn Sie diesen Leuten wieder in die Arme laufen."

Ich seufzte. "Ich verstehe das, Mr. Marshall. Aber Terrania ist eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern. Ich vermeide Orte, wo ich nicht unter Menschen bin oder wo jemand mich wiedererkennen könnte. Und letztendlich tue ich alles, was ich hier tue, freiwillig und in meiner Freizeit. Wenn es mir um meine Sicherheit ginge, wäre ich seit drei Tagen in Australien."

"Sie gehen ein großes Risiko ein."

"In einer Stadt dieser Größe? Jemanden hier zu finden, muß Monate dauern, und es ist ja nicht so als hätte ich eine Adresse oder würde mich irgendwo namentlich vorstellen. Und wenn ich nicht rauskomme, fange ich bald an, an der Tapete zu nagen oder weiße Mäuse zu sehen."

Er überlegte. "Könnten wir zu einer Abmachung kommen, daß Sie das Gelände der Gobi-Klinik nicht verlassen?"

"Vermutlich", sagte ich. Es ist ja nicht so, daß ich Geld nicht brauchen konnte. "Machen Sie mir ein Angebot. Aber für den Zustand Ihrer Tapeten übernehme ich dann keine Verantwortung."

Ich meinte, von irgendwo aus dem Off ein Kichern zu hören. Marshall verfolgte das Thema nicht weiter.


16. Juli

Am nächsten Tag kamen Psychotests 2.0: Emotionale Reaktionen. Das hieß, ich kriegte eine Haube auf als wollte ich mir eine Dauerwelle machen lassen, und diverse Bilder, Töne und Videos vorgespielt. Das war nicht uninteressant und sogar relativ entspannend, auch wenn einige der Bilder und Szenen ausgesprochen dramatisch waren und offenbar starke Reaktionen auslösen sollten.

Am Nachmittag holte Marshall mich ab. "Wir haben beschlossen, aus Ihrem Bedürfnis nach Auslauf eine Tugend zu machen", sagte er, und wir fuhren mit einer Kabinenbahn durch den Energieschirm, der das Regierungsviertel umgab.

Hier herrschte ein wesentlich anderer Ton als draußen in Terrania-Stadt. Die Hälfte der Leute rannte in Uniformen herum, und alle wirkten extrem wichtig und beschäftigt. Außerdem schienen die meisten Marshall zu kennen und grüßten ihn.

Wir nahmen einen Aufzug, in dem man keine Beschleunigung spürte und kamen irgendwo anders wieder heraus. "Irgendwo anders" war eine Schießbahn. Wir wurden von einem kleinen Mann mit einer Narbe im Gesicht erwartet. Laut seinem Namensschlid hieß er Mr. Singh.

"Können Sie schießen?" fragte er mich.

"Nein."

"Haben Sie schon einmal eine Schußwaffe in der Hand gehabt?"

"Nur auf dem Jahrmarkt".

Er schnaubte. "Na, wenigstens sind Sie ehrlich."

Ich hoffte, daß niemand von mir erwartete, daß ich schwer bewaffnet durch Terrania lief. Ich würde eine wesentlich größere Gefahr für mich selber und für harmlose Passanten darstellen als für irgendwelche Verschwörer!

Mr. Singh sah das auch so, und tat in den nächsten Stunden zu meiner zunehmenden Verwirrung alles, um das zu ändern. Erst textete er mich über alle möglichen Arten und Typen von Handfeuerwaffen zu, Revolver, Pistolen, Impulsstrahler, Desintegratoren, Nadler und so weiter, so daß ich überhaupt keine Gelegenheit hatte, ihm zu sagen, daß ich das alles nicht hören wollte und es mich nicht interessierte.

Schließlich legte er das Schießeisen, an dem er gerade diverse bewegliche Teile demonstriert hatte, vor mich hin. "Und nun Sie."

Ich machte keine Anstalten, das Teil anzufassen. Er sah mich auffordernd an. Ich starrte so ausdruckslos, wie ich konnte, zurück.

"Warum nicht?" fragte er.

"Ich habe kein Interesse daran, mit Schußwaffen umzugehen", sagte ich.

"Woran Sie ein Interesse haben oder nicht ist mir egal", sagte er. "Sie sind hier nicht im Ferienlager."

Ich verschränkte die Arme. Wir starrten uns an.

"Nehmen Sie die Waffe auf."

Ich rührte mich nicht.

"Miß Jamieson, nehmen Sie die Waffe auf."

"Nein."

Ich war neugierig, was er tun würde.

Nach ein paar langen Sekunden sagte er, "Miß Jamieson. Sie wissen, daß ich Sie nicht zwingen kann, zu kooperieren. Nun gut. Aber wenn Sie mit den großen Jungs spielen wollen, müssen Sie die Regeln kennen. Sie können nach den Regeln spielen oder nicht, das ist Ihr Problem. Grundkenntnisse in Waffensicherheit sind eine der Regeln. Lernen Sie sie, oder Sie spielen nicht."

'Mit den großen Jungs spielen'? Was zum Teufel meinte er?

Wahrscheinlich, daß sie mir Hausarrest in der Klinik geben würden, solange der dünne Mann nicht gefaßt war, oder mir zwei große, tumbe Leibwächter zur Seite stellen, damit mir armem Mädchen nichts zustieß. Dieser Kerl war cleverer als der Psychologe, oder vielleicht war ich nur nicht so überzeugt, daß ich Recht hatte. Ich entfaltete mich und wiederholte die Bewegungen, die er mir gezeigt hatte.

Wir machten eine Pause, als ich alle Grundtypen von Waffen handhaben konnte, ohne mir in den Fuß zu schießen. Es gab Kaffee und Käsebrötchen, und ich stellte fest, daß ich sie brauchte. Die Konzentration hatte mich eine Menge Nerven gekostet.

Ich ging für kleine Mädchen und war gerade auf dem Weg zurück, als ich merkte, daß Singh nicht allein war. Undamenhaft schlich ich bis zu der geschlossenen Tür der Schießbahn und lauschte. Singh sprach mit Marshall.

"...ist das wirklich alles nötig?" fragte Marshall gerade. "Sie soll nur einen Paralysator bekommen. Es ist nicht so, als könnte sie damit jemanden ernsthaft verletzen, wenn sie sich dumm anstellt. Ich hatte gedacht, Sie wären in einer Stunde fertig!"

"Sicher. Aber Sie wollen bestimmt nicht, daß Miß Jamieson sich jetzt schlechte Angewohnheiten zulegt und später mit Paralysatorreflexen..."

Hinter mir klappte eine Tür. Ehe jemand mich mit dem Ohr am Schlüsselloch erwischen konnte, pfiff ich mental 'La Paloma', öffnete die Tür und nickte Marshall zu. "Hallo Mr. Marshall. Sind Sie hier, um mich abzuholen?"

Marshall grinste etwas bösartig, die Rache für die Geschichte mit dem Psychologen, nahm ich an. "Sie sind hier fertig, wenn Mr. Singh sagt, daß Sie hier fertig sind."

Er verschwand. Mr. Singh nahm mich jetzt mit auf die eigentliche Schießbahn und ließ mich die verschiedenen Waffen abfeuern, erst "nur in die generelle Richtung", wobei ich mir fast das Handgelenk verstauchte -- der Revolver hatte einen Rückstoß wie ein auskeilender Muli und machte mehr Krach als ein Güterzug. Wenigstens wußte ich jetzt, wozu der Gehörschutz da war. Dann wurden Ziele aufgefahren. Ich hatte vorgehabt, schlecht zu schießen, aber Korovin hatte recht gehabt, ich verliere nicht gerne, und schoß also so gut, wie ich konnte, ohne mir den Anschein zu geben, daß ich mir Mühe gab. Ich hoffe, der Anschein war überzeugend: Ich schoß hundsmiserabel.

Was zum Teufel hatte Singh mit "später" gemeint? Wenn ich aus Terrania weg war oder dieser verdammte Spinner mit seinem Hypnostrahler endlich hinter Schloß und Riegel war, würde ich nie wieder etwas gefährlicheres als ein Küchenmesser anfassen, nahm ich mir vor. Es gab kein "später".

Gegen neun Uhr abends war Singh endlich zufrieden und gab mir einen Paralysator, der so klein war, daß er bequem in meine Jackentasche paßte. Ich wußte inzwischen, daß ein Paralysator auf eine Abstrahlung in einem 60°-Kegel eingestellt werden kann, und daß ein Modell dieser Größe in dem Fall eine effektive Reichweite von nicht mehr als fünf Metern hat.

"Dieser Paralysator ist auf erhöhte Leistungsabgabe eingestellt", erklärte Singh. "Das heißt, Sie können auf eine Entfernung von zehn Metern jedes menschenähnliche Wesen im Wirkungskegel für mindestens eine halbe Stunde außer Gefecht setzen, und auf bis zu zwanzig Metern jeden Angreifer für mindestens eine Minute handlungsunfähig machen. In jedem Fall nutzen Sie die Zeit -- gehen Sie nicht davon aus, daß Sie mehr als dreißig Sekunden haben! -- um jeden identifizierten Angreifer mit einem heruntergeregelten Schuß aus kurzer Entfernung auszuschalten. Denken Sie daran, daß Sie nur drei Mal mit voller Leistungsabgabe schießen können."

Ich schauderte. "Ich hoffe, ich muß überhaupt nicht schießen", sagte ich.

"Mit einem Paralysator sollten Sie immer zuerst schießen und dann Fragen stellen."

Marshall holte mich ab und gab mir einen kleinen Sender, mit dem ich Alarm geben sollte, wenn ich "in Schwierigkeiten" war -- also vermutlich von einem Haufen paralysierter Schulkinder umgeben und mit der Polizei, die mich für eine Massenmörderin hielt, auf den Fersen.

"Mr. Singh sagt, Sie haben eine Abneigung gegen Schußwaffen?" sagte Marshall, als wir in der Kabinenbahn das Regierungsviertel verließen.

"Ja, habe ich."

"Gibt es dafür bestimmte Gründe?"

Ich dachte nach. Ich wollte dem Chef des terranischen Mutantenkorps keinen sozialethischen Vortrag halten.

"Wenn man einen Hammer hat", sagte ich, "sieht alles aus wie ein Nagel."

***

Nachdem ich zugesagt hatte, Paralysator und Sender immer mit mir herumzutragen, war mit dem Baden am See natürlich Schluß, also nutzte ich wieder die Personalbadezeit des Kurbades. Mein rechtes Handgelenk war angeschwollen und etwas steif, und auf der Handfläche begannen sich blaue Flecken abzuzeichnen. Ich bin so hellhäutig, daß ich immer spektakuläre blaue Flecken kriege, die Wochen brauchen, um ganz zu verschwinden. Wenigstens kriege ich sie nicht leicht, aber auskeilende Mulis und schwere Feuerwaffen waren eindeutig zu brutal für mich.


17. Juli

Ich träumte einen fürchterlichen Scheiß und wachte um halb fünf in heller Panik auf. Die Bilder der Tests am Vortag hatten sich zu einer scheußlichen Geschichte zusammengesponnen, und an Ende war ich in ein Feuergefecht geraten. Ich war wie eingefroren gewesen und hatte meine Waffe nicht ziehen können und war verblutend auf dem Boden liegengelassen worden. Tatsächlich hatte ich Krämpfe. Ich wankte aufs Klo, um eine Aspirin zu nehmen und stellte fest, daß ich meine Tage gekriegt hatte. Klasse. Echt klasse. Ich nahm zwei Aspirin, duschte, und verbrachte den Rest der Nacht mit einem Krimi und einem Eagles-Tape. Four men ride out and only three ride back.

Ich hatte halb gehofft, daß sie mich Sonntag in Ruhe lassen würden, aber der Tag begann damit, daß ich Bilder von Leuten sah und mir ihre Gesichter merken mußte und sagen, in welcher Stimmung sie gerade waren. Dann wurde das mit Videos wiederholt. Ich glaube nicht, daß irgend etwas Besonderes dabei herauskam. Mein Gedächtnis für Gesichter ist durchschnittlich, und ich lese Emotionen mehr aus dem Kontext als aus dem Moment.

Oder lese ich sie telepathisch? Wäre mir nie aufgefallen. Andererseits, wenn ich das immer schon so mache, wie sollte es mir aufgefallen sein? Bin ich besser darin, die Emotionen von Leuten zu lesen als andere? Ich kannte einige Leute in der Schule, die wahnsinnig gut in so etwas waren.

Waren sie gut? Oder glaubten sie nur, daß sie gut waren und erzählten es jedem? Waren sie vielleicht einfach weniger wurstig als ich und interessierter daran, was Leute dachten und fühlten?

Wenigstens diese Frage würden die Tests, hoffte ich, beantworten.

***

In der Mittagspause ging ich wieder zu Suzy. Sie schlief noch, und ein Paar nicht mehr ganz junger Asiaten war bei ihr. Ihre Eltern? Ich fühlte mich schuldig und verdrückte mich. Für einen Moment hoffte ich fast, daß die Verschwörer mir über den Weg laufen würden. Brandstiftung in einem Wohnheim, das war ja wohl das Letzte.

Am Nachmittag kamen noch mal ein paar körperliche Tests, Ausdauer und Reaktion, was eigentlich meine Stärken sind, aber ich fühlte mich matschig und war nicht besonders gut.

Am Abend kam Reeves vorbei und fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm und ein paar Freunden Poker zu spielen. Ich sagte, ich hätte kein Geld und keine Ahnung vom Pokern. Er sagte, sie spielten um bunte Büroklammern, der Verlierer müsse dem Gewinner eine Tafel Schokolade spendieren, und sie würden mir das Spiel schon beibringen. Seine Kollegen waren wohl neugierig auf mich. Was die sich wieder dachten. Ich ging vorsichtshalber schon mal eine Tafel Schokolade kaufen.

***

Reeves und zwei seiner Kumpels spielten etwas, das sich "Five Card Draw" nannte und tatsächlich leicht zu lernen war. Ich hielt mich tapfer, und konnte meine Tafel Schokolade behalten.

***

Morgen sollen die Psi-Tests anfangen. Endlich.


18. Juli

Ich wachte um sechs auf, kurz bevor mein Wecker klingelte, und war aufgeregt. Wahrscheinlich würde sich jetzt herausstellen, daß die ganze Geschichte nur ein seltsamer Nebeneffekt des Marihuanas gewesen war und das ganze Drama völlig für Katze. Ich fragte mich, ob ich enttäuscht sein würde, keine Mutantin zu sein. Ich wußte es nicht. Eine Woche seltsamer Abenteuer in Terrania, eine Woche verlängerter Urlaub, Australien auf Staatskosten, und dann zurück in die Zukunft, die ich mir ausgesucht habe. Was hätte ich verloren?

Und was ist die Alternative?

Ach, reg' dich ab, Solveig.

***

Diesmal landete ich in einer Reihe von unterirdischen Laboren, die jedes technologische Gerät enthielten, mit dem man Menschen geistig beeinflussen kann. Ich glaube ich sagte schon, daß ich das grausig finde. Es geht mir einfach fürchterlich gegen den Strich, und ich war die ganze Zeit schlecht gelaunt und aufgebürstet. Zum Glück verlangte niemand etwas Schwierigeres von mir als durch den Raum zu gehen, in die Hände zu klatschen, oder über meinen Namen und mein Alter zu lügen, und zu beschreiben, was in meinem Kopf vorging. OK, und mir eine Menge Meßfühler auf den Kopf kleben zu lassen. Außerdem gab es seltsame Gerätschaften, die wie Sicherheitsschranken im Kaufhaus aussahen und angeblich dazu dienten, "Individualschwingungen" zu messen. Was auch immer.

Wir fingen mit hypnotischen Sendungen an, die, erfuhr ich, ein Supermutant, der sich der "Overhead" nannte, im Jahre '81 verwendet hatte, um seine Leute zu kontrollieren. Es stellte sich heraus, daß ich diese Dinge gar nicht wahrnahm, und bei genauerer Untersuchung, daß ich die Augen nicht darauf fokussiert hielt. Wenn ich wirklich versuchte, die Augen darauf zu fokussieren, kriegte ich ein Drücken im Kopf, von den Augäpfeln aus, das aber schnell wieder aufhörte, wenn ich woanders hinsah. Ähnliche nicht-hypnotische Muster wie arkonidische Fiktivschirme hatten den gleichen Effekt.

Nach der Mittagspause kam ein therapeutischer Hypnotiseur mit einem Pendel und zog eine klassische Nummer ab: "Ihr Arm wird gaanz schweeer..." Komischerweise kriegte der mich halb weggetreten, in eine Art meditativen Zustand. Allerdings konnte er mich zu nichts wirklich Interessantem kriegen. Kein "Sie sind jetzt ein Wildschwein..." oder "Jetzt weiß ich's wieder! Ich war mal Katharina die Große!" für mich.

Danach war ich ziemlich groggy und wir machten zwei Stunden Pause, in denen ich ein bißchen schlief.

Als nächstes wurden die Hypnostrahler in unterschiedlichen Formen und Größen aufgefahren. Ich verstand die hypnotischen Kommandos ohne Mühe, auch wenn sie nur mental übermittelt wurden oder in Sprachen, die ich nicht sprach. Ich hatte nur nicht das geringste Verlangen, den Kommandos Folge zu leisten. Der Labortechniker an den Individualschwingungssensoren ließ sich einige Manöver drei Mal vorführen und murmelte "faszinierend..."

Ich hatte den Eindruck, zu merken, wenn jemand einen Hypnostrahler auf mich richtete, das berühmte "Kribbeln zwischen den Schulterblättern", aber im Blindversuch bestätigte sich das nicht. Ich merkte es, wenn es ein Mensch war, aber nicht bei einer automatischen Anlage. Das sprach immerhin für eine Art von Telepathie, denn ansonsten unterschieden sich die Situationen nicht.

An diesem Abend führte Marshall mich zum Abendessen aus, in ein sehr gutes Restaurant im Regierungsviertel, und stellte mir einige Leute aus dem Mutantenkorps vor: Ishi Matsu kannte ich ja schon, dann Betty Toufry, die etwa in meinem Alter war, Kitai Ishibashi, und André Noir. Ich war ein bißchen überwältigt und konzentrierte mich auf das Essen, das es auch durchaus wert war. Noir erzählte Anekdoten, die nichts mit Mutanten oder Terraniern zu tun hatten: Anscheinend war er mal Koch gewesen.


19. Juli

Danach war ich völlig hin, fiel nur noch ins Bett und wachte am nächsten Morgen trotz Wecker erst um halb neun auf, so daß mein Frühstück aus einem Rosinenbrötchen und einer Cola bestand.

Ich war nicht wirklich überrascht, daß zwei der Mutanten, die ich am Abend zuvor kennengelernt hatten, auf mich warteten. Kitai (ist das jetzt der Nach- oder der Vorname? Verdammt!) war, erfuhr ich, Suggestor, der nette Mr. Noir ein Hypno. Der Unterschied zwischen den beiden Fähigkeiten war irgendwie technisch. Wir hatten eine sehr lange Sitzung, die erst endete, als mein Magenknurren im ganzen Raum zu hören war. Es stellte sich heraus, daß ich mich leichter bequatschen als behexen ließ. Ein nettes Gespräch mit ein paar hypnotischen Impulsen lieferte tatsächlich eine etwas bessere Erfolgsquote als ein nettes Gespräch. Das wirkte aber nur, wenn der Sprecher gleichzeitig die Hypnoquelle war, Worte und Impulse zusammenpaßten und die Worte schon in die richtige Richtung gingen. Als ich versuchte, es zu beschreiben, lief es darauf hinaus, daß wenn Noir oder Kitai gleichzeitig redete und seine Mutantenkräfte anwendete, sie mir als engagierter und mehr bei der Sache erschienen, so daß ich eher bereit war, mich bequatschen zu lassen.

Sieht so aus, als sollte ich meine Tendenz, mich bequatschen zu lassen, besser kontrollieren, auch wenn Marshall, als wir endlich eine Pause machten, der Ansicht zu sein schien, daß mein Bequatschbarkeitsfaktor immer noch unterentwickelt war. Ich verkniff mir gerade noch eine Bemerkung, daß sie es mal mit jemandem versuchen sollten, der mehr mein Typ war, und hörte Betty kichern. "Warte, bis du Gucky triffst", hörte ich in meinen Gedanken.

Ich "dachte" zurück: "Gucky?"

Sie feixte.

"Miß Toufry?" sagte Marshall.

"Sie ist Telepathin. Zumindest Halbtelepathin. Sie hat genau verstanden, was ich ihr gesagt habe, obwohl ich nicht bi bin."

Ich verstand nur Bahnhof und fragte in die Runde: "Bi was?"

Marshall erklärte. "Miß Ishi kann nicht nur die Gedanken anderer Menschen lesen, sondern auch in deren Gedanken sprechen. Das nennen wir 'bidirektionale Telepathie'. Betty kann das nicht. Wenn Sie ihre Gedanken gelesen haben, heißt das, daß Sie selber Telepathin sind."

Ich saß da wie vom Donner gerührt. "Donner" traf es gut, alle meine Gedanken rollten und rumpumpelten umher wie Donner in den Bergen. Antihypnotisch zu sein ist eine Sache, es heißt, daß Hokuspokus bei einem nicht funktioniert. Telepathie...

"Wenn ich Gedanken lesen könnte, wäre mir das bestimmt vorher aufgefallen!" sagte ich und wunderte mich, wie empört ich klang. "Bei meinen Abschlußprüfungen zum Beispiel", fügte ich hinzu und dachte, aber es ist mir aufgefallen, in diesem dummen Buch mit Psychotests das Lissa und ich aus der Bücherei hatten, war ein Test, "Sind sie parapsychologisch begabt" und ich bin im obersten Achtel gelandet, weit über aller Zufallswahrscheinlichkeit, aber das war mit Lissa, sie muß mir unbewußte Signale gegeben haben, wir kennen uns zu gut, und der Donner in meinem Kopf rollte weiter und übertönte alles, was ich sonst noch dachte.

***

Ich hatte vorgehabt, Suzy zu besuchen, aber ich war so konfus, daß ich mich nicht imstande fühlte, etwas wie eine normale Konversation zu führen. Morgen, dachte ich.

***

Am Nachmittag machten wir Kombinationstests, Leute plus Gerät, Leute plus Leute, Reden plus Gerät, Leute plus seltsame Muster, in unterschiedlichen Stärken. Marshall kam nur am Abend einmal herein, warf einen Blick auf die Testunterlagen, sah mich prüfend an und runzelte die Stirn. "Was ist?" dachte ich in seine Richtung. Er schüttelte den Kopf. Alles, was ich von ihm lesen konnte, war eine Art "eigentlich sollte ich", aber er hatte sich bereits dagegen entschieden, was immer es gewesen war. Wahrscheinlich verheimlichten sie mir wieder was.

Ich war weniger müde als am Vorabend und lief die Anspannung des Tages in der Stadt ab, kaufte etwas Schnickschnack, zwei T-Shirts und Schuhe. Ich hätte Lust gehabt, tanzen zu gehen, aber in diesem Teil der Stadt fand ich keinen Laden, der mir zusagte.

Letztlich driftete ich in eine irische Kneipe, die innen grün gestrichen, voll, und fürchterlich kitschig möbliert war, aber die Musik war auszuhalten und die Stimmung locker. Ich setzte mich an die Theke, trank Cider und versuchte, nachzudenken. Es gelang mir nicht. Dann versuchte ich, die Gedanken der Leute um mich herum zu lesen und es gelang mir auch nicht. Ich bestellte noch einen Cider und fragte den Barkeeper, ob sie was von Clannad hätten. Sie hatten, und er legte auf. Ich hielt mich an meinem Cider fest und dachte an gar nichts. Irgendwann sah ich auf und es war nicht mehr viel los. Wie lange saß ich schon hier?

Der Barkeeper sah mich fragend an. Ich merkte, daß mein Cider wieder leer war und ich nicht wußte, wieviele ich jetzt schon intus hatte. "Ich glaube ich habe genug", sagte ich.

"Wenn Sie versuchen, Ihren Kummer zu ertränken, haben Sie nicht genug. Aber lassen Sie's lieber. Kummer schwimmt. Möchten Sie einen Saft?"

Ich nickte. "Ich habe keinen Kummer", sagte ich.

"Dafür schauen Sie ziemlich unglücklich aus der Wäsche."

"Ich bin nur müde", sagte ich, und fand plötzlich, daß ich mit jemandem reden wollte. Hatte mich jemand oder etwas beeinflußt, mit dem Barkeeper reden zu wollen? Ich wurde wirklich langsam irre. "Ich habe einen dreitägigen Einstellungstest", phantasierte ich. "Zwei Tage durch, noch einer zu tun. Ich bin völlig mit den Nerven fertig."

Der Barkeeper nickte verständnisvoll. "Ist der Job es wert?" fragte er.

"Das ist es eben", sagte ich. "Ich weiß es nicht."

Er stellte mir einen Orangensaft hin. "Und das hilft nicht?" fragte er. "Tests sollten doch leichter sein, wenn einem das Ergebnis egal ist."

Was hatte Korovin gesagt -- überdurchschnittliches Maß an Konkurrenzdenken? "Ich verliere nicht gern", sagte ich.

Eine Gruppe von Leuten kam rein und wollte Bier. Ich ließ mich in die Musik fallen. Every mile you roam, ten thousands from home.

Aber ich wollte nicht nach Hause.


20. Juli

Ein neuer Tag, weitere Tests. Sie waren jetzt mit der Hypnose durch, bis auf Marshalls seltsame Vorbehalte, die er nicht vorbrachte, und gingen zur Telepathie über.

Es wurde schnell ersichtlich, daß mein "normaler" Zustand ein hochgradiger Mentalschirm war. "Eine Milchglaskugel", beschrieb Betty, die, wie ich erfuhr, die stärkste Telepathin der Korps war. "Man sieht, daß darunter etwas vorgeht und welche Farbe es hat, aber man kann es nicht erkennen."

Marshall schien einen weiteren Punkt auf der Liste seiner Vorbehalte zu machen. Langsam machte mich das nervös.

Umgekehrt konnte ich ohne weiteres "mentale Postkarten" schreiben, oder, wie Betty sagte, "Wörter auf der Oberfläche erscheinen lassen", indem ich jemanden gezielt "andachte". Manchmal flutschte auch so etwas durch, meistens dumme Bemerkungen.

Das Gerede von Postkarten erinnert mich daran, daß ich mich mal wieder Zuhause melden sollte. Zum Glück machten wir um elf Uhr schon Mittagspause, weil Betty und John einen wichtigen Termin hatten. Ich aß in der Cafeteria, las ein oder zwei Artikel in einer Illustrierten, jetzt habe ich ein wenig geschrieben und nun werde ich Postkarten kaufen gehen, und dann gucken, wie es Suzy geht.

***

20. Juli (geschrieben: 21. Juli):

OK. Wir haben den dünnen Mann.

Das war.

Argh.

Also. Gestern.

Gestern Mittag kaufte ich am Kiosk meine Postkarten und überlegte, was ich schreiben sollte. Es war nichts passiert, oder besser, es war so viel passiert, und nichts davon gab einen guten Text für eine Urlaubspostkarte ab. "Liebe Mutter! Ich bin von den Terraniern für Experimente gekidnappt worden..." Heh. Das konnte ich Lissa schreiben, die würde mir kein Wort glauben.

So in Gedanken nahm ich den Aufzug in den fünften Stock, grüßte die Krankenschwester, die ich auf dem Gang traf, klopfte an Suzys Tür, hörte ein "Herein!" und machte die Tür auf. Suzy war wach, umgeben von Blumentöpfen und Genesungswunschkarten, mit einem Stapel ernsthaft aussehender Bücher und einem kleinen, blauen Teddybären auf dem Nachttisch. Mir wurde schmerzlich bewußt, daß ich mit leeren Händen ankam. Auf dem Stuhl neben dem Bett saß ein junger Mann mit Schlips und Kragen. "Die gute Nachricht ist," sagte er gerade, "sie haben endlich die Firmenwohnungen fertig!"

"Hallo Suzy", sagte ich, "Guten Tag, Herr..."

"Weaver", sagte er, stand auf und schüttelte mir die Hand. "Edward Weaver".

"Solveig Jamieson", stellte ich mich vor. Dann begrüßte ich Suzy.

"Du siehst so aus, wie ich mich fühle", sagte sie. "Hat es dich etwa--"

Hinter uns klappte die Tür. Suzy sah durch mich hindurch, und ich wußte, daß etwas nicht in Ordnung war. Noch bevor sie den Mund öffnete, um zu schreien, griff ich die größte Blumenvase vom Nachttisch und warf sie mit Schwung über meine Schulter nach hinten, ohne mich auch nur umzudrehen. Die Vase prallte irgendwie auf, dann zischte etwas und die Luft roch nach Ozon. Impulsstrahler, dachte ich. Es gab keine Deckung im Raum, Suzy schrie, und ich packte das nächste, was mir in die Hand kam, den Nachttisch selber, der auf Rollen war, schleuderte ihn mit ganzer Kraft herum und drehte mich dabei, so sah ich ihn in den Stationsarzt krachen, der einen glasigen Blick und einen Impulsstrahler in der Hand hatte. Ich kannte diesen Blick, und die beiden blaubekittelten Krankenschwestern, die jetzt durch die Tür kamen, eine mit einem Skalpell und eine mit irgendeiner Keule bewaffnet, hatten den gleichen. Ich erinnerte mich an meinen Paralysator und schoß, ehe der Arzt sich von dem Nachttisch befreit hatte. Ein Streustrahl, runterregeln, jeden der drei KO-gegangenen noch einmal gezielt betäuben. Dabei nahm ich ihnen die Waffen ab. Impulsstrahler sichern. Zur Tür. Hilfe holen. Ein Assistenzarzt und eine weitere Krankenschwester stiefelten den Flur hinunter wie Komparsen in einem Romero-Film. Ich haute die Tür zu. Man konnte sie nicht abschließen. "Stuhl!" brüllte ich.

Weaver starrte mich an. "Geben Sie mir den Stuhl da! Schnell!"

Ich klemmte den Stuhl unter die Türklinke und hustete. Die Vorhänge waren von dem Impulsstrahl getroffen worden und schwelten leicht.

Die Tür war zu, aber jede Projektilwaffe würde sie problemlos durchschlagen, und wir waren alle sechs in der Schußlinie. "Rollen Sie das Bett rüber an die andere Wand!" befahl ich. "Und bleiben Sie da!" Suzy hatte aufgehört zu schreien und war totenblaß. Die drei Paralysierten lagen flach auf dem Boden, das mußte an Deckung reichen.

Etwas rüttelte an der Tür. Von wo konnte ich schießen, ohne selber umherfliegende Kugeln einzufangen? Auf der Türseite verlief eine Reihe von Schränken, die nicht ganz deckenhoch waren. Von dort aus konnte man auf jeden runtergucken, der durch die Tür kam. "Weaver!" Ich winkte ihn her. Es rüttelte wieder an der Tür. "Helfen Sie mir da rauf!"

Oben war es staubig, und ich hatte nur etwa fünfzig Zentimeter Platz in die Breite. Es rüttelte wieder, dann krachte ein Schuß. Projektilwaffe. Der Stuhl wurde durch den Raum geschleudert. Die Tür ging auf. Die beiden Romero-Komparsen hatten Verstärkung gekriegt, einen Hausmeistertyp und eine Putzfrau. Ich feuerte den Paralysator ab. Die Putzfrau fiel um. Die anderen nicht. Ich hatte vergessen, wieder auf Streustrahl zu stellen. Zu meinem Glück sind Leute, die unter hypnotischen Kommandos etwas tun, was sie normalerweise nie tun würden, langsam. Ich hatte Zeit, die Leistung hochzudrehen, ehe der Hausmeister seinen altertümlichen Revolver weit genug nach oben bekommen hatte. Dieses Mal fielen alle vier um. Nur noch ein Schuß. Ich hangelte nach der offenen Tür, aber sie war gerade eben außerhalb meiner Reichweite, und der Stuhl war ohnehin Schrott.

Sender. Ich hatte einen Sender. Draußen war alles still, aber ich traute dem Frieden nicht. "Weaver!" Ich warf ihm den Sender zu. Er fing ihn reflexartig. "Drücken Sie den roten Knopf und rufen Sie um Hilfe!"

Ich hörte ihn, "...Feuergefecht, Verletzte. Brauchen Hilfe, sofort! Station 3, fünfte Etage, Zimmer 117..."

Ich konzentrierte mich auf Betty und hoffte, daß ihre Besprechung nicht auf dem Mond war. "Betty! Hilfe! Hypno-Zombies! Mit Impulsstrahlern! Gobi-Krankenhaus!" Zum Glück hatte Weaver die Zimmer- und Stationsnummer auf der Reihe gehabt, so daß ich sie einfach wiederholen konnte.

Langsame, stockende Schritte auf dem Korridor. Ich traute mich nicht, mich vorzulehnen und nachzugucken, wer oder was da kam. Und dann hörte ich Bettys Stimme in meinen Gedanken, "Hilfe kommt... jetzt."

Ein Luftzug ging durch das Zimmer, und in der Mitte des Raumes stand ein bepelztes Wesen von der Größe eines fetten Sechsjährigen, das große Ohren hatte und eine terranische Uniform trug, guckte zu mir hoch und sagte, "Also wirklich, fett!"

"Gucky?"

"Derselbe. Komm' da runter, dann fassen wir uns alle an den Händchen und verschwinden hier."

Ich rutschte vom Schrank, wobei ich mir den Knöchel verstauchte. Gucky packte uns, so gut das mit seinen kleinen. pfotenartigen Händen ging, wir packten einander, dann gab es einen kleinen, ziehenden Moment der Desorientierung und wir waren woanders.

Gucky murmelte etwas von "spielen" und verschwand mit dem Geräusch eines platzenden Luftballons. Leute waren da und kümmerten sich um Suzy. Ich setzte mich still in eine Ecke und kriegte einen Panikanfall.

Irgendwann gab mir jemand eine Papiertüte und den Befehl, dort reinzuatmen, was ich tat. Alles wurde wieder ein bißchen klarer. Ich blickte auf und sah einen Uniformierten. "Sind Sie verletzt?" fragte er.

"Keine Ahnung", sagte ich.

Zwei Gestalten in hellblauen Kitteln direkt vor mir. Ich ließ die Tüte fallen und haute einem von ihnen auf die Nase. Der andere berührte mich am Arm und ich blendete weg.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Krankenhausbett. Ein kurzer Rundumblick ergab keinen blauen Teddybären, statt dessen einen uniformierten John Marshall, der neben dem Bett saß und auf die Uhr schaute, als ich aufsah.

"18 Uhr 13. Sie sind zwei Minuten zu früh dran. Wie geht es Ihnen?"

Ich starrte planlos meine rechte Hand an. Wieso hatte ich einen Verband um meine rechte Hand? "Wo bin ich?"

"Sie sind in der Krankenstation des Regierungsgebäudes. Sie haben einen verstauchten Fußknöchel, vermutlich einen psychischen Schock, eine leichte Rauchvergiftung, und einen gebrochenen Fingerknöchel in der rechten Hand. Der Sanitäter, den Sie bewußtlos geschlagen haben, erholt sich gerade von der Wiederherstellung seiner Gesichtsknochen."

"Oh", sagte ich. "Tut mir leid." Ich versuchte mich zu erinnern, wieso ich einen Sanitäter geschlagen hatte. "Ich war nicht ganz bei mir."

"Den Eindruck hatten wir auch", sagte Marshall trocken.

"Was ist mit den anderen?"

"Keiner der anderen hat Tarzan gespielt oder sich in einem Raum mit Rauchentwicklung nahe der Zimmerdecke aufgehalten. Miß Lee geht es nicht schlechter als vor Ihrem Besuch. Mister Weaver erwägt, das Gobi-Krankenhaus zu verklagen. Das unter hypnotischem Befehl handelnde Klinikpersonal hat sich, nachdem die Hypnoblöcke entfernt waren, an eine Menge nützlicher Einzelheiten bezüglich eines dünnen Manns mit einer 'seltsamen Waffe' erinnert. Wir konnten den Impulsstrahler anhand seiner Seriennummer zurückverfolgen und haben den dünnen Mann vor" -- er sah auf die Uhr -- "einer Stunde und sechsunddreißig Minuten in einer Mietwohnung in Terrania-Süd verhaftet."

Aha. "Was ist..." passiert, wollte ich fragen, aber das wußte ich ja. "Wie ist das passiert?" fragte ich statt dessen.

"Möchten Sie einen Pfefferminztee? Das wird eine längere Geschichte."

"Ich hasse Pfefferminztee", sagte ich. "Kann ich einen Kaffee kriegen?"

"Nein. Anordnung des Arztes."

"Kann ich rauchen?"

"Ausgeschlossen."

"Kriege ich ein Glas Wasser?"

Marshall holte das Wasser persönlich. So hatte ich wenigstens etwas, woran ich mich festhalten konnte.

"Soweit wir das rekonstruieren können", sagte er, "ließ der dünne Mann -- dessen Name übrigens Vincent Luciano zu sein scheint -- die Gobi-Klinik beobachten, seit Miß Lee hier eingeliefert worden ist. Sein Ziel war es offensichtlich, Sie zu finden, da er zu dem korrekten Schluß gekommen war, daß Sie für das Scheitern seines Planes verantwortlich waren, und die -- inkorrekte -- Befürchtung hegte, daß Sie genug über ihn wußten, um ihm gefährlich zu werden." Er hielt kurz inne. "Wir hätten diese Verbindung sehen müssen, aber... nun ja."

"Und mir wollten Sie verbieten, ins Kino zu gehen", sagte ich.

Marshall ging nicht darauf ein.

"Von Ihrem ersten Besuch bei Miß Lee scheint Luciano nicht rechtzeitig erfahren zu haben. Nach Ihrem zweiten Besuch am 17. hatten Sie begonnen, sich vorhersehbar zu verhalten. Am Morgen des 19. behandelte Luciano die gesamte Tagschicht von Station 3 posthypnotisch, so daß sie Sie bei Ihrem nächsten Besuch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln angreifen würden. Er gab dem Stationsarzt, Dr. Besabe, einen Impulsstrahler, den er am Tag zuvor von einem Kleinkriminellen erworben hatte. Als Sie heute mittag die Station betraten, lösten Sie die Falle aus."

Etwas Wasser schwappte aus dem Becher. Meine Hände zitterten. Ich stellte den Becher so vorsichtig wie möglich auf dem Nachttisch ab und überprüfte dabei, ob dieser Rollen hatte. Er hatte.

"Wußten Sie das?" fragte ich.

Marshall holte Luft, um zu antworten, dann ging ihm die Bedeutung meiner Frage auf und er sah mich entsetzt an. "Nein. Selbst wenn wir den bösen Jungs absichtlich eine Falle gestellt hätten, hätten wir es nicht auf ein Feuergefecht in einem Krankenhaus ankommen lassen. Oder riskiert, daß ein hypnotisch kontrollierter Stationsarzt einer Zivilistin in den Rücken schießt."

"Da bin ich ja erleichtert", murmelte ich.

"Miß Jamieson, was denken Sie von uns!"

Ich fühlte mich plötzlich sehr müde. "Ich denke, daß Sie schummeln", murmelte ich. "Sie tun seit zwölf Jahren das Unmögliche. Keiner hat so viel Glück."

Dann schlief ich ein. Ich frage mich, was in dem Wasser war.


21. Juli

Entsprechend bin ich dann heute um fünf Uhr früh aufgewacht und merkte, daß ich nicht wußte, wo genau ich eigentlich war und wo ich hier hingehen sollte oder konnte. Ich humpelte ins Bad, um etwas zu trinken, und stellte fest, daß irgendein netter Mensch mir mein Zeug aus der Gobi-Klinik nachgetragen hatte. Also hockte ich mich mit meinem Walkman und meinem Tagebuch hin. Meine rechte Hand ist fürchterlich ungelenk, und es tut weh, den Stift zu halten, aber ich wollte das alles zu Papier bringen, solange es noch frisch ist. Jetzt ist es sieben Uhr durch und langsam mal Zeit, daß jemand auftaucht.

Die Postkarten schreibe ich jetzt nicht.

***

Um acht Uhr kam ein Arzt, der einen weißen Kittel trug, was gleichzeitig vertraut und unerwartet aussah. Die Ärzte, Schwestern und Pfleger in der Gobi-Klinik tragen alle grüne oder hellblaue Kittel, weil Weiß in Asien als eine Unglücksfarbe gilt. Ich beäugte seine Aufmachung fragend.

"Zur farblichen Unterscheidung", erklärte er.

Oh Mann. Ich verbreite echt Furcht und Schrecken.

Er erklärte mich für fit genug, das Bett zu verlassen und meinem normalen Tagwerk nachzugehen, allerdings sollte ich noch ein paar Tage einen Stützverband um den Fußknöchel tragen und mindestens drei Tage die Hand eingewickelt behalten, und mich jeden Abend zu einer Regenerationsaktivierung blicken lassen. Dann warf er einen zweifelnden Blick in meine Akte. "Sie sind für Ihre Körpergröße wesentlich untergewichtig", sagte er. "Ist das eine neuere Entwicklung?"

"Ich sollte zweiundsechzig Kilo wiegen", sagte ich. "Das wog ich jedenfalls vor..." Ich rechnete. Wann war ich zu Hause weggefahren? "Vor drei Wochen."

"Sie wiegen sechsundfünfzig", sagte er. "Und Sie sind sehr blaß. Essen Sie genug?"

"Drei normale Mahlzeiten am Tag", sagte ich.

"Sie sind Mutantin, nicht wahr? Haben Sie in letzter Zeit viel parapsychologisch gearbeitet?"

Das konnte ich bestätigen.

"Essen Sie fünf Mahlzeiten", verordnete er. "Frühstück, zweites Frühstück, Mittag, Tee und Abendessen. Und gehen Sie mehr in die Sonne. Vertragen Sie Milch? Gut. Trinken Sie welche. Ich will Sie in drei Tagen bei achtundfünfzig Kilo sehen."

Das erklärte zumindest Suzys Bemerkung, daß ich schlecht aussähe.

***

Oh Gott, Suzy. Ich glaube, ich sollte ihr auch eine Postkarte schreiben. Sie zu besuchen wäre wahrscheinlich nicht gut für ihr inneres Gleichgewicht. Und eine "Tschuldigung..."-Postkarte für den armen Sani.

***

Jedenfalls kam Marshall rein, nachdem der Arzt gegangen war. Er wirkte geradezu unangemessen heiter. "Guten Morgen, Miß Jamieson. Machen Sie sich zurecht, der Chef will Sie sehen, und der hat nicht den ganzen Tag Zeit."

Fensterlose Gänge und beschleunigungsgedämpfte Aufzugkabinen, ich hatte keine Ahnung, wo ich war, als ich mit John aus dem Aufzug trat, in einen Flur mit anthrazitfarbenem Boden, einer dunkellila Sitzgruppe und zwei Türen. Marshall klopfte an eine davon, öffnete sie und schob mich hindurch.

In Rhodans kühl eingerichtetem Arbeitszimmer roch es nach Macht, ein schwerer, kalter Geruch wie Eisen im Winter. Eine offene Fensterfront zeigte das Bild der Bergkette, die ich Tage zuvor von meinem Hotelzimmer aus gesehen hatte. Ich glaubte nicht, daß das tatsächlich Fenster waren, die sich zu einem Draußen öffneten, und fühlte mich überhaupt nicht wohl.

Marshall war hinter mir eingetreten. "Mr. Rhodan, Miß Jamieson."

Rhodan saß an einem modernen Schreibtisch und grüßte uns freundlicher, als ich aufgrund der strengen Atmosphäre des Raumes erwartet hatte. Er sah nach nichts besonderem aus, hatte aber einen sehr intensiven Blick, und als er aufstand, um mich zu begrüßen, nahm er kein Ende: Er war tatsächlich deutlich größer als ich. Das ist nicht allzu häufig.

"Guten Morgen, Miß Jamieson", sagte er, "ich freue mich, Sie endlich zu treffen."

"Guten Morgen", sagte ich, und "äh, die Freude ist ganz meinerseits." Wie sprach man den Chef der Dritten Macht an? Am besten gar nicht!

Alle Welt sagt, daß Rhodan ein bemerkenswertes Charisma hat. Mir ging viel zu sehr die Muffe, um derartiges zu bemerken.

"Mr. Marshall, würden Sie uns bitte allein lassen?"

Marshall zog sich zurück. Die Tür klappte.

"Möchten Sie einen Kaffee?" fragte Rhodan mich freundlich. Er wußte, daß ich besser beisammen war, wenn ich Kaffee hatte.

"Ja, bitte", sagte ich.

Er schenkte aus einer Thermoskanne auf seinem Tisch ein.

"Miß Jamieson--" Entspannte er sich oder ich? Der Kaffee war gut, trotz der Thermoskanne, "ich würde Ihnen gerne kräftig die Hand schütteln, doch das ist im Moment wohl nicht angebracht." Ich dachte an meine malträtierte Rechte und mußte ihm im Stillen zustimmen. "Sie haben Bemerkenswertes für Terra geleistet."

Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort, wollte ich protestieren, mit den richtigen PSI-Kräften, aber es wäre wohl nicht höflich gewesen, Rhodan zu unterbrechen.

"Wir sind Ihnen alle zu Dank verpflichtet", fuhr er fort, "und als Zeichen Ihrer Verdienste und unserer Anerkennung..." -- war das Pluralis majestates? Er schob ein gefaltetes Stück Papier über den Tisch, und eine kleine Schachtel, die aussah, als sei ein Schmuckstück drin, "möchte ich Ihnen" -- kein Pluralis majestatis -- "dies überreichen." Hoffentlich ist es kein Ring, dachte ich unzusammenhängend und öffnete die Schachtel. Unter einem schwarzen Tuch mit Silberfäden -- die Farben der Dritten Macht -- war eine kleine kupferne oder bronzene Brosche, ein Stern mit einem Schweif. Ein Komet. Etwas verwirrt entfaltete ich das Papier. Es trug das Siegel der Dritten Macht. Auf dem Papier stand, daß für besondere Verdienste um Frieden und Erhalt der Vereinigten Erde, blah blah blah, Frau Solveig Jamieson, blah, Kometenorden dritter Klasse, blah." Ein Orden? Ich mußte mir Mühe geben, nicht herauszuplatzen oder zu lachen.

"Vielen Dank", sagte ich. Was sagt man in so einer Situation?

"Sie wirken skeptisch", stellte Rhodan fest.

"Ich bin überwältigt", sagte ich. "Außerdem..." Ich zuckte die Schultern.

"Außerdem haben Sie nur getan, was jeder getan hätte?"

Ich nickte vage.

"Dann nehmen Sie's als Glückstreffer", sagte er. "Oder Unglückstreffer. Nicht jeder läuft bei seinem Urlaub in Terrania gleich zwei Mal in bewaffnete Umstürzler."

Wenn ich statt der Anstecknadel eine Öse an den Kometen machen ließ, würde er einen netten Anhänger ergeben. Zuhause würde niemand wissen, was es war. Ich hatte es nicht gewußt.

"Was werden Sie tun, wenn Sie wieder zu Hause sind?" fragte Rhodan.

Ich hätte ihm sagen können, daß ihn das nichts anginge, aber ich war so fürchterlich nervös, daß ich mich auf die Gelegenheit stürzte, über etwas zu reden, wovon ich Ahnung hatte. "Ich beginne im Herbst ein Studium an der Universität in Uppsala", sagte ich. "Politologie, neuere Geschichte und nordische Sprachen".

Er nickte, als würde ihn das interessieren. "Was wollen Sie einmal damit machen?"

"Taxifahren", sagte ich ironisch, automatisch. Der Witz war ein Reflex geworden. Ich zuckte die Schultern. "Lehrerin?"

"Journalistin?" schlug Rhodan vor. "Politische Analytikerin? Beraterin?"

Nikki hatte das gleiche gefragt. Ich machte eine unbestimmte Bewegung. "Das weiß ich noch nicht."

"Wissen Sie nicht, was Sie wollen, oder nicht, wie Sie es bekommen können?" fragte er.

Was war denn das für eine Frage? "Es interessiert mich, wie menschliche Gesellschaften sich organisieren und wie sie interagieren", sagte ich. "Im Moment weiß ich noch nicht, ob es mir mehr Spaß machen wird, das Thema rein akademisch zu behandeln, ob ich Entwicklungen beobachten und beschreiben möchte, oder ob ich an den Entscheidungen teilhaben will. Ich muß meine Optionen kennenlernen, bevor ich eine Entscheidung treffen kann."

Rhodan nickte. "In dem Fall habe ich eine weitere Option für Sie", sagte er. "Sie unterscheidet sich beträchtlich von Ihren geäußerten Plänen, könnte aber Ihren Interessen dennoch gerecht werden." Er machte eine Kunstpause. "Schließen Sie sich der Dritten Macht an", sagte er.

Ich habe einmal gelesen, daß es Geräusche gibt, die so laut sind, daß man sie nicht hören kann. So müssen die ungefähr klingen. Gleichzeitig war ich weniger überrascht als ich dachte, daß ich sein sollte. "Später", hatte Singh zu Marshall gesagt.

"Was würde das heißen?" fragte ich und wunderte mich, daß meine Stimme sich nicht überschlug.

"Es würde heißen, daß Sie ins Mutantenkorps eintreten. Laut der Untersuchungen von Mr. Marshall und Dr. Manoli sind Sie eine sehr starke Antihypnotin, eine Orterin, und zumindest eine Halbtelepathin von hoher Reichweite. Sie sind intelligent, entschlossen und geistesgegenwärtig. Mr. Marshall würde Sie gerne im Mutantenkorps sehen, und ich stimme ihm zu."

"Darum ging es die ganze Zeit", sagte ich.

"Ja. Normalerweise sind wir offener zu unseren prospektiven Rekruten. Aber Ihre Fähigkeiten sind ungewöhnlich schwer zu sehen, schwer anzumessen und stark defensiv. Lassen Sie sich von Dr. Manoli erklären, was Ihre Individualschwingungen machen. Er versichert mir, es sei faszinierend.

Nehmen Sie sich drei Tage Zeit. Sie kennen bereits einige der Mitglieder des Mutantenkorps, Mr. Marshall wird Sie den anderen vorstellen. Tauschen Sie sich aus. Sie können an einem arkonidischen Hypnolehrgang teilnehmen, der für gewöhnlich die geistigen Kapazitäten eines Menschen wesentlich erhöht. In ihrem speziellen Fall kann allerdings niemand einschätzen, ob Sie einen Nutzen davon haben werden -- probieren Sie es aus. In drei Tagen beantworte ich Ihnen gerne alle Fragen, die in der Zwischenzeit aufgetreten sind, und Sie können entscheiden, ob Sie in den Dienst der Dritten Macht treten wollen, oder mit einer kleinen Entschädigung für Ihre Zeit und Ihre Mühe nach Hause fliegen."

Ich nickte, und fragte mich, ob ich mich überrollt fühlte, weil es in Rhodans Persönlichkeit lag, Leute zu überrollen, oder ob er mich zu einer Entscheidung drängen wollte, und wenn ja, zu welcher. Oder ob er einfach um halb neun einen dringenden Termin hatte und bereits zu spät dran war. Es war drei Minuten nach halb.

"Ich muß Sie um eines bitten", sagte er. "Manches, was Sie innerhalb der nächsten Tage erfahren werden, sind interne Informationen. Gehen Sie diskret damit um. Erwähnen Sie vor allem nichts gegenüber Freunden oder Bekannten, und auch nicht gegenüber Ihrer Familie. Gegenüber Mitgliedern des Mutantenkorps können Sie natürlich offen sein. Im Zweifelsfall kann Mr. Marshall Ihnen sagen, ob eine Person die nötige Sicherheitsstufe besitzt."

Als wenn ich das zu Hause jemandem erzählen könnte. Ich nickte wieder. "Verstanden. Kein Problem. Drei Tage."

"Drei Tage", sagte Rhodan und sah auf die Uhr. "Es tut mir leid, aber..."

"Ich bin schon draußen", sagte ich und ergriff das Hasenpanier.

***

Marshall saß draußen in einem der Sessel und las eine Zeitung. Ich wußte nicht, was ich zu ihm sagen sollte und sagte deswegen nichts, sondern setzte mich ebenfalls. Ein falsches Fenster zeigte einen Blick nach Osten. Ich fragte mich, ob wir unter der Erde waren.

Schließlich sah Marshall auf. "Und?" fragte er.

Als wenn er das nicht wüßte. "Sind wir mit den Tests durch?" fragte ich.

Er faltete seine Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. "Ein Feuergefecht sagt manchmal mehr als tausend Worte."

Feuergefecht. So weit waren wir also schon.

***

Mein neues Quartier ist innerhalb der Energiekuppel. Die Gebäude sind hier häßlicher, eckiger, funktionaler, es gibt weniger Grün und mehr Grau und das Gelb der ursprünglichen Wüste. Alles wird gebraucht, wird jetzt gebraucht, wird nötig gebraucht, keine Zeit, es zu renovieren, zu verschönern, neu anzulegen, und wenn neu- oder umgebaut wird ist es, um Platz zu schaffen, um neue Funktionen, neue Ämter, neue Fertigungsstraßen, neue Leute unterzubringen, und die neuen Bauten sind nicht dekorativer als die alten, nur größer, und sie haben tiefere Keller. Immerhin war es ein ehrlicher Stadtteil.

Ich bezog eine zwei-Zimmer-Suite im Quartier der Mutanten, ein erschreckend häßlicher tonnenförmiger Klotz aus Plastikbaumaterial.

"Wir nennen es den 'Bienenstock'", sagte Marshall, als wir uns dem Bau von außen näherten. "Es heißt seit Jahren, wir kriegen neue Räume, aber..."

Ich murmelte etwas von "terranianischem Lokalkolorit".

Drinnen sah es wesentlich besser aus. Im Foyer und in den Gängen hingen Kopien der Fotografien, die ich im Galactica-Museum gesehen hatte. Fremde Welten, fremde Sterne.

"Das hier sind die Originale", erklärte Marshall. "Ras Tschubai -- einer unserer Teleporter -- ist Hobbyfotograf."

"Sie waren auf all diesen Welten?" fragte ich. Baff.

"Tschubai war auf all diesen Welten. Ich war... auf einigen nicht. Und dafür auf einigen anderen. Die Bilder aus dem Familienalbum sind bei uns in der Messe." Aber er begann, von Bild zu Bild zu gehen und zu erzählen, wo die Bilder gemacht worden waren und was sie darstellten, bis wir meine Suite erreichten.

Ich warf mein Zeug aufs Sofa und betrachtete die Räume. "Wer oder was macht sauber?" fragte ich.

"Wir haben Roboter für so etwas", sagte Marshall mit todernstem Gesicht.

"Räumen die auch das Geschirr ab und beziehen die Betten?"

"Selbstverständlich."

"Was macht man eigentlich so den ganzen Tag, als Mutant?" fragte ich.

"Das hängt davon ab", erklärte er. "Die Telepathen..."

Ein Piepen unterbrach uns.

"... sind ständig gefragt", setzte Marshall seinen Satz fort und zog ein winziges Gerät aus seiner Tasche. "Wo? Ja. Hat das nicht--? In Ordnung. Ja, sofort. Eine Minute. Verbindung Ende. Verbindung aufbauen, Anne Sloane. Anne, sind Sie im Bienenstock? Können Sie sich um unseren Neuzugang kümmern, mich ruft die Pflicht. Ja, genau. Danke. Verbindung Ende."

"Tut mir fürchterlich--"

Es plöppte. Ein kleiner Japaner erschien aus dem Nichts. "Entschuldigen Sie", sagte er zu mir. "Ich muß Ihnen Mr. Marshall entführen."

Ich machte eine "nehmen Sie ihn nur"-Geste. Der Japaner griff Marshalls Hand und entplöppte in einem kurzen Windstoß. Ich setzte mich aufs Sofa und lachte. Man kann über die Terranier sagen, was man will, manchmal waren sie klasse.

***

Anne Sloane war mittelgroß, so schlank, daß sie kleiner aussah, und hatte ihre dunklen Haare aufgesteckt. Sie trug einen grünen Overall mit Erdflecken an den Knien. "Guten Morgen", sagte ich und stellte mich vor.

"Guten Morgen", sagte sie und schüttelte mir vorsichtig die Hand. "Entschuldigen Sie meine Aufmachung -- bei unserem Dienst nimmt man immer an, daß es bei jedem Anruf um Leben und Tod geht."

"Kein Problem", sagte ich. "Gibt es hier einen Garten?"

Anne lachte. "Sie werden staunen. Nachdem es nicht um Leben und Tod geht, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie einen Moment alleine lasse und mich umziehe? Mein Zimmer ist drei Türen weiter den Korridor hinunter."

"Kein Problem", sagte ich.

Die Suite hat zwei Zimmer: Ein Schlaf- und Arbeitszimmer, mit einem genügend großen Bett, Einbauschränken, einem großen Schreibtisch mit vielen Schubladen und einem hohen Regal. Kein Fenster, aber eine Bildwand, wo man unterschiedliche Umgebungen aussuchen kann. Davon geht ein Badezimmer ab, das auch keine Fenster hat, und keine Badewanne, aber eine Dusche. Dann ein Wohnzimmer mit einer Kochnische (Kühlschrank, zwei Herdplatten, winzige Spüle, Bartheke mit zwei Stühlen), Sitzgruppe, Fernseher, Radio, Visiphon mit "Haustelefon"-Modus und großem Couchtisch. Durch die Eingangstür kommt man direkt ins Wohnzimmer. Eine weitere Tür aus dem Wohnzimmer heraus war verschlossen.

Ich ging ins Schlafzimmer, begann, meine Sachen einzuräumen, und fragte mich, wie lange ich wohl hierbleiben würde.

Anne kam wieder, jetzt in Jeans und Bluse. Sie zeigte mir, wie man die Einrichtungen im Zimmer bediente, welche Schaltungen das Visiphon hatte, welche Fernseh- und Radiosender man empfangen konnte (viele!), und wie man einen Roboter rief, der einem die Bude aufräumte oder Schnittchen brachte. Wir suchten nach dem Schlüssel für die verschlossene Tür (Balkontür), fanden aber keinen. Anne meinte, daß der Hausmeister bestimmt einen hätte.

Dann führte sie mich durch den Rest des Gebäudes. Es gibt nur fünf Frauen im Mutantenkorps, die alle auf dem gleichen Flur sind wie ich. Die Männer sind in den drei Stockwerken darüber, und noch weiter oben sind Büro- und Besprechungsräume. Ein Stockwerk tiefer, im zweiten Stock, liegen Aufenthaltsräume und eine recht beeindruckende Bibliothek, darunter dann die Messe. Im Erdgeschoß ist das Foyer und, nur über eine Zugang vom Innenhof oder aus dem ersten Stock zu erreichen, ein Schwimmbad. Der Innenhof ist ein Dschungel. So wirkte es jedenfalls zuerst auf mich, eine wilde Masse von Grün und Blüten, bis Anne anfing, mir jede Pflanze mit Namen vorzustellen. Leider habe ich alles wieder vergessen, bis auf die Pfirsiche, die gerade reif waren, und ein ordentlich angelegtes Beet mit Mohrrüben, das in der gepflegten Unordnung des Gartens ausgesprochen nüchtern und unpassend wirkte. Anne lachte, als ich sie darauf ansprach. "Gucky schwört, daß sie handgezogen am besten sind. Laß' dich bloß auf keine Wette mit dem Kleinen ein, wenn du verlierst, mußt du Unkraut jäten."

Das Schwimmbad ist zum Garten hin halb offen, die Messe geht auf eine weite Veranda, die Tageslicht bekommt und an deren Rand Blumen in allen Farben blühen. Weiter nach oben sah ich, daß jedes Stockwerk einen umlaufenden Innenbalkon hatte. Manche waren unterteilt. "Die Hintertüren der Wohnungen öffnen sich auf private Balkone. Wobei hier nicht vieles wirklich privat ist, mit all den Telepathen, Teleoptikern, Teleportern und Gucky, aber wir geben uns alle große Mühe, uns anständig zu benehmen. Die Bauweise mit dem Innenhof und den Balkonen ist arkonidischen Trichterhäusern abgeguckt. Wir können einen Aufzug zum Dach nehmen, von da aus hat man einen schönen Blick über die Stadt. Allerdings wachsen da oben nur Sukkulenten, es ist einfach zu heiß und trocken."

Wir nahmen den Aufzug.

Oben trafen wir Betty, die bäuchlings auf der breiten Brüstung des Daches lag, ein Kissen unter den Ellenbogen, und las.

"Du weißt genau, daß du nicht da auf der Kante rumturnen sollst", sagte Anne.

Betty seufzte. "Erstens bin ich keine acht Jahre mehr alt, und zweitens gibt es da unten Energiefelder, die mich auffangen würden, sollte ich aus unerfindlichen Gründen tatsächlich außerstande sein, mich auf einer einen Meter breiten Mauer zu halten. Und drittens moserst du nur, weil du selber Höhenangst hast." Sie legte ihr Buch weg. "Hallo Solveig! Ich wußte gar nicht, daß du schon angekommen bist! Bist du schon länger hier? Mir sagt ja nie einer was. Wie findest du's? Wie geht's dir überhaupt? Ich habe dich ja gar nicht mehr gesehen."

"Äh", sagte ich. "Ich bin seit einer Stunde hier, es gefällt mir, und es geht mir gut."

"Oh, ich stelle zu viele Fragen, nicht wahr? Ich freue mich so, daß jemand in meinem Alter hier ist. Du glaubst nicht, wie steif und langweilig diese alten Leute sind!"

Ich sah Anne überrascht an. Auf den ersten Blick hätte ich sie auf fünfundzwanzig geschätzt, vielleicht, wenn man in Betracht zog, daß sie einen Typus und eine Figur hatte, die Leute jünger aussehen lassen, auch Ende zwanzig.

Anne warf Betty einen strengen Blick zu. "Ich bin achtunddreißig", sagte sie dann zu mir. "Von unseren zwei Halbmutanten mal abgesehen, bin ich die älteste hier."

"Um ein paar Monate", protestierte Betty. "Und du hast Ernst vergessen."

"Ernst?" fragte ich.

"Ernst Ellert", erklärte Betty. "Er ist '72 gestorben, aber nicht richtig. Er hat sich nur in der Zeit verlaufen. Ich habe '77 noch mit ihm gesprochen, sozusagen. Das ist seine Begabung, er kann aus sich herausgehen und sich andere Zeiten angucken."

"Zukünfte und Wahrscheinlichkeitslinien", erklärte Anne. "Wir hatten zu der Zeit eine Invasion von... nun, wir nannten sie 'Individualverformer', Insekten, die ihr Bewußtsein gegen das eines Menschen austauschen konnten. Wir hatten ein paar von ihnen eine Falle gestellt, und..." Sie schüttelte sich.

"Du kannst nichts dafür, Anne", sagte Betty.

"Ach? Wer dann?"

Betty zuckte die Schultern. "Scheiße passiert eben. Außerdem glaube ich, daß Ernst wiederkommt."

"Ausdrücke, junge Dame!" Anne wandte sich wieder mir zu. Betty schnitt ein Gesicht. "Jedenfalls habe ich für die Regierung der Vereinigten Staaten gearbeitet, seit ich zweiundzwanzig war, und bin dann '72 zu Rhodan übergelaufen. Das heißt, ich bin tatsächlich die dienstälteste aktive Mutantin hier."

"Blah", sagte Betty. "Ich habe auch schon '72 angefangen, also tu' nicht so wegen der fünf Jahre."

"Wie alt bist du?" fragte ich Betty interessiert.

"Siebzehn."

Ich rechnete. '72? "Du bist mit sechs Jahren ins Mutantenkorps?" fragte ich verwirrt.

Betty zuckte die Schultern. "Lange Geschichte. Anne, hast du ihr schon die Keller gezeigt?"

Wir nahmen den Aufzug nach unten. Betty hatte sich uns angeschlossen.

Im Keller gab es Sporträume. In einem davon spielten zwei Männer Tischtennis. Ich erkannte Kitai, der mir zunickte. Sein Mitspieler wurde mir als Ralf Marten vorgestellt. Einige Räume enthielten seltsames Zeug und Meßinstrumente von dem Typ, wie ich sie in den letzten Tagen oft gesehen hatte. "PSI-Trainingsräume", erklärte Anne. "Sie lassen sich mit Energiefeldern von der Außenwelt abschirmen."

"Völlig überflüssig", kommentierte Betty. "Warum soll man hier drin den dressierten Seehund geben, wenn man genausogut beim Tischtennis schummeln kann und dabei viel mehr lernt!"

"Weil jetzt schon niemand mehr mit dir Tischtennis spielt", sagte Anne. Sie suchte fünf Bälle aus einer Kiste und warf einen nach dem anderen in die Luft. Die Bälle blieben dicht unter der Decke stehen. Dann verschränkte sie die Hände auf dem Rücken. Ein Ball nach dem anderen fiel von der Decke und wurde von unsichtbaren Hängen jongliert. Betty stellte sich Anne gegenüber, und steckte die Hände in die Hosentaschen. Die Bälle kaskadierten zu ihr hinüber, rotierten, wanderten zu Anne zurück, beschrieben die Muster der klassischen Jonglierkunst, ohne daß eine der beiden Frauen einen Finger rührte. Ich war hin und weg. Schließlich nickte Anne, und die Bälle fielen, einer nach dem anderen, wieder in ihre Kiste zurück.

Ich klatschte Beifall. Betty und Anne verbeugten sich, wie es sich für Zirkuskünstler gehört. Betty strich sich verschwitzte Haarsträhnen aus der Stirn. Anne wirkte etwas unfokussiert. "Das Schwierige", sagte sie, "ist nicht das Schweben. Das Schwierige ist, es so aussehen zu lassen, als gäbe es Hände, die die Bälle werfen."

"Also, ich finde, das Schwierigste sind diese Muster", warf Betty ein, und dann mit einem Unterton von Bewunderung, "Gucky macht das mit Kampfrobotern."

Ich kriegte große Augen bei der Vorstellung.

Anne sah auf die Uhr. "Ich könnte etwas zu Essen vertragen, und es ist sowieso gleich Mittag. Gehen wir in die Messe?"

Ich nickte eifrig. Schließlich hatte ich heute schon zwei Mahlzeiten verpaßt. Wie sollte ich das wieder aufholen?

***

Die Messe war ein unregelmäßig geformter Raum. Schiebetüren aus Glas führten auf die Veranda und standen offen. Insgesamt war Platz für etwa dreißig oder vierzig Personen an kleinen Tischen, die man zusammenschieben konnte, und in Sitzecken. Eine geräumige Nische war mit einer geschwungenen Theke abgetrennt, dahinter war eine blitzblanke Küche. Neben der Theke begann eine Reihe von Schränken mit Glastüren.

"Wir haben eine Köchin, Mrs. Lamont", erklärte Anne. "Sie kommt morgens und abends rein. Da wir aber zu allen Tages- und Nachtzeiten Hunger haben, stellt sie uns immer was zu Essen in den Kühlschrank." Sie wies auf die Schränke. "Du nimmst dir, was du haben willst, stellst die Sachen in den Aufwärmer, und nach zwei Minuten kannst du's essen. Du kannst dir auch selber ein paar Eier in die Pfanne hauen, wenn du möchtest... kannst du kochen?"

Ich machte eine abwehrende Geste. "Bei mir brennt Salat an."

Betty griff sich ein Tablett, steuerte zielsicher auf einen der Kühlschränke zu und schnappte sich einen Teller mit irgend etwas Buntem. "Meins!"

Anne lachte. "Natürlich weiß Mrs. Lamont genau, wer was am liebsten mag..."

Eingedenk der Anordnung des Arztes nahm ich einen Teller von etwas, das wie Nudeln mit Gulasch aussah, und einen Teller Milchreis mit roter Grütze zum Nachtisch, dazu einen Salat und ein großes Glas mit einer Art von Joghurt-Shake. Zu meiner Überraschung war alles gefroren. Anne zeigte mir, wie man mit dem Aufwärmer umging: Zum Auftauen ins obere Fach, zum Heißmachen ins untere. Während die Uhr lief, sah ich mich noch ein bißchen um und bemerkte, daß die Wände mit Schnappschüssen dekoriert waren. Ich erkannte Anne und eine jüngere Betty auf einigen Bildern. Eine ganze Serie von Fotos zeigte Gucky tatsächlich beim Kampfroboterjonglieren. Auf einem Bild posierte der kleine Japaner, den ich am Morgen her- und wegplöppen gesehen hatte mit einem untersetzten, blauhäutigen, rothaarigen Humanoiden vor einer roten Steinstruktur.

Der Aufwärmer gab ein "Dingg!" von sich und ich ging mein Essen abholen.

"Gefällt dir unser Familienalbum?" fragte Betty, als wir es uns auf der Veranda bequem gemacht hatten.

Ich nickte. "Wer ist der Blaue?" fragte ich.

"Das ist Keháler, ein Ferrone", sagte Betty. "Vor einem Seitenflügel des Roten Palastes in Thorta, also, der Hauptstadt von Ferrol. Riesenstadt, dagegen ist Tokio ein Dorf. Vor acht Jahren griffen die Topsider, das sind so Echsenleute mit Froschgesichtern, das Wegasystem an, weil sie dachten, es sei die Erde. Wir gingen nachgucken, wurden prompt abgeschossen, weil die Topsider ein arkonidisches Schlachtschiff gestohlen hatten, und mit Hilfe der ferronischen Widerstandsbewegung klauten wir das Schiff -- die STARDUST II, hast du die schon gesehen? -- und schickten die Topsider nach Hause. Und dann--". Sie unterbrach sich. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, daß Anne die Stirn runzelte. "Naja, dann kam so eines zum anderen", sagte sie vage.

Ich nickte und fragte mich, wo eigentlich mein Buch über das Wegasystem bei all den übereilten Umzügen hingekommen war. Als ich es vor ...einer Woche? Vor zweien? im Hotel gelesen hatte, war es ein Bericht über eine fremde, phantastische Welt gewesen. Das Betty dort gewesen war und dort mit blauhäutigen Ferronen zusammen gegen froschgesichtige Echsenwesen gekämpft hatte, machte es phantastischer.

Zu meinem sechsten Geburtstag hatte mein Onkel mir einen Bildatlas geschenkt, und ich habe, glaube ich, keines meiner Kinderbücher so innig geliebt, bis es zerfleddert war wie ein alter Teddybär. Nachts, mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke, hatte ich Bilder von der Golden Gate Bridge und dem Zuckerhut, von Pinguinen und Känguruhs, der Tadsch Mahal und den Pyramiden betrachtet und hatte mir so sehr gewünscht, sie eines Tages zu sehen, daß mir die Tränen in die Augen traten. Ich würde eine Weltreisende werden, hatte ich mit sechs Jahren beschlossen.

Jetzt fühlte ich das gleiche wieder und stürzte mich in den Kampf mit meiner doppelten Portion Mittagessen, ehe ich sentimental werden konnte, während Anne und Betty anfingen, sich gegenseitig mit "weißt du noch, damals...?" zu übertreffen.

Irgendwann waren wir fertig mit Essen und stellten unsere Teller auf einen robotischen Abräumwagen, der "Hermann" genannt wurde. Betty stand auf. "Ich muß noch lernen", sagte sie. "Ich habe in zwei Wochen Prüfung. Macht keinen Mist, während ich weg bin." Sie verschwand. Zu Fuß, muß man wohl hinzufügen.

"Prüfung?" fragte ich.

"GED", sagte Anne, was mir gar nichts sagte. Sie fuhr fort, "Bettys Eltern sind gestorben, als sie noch sehr klein war. Sie ist im Mutantenkorps und bei den Manolis aufgewachsen und nie zur Schule gegangen. Doktor Manoli möchte, daß sie ihren Oberschulabschluß macht, bevor sie die volle arkonidische Hypnoaktivierung erhält, also muß sie lernen.

Anne lächelte. "Ehrlich gesagt, ich bin froh, wenn Betty jemand gleichaltrigen um sich herum hat. Sie war immer ein frühreifes Kind, sehr ernst, fast schon melancholisch. Aber in den letzten Jahren scheint sie sich Gucky als Rollenmodell genommen zu haben, und, nichts gegen Gucky, aber ein Mädchen ist nun mal kein Mausbiber."

Ich weiß doch noch nicht einmal, ob ich bleibe, wollte ich dagegen protestieren, bereits verplant zu werden, ließ es aber. Statt dessen sagte ich, "Diese Hypnoaktivierung -- Mr. Rhodan hat sie bereits erwähnt. Was ist das, und was tut es?"

"Es ist ein ...psychohypnotischer Effekt, der brachliegende Gehirnareale eines Menschen aktiviert. Daher der Name. Wie es funktioniert, weiß ich nicht, aber es hilft einem, die eigenen Psi-Kräfte besser wahrzunehmen und zu kontrollieren. Dadurch wird es möglich, sie effizienter einzusetzen und auch effizienter zu trainieren. Die meisten unserer Mutanten hat Rhodan von der Straße weg angeworben, und die wenigsten wußten mehr über ihre Fähigkeiten, als daß sie 'Glück' oder 'gute Instinkte' hatten. Rhodan hat ihnen einen achttägigen 'Schnupperkurs' und diese Aktivierung angeboten, und danach verstanden sie, was sie konnten, wie sie es einsetzen konnten, wie sie zusammenarbeiten konnten... Anders als die anderen wußte ich vorher schon, was ich konnte und hatte meine Fähigkeiten trainiert, aber nach der Aktivierung kam es mir vor, als hätte ich die ganze Zeit nur im Dunkeln getappt, und jetzt hatte jemand das Licht angemacht. Plötzlich verstand ich, was ich tat. In den acht Tagen habe ich mehr gelernt als in den fünf Jahren zuvor.

Außerdem erhöht die Aktivierung die Intelligenz um etwa dreißig bis vierzig Punkte und verbessert das Erinnerungsvermögen."

Ich dachte an das, was Rhodan gesagt hatte: 'In Ihrem speziellen Fall kann niemand einschätzen, ob Sie einen Nutzen davon haben werden...' "Mr. Rhodan hat sinngemäß gesagt, ich soll mal ausprobieren, ob es bei mir was bringt", sagte ich. "An wen wende ich mich da?"

Anne schien überrascht, dann ging ihr ein Licht auf. "Ausprobieren? Oh, natürlich, du bist Antihypnotin. Am besten sprichst du gleich heute mit Dr. Manoli. Die eigentliche Programmierung für die Aktivierung wird dann Crest durchführen... der Arkonide. Inzwischen ist er ein bißchen darüber hinweg, arkonidische Technik für 'unterentwickelte Terraner' einsetzen zu müssen. Anders als Thora..."

Ich hatte mitbekommen, daß Rhodan in dem abgestürzten arkonidischen Schiff auf dem Mond Überlebende gefunden und gerettet hatte, bevor die Machtblöcke der Erde das Schiff zerstört hatten. Genaueres wußte ich nicht. Anne erzählte mir, wer Crest und Thora waren, und daß sie recht unterschiedlich dazu standen, daß sie 'halbwilden Primitiven' in die Hände gefallen waren, die sich ihre Technik und ihr Wissen unter den Nagel rissen. Es schien, daß Crest die Sache eher pragmatisch nahm, während Thora sich gewaltig auf den Schlips getreten fühlte. "Eine fürchterliche Furie", sagte Anne verschwörerisch.

"Es gibt vier Leute im Mutantenkorps, die diese Aktivierung nicht gemacht haben", fuhr Anne fort. "Betty, weil sie zu jung war. Wenn alles gut geht, bekommt sie sie in wenigen Wochen. Gucky, weil niemand weiß, was das mit ihm anstellen würde. Tatjana Michalowna und Iwan Iwanowitsch, weil ihnen die ganze Sache unheimlich ist. Tatjana ist unsere andere Antihypnotin, also..." Sie zuckte die Schultern.

Ich trank den Rest von meinem Kaffee. "Ich glaube", sagte ich, "ich würde gerne mal mit Tatjana und Dr. Manoli sprechen. Wann erreiche ich sie am besten?"

"Am besten rufst du sie auf dem Haustelefon an und sprichst mit dem Anrufbeantworter."

Ich stand auf. "Das werde ich tun. Vielen Dank. Wir sehen uns dann wohl zum Abendessen."

***

Es war drei Uhr und mir summte der Kopf. Ich sprach mit den Anrufbeantwortern von Dr. Manoli und von Tatjana Michalowna, dann warf ich mich auf mein Bett und versuchte, die Unordnung in meinem Kopf zu sortieren. Es gelang mir nicht. Also setzte ich mich auf und schrieb Tagebuch bis zu der Stelle, wo wir in die Messe gingen (ich bin fürchterlich außer Phase), dann tat mir die Hand so weh, daß ich den Stift nicht mehr halten konnte, und ich hatte die Kaffeezeit verpaßt. Der Doc würde mir das Fell über die Ohren ziehen.

Ich ging wieder in die Messe. Mrs. Lamont war da. Sie sah aus, als sollte sie eigentlich den Blues singen, und hatte auch eine solche Stimme. Wir redeten eine Weile. Sie fand auch, daß ich zu mager war, und packte mir eine Extraportion Bratkartoffeln auf den Teller.

Ich erfuhr, daß Mrs. Lamont tatsächlich offiziell gesehen eine Halbmutantin war: sie hatte, sagte sie, das 'zweite Gesicht', leider "oder zum Glück, wenn man sieht, was dem armen Herrn Ellert passiert ist!", war ihre Gabe vollkommen unzuverlässig. Als Rhodans "Talentscouts" auf sie aufmerksam wurden, hatte sie ein Restaurant in Biloxi in Mississippi gehabt, "aber mein Mann, Gott hab' ihn selig, war kurz zuvor gestorben, und ich wurde ja auch nicht jünger, so den ganzen Tag in der Küche, und man kriegt ja einfach keine anständigen Aushilfen mehr, und meine beiden Jungs fassen keine Pfanne an, der eine in Houston und der andere ganz in Los Angeles!, deswegen dachte ich mir, na, Mutantin oder nicht, da bessere ich mir meinen Ruhestand etwas auf, und Terrania hat so ein angenehmes Klima! Aber dann sah ich diese ganzen jungen Leute, die nichts anständiges zu Essen kriegten, und Mr. Noir und ich überlegten uns, das geht so ja nicht! Mr. Noir, seine Eltern haben ja ein Restaurant in Tokio, und er hat mir dieses ganze japanische Essen gezeigt, und ich habe mir gedacht, ich lerne noch Sachen auf meine alten Tage! Dreiundsechzig war ich, als ich nach Terrania gekommen bin. Na, und wenn ich hier anfange, dümmeres Zeug zu reden als sonst, dann schneidet Hermann alles mit und schlauere Leute als ich dürfen sich den Kopf drüber zerbrechen."

Sie kochte gleichzeitig fünf verschiedene Essen, während sie redete. Marshall kam vorbei und ließ sich ein Steak mit Fritten geben, Betty winkte mir zu und kriegte Nudeln mit Tomatensoße, Kitai wollte etwas mit Fisch und Reis, das sehr gut roch, und ein Glas Wein. Ich mampfte Schellfisch und Bratkartoffeln. Jemand, den ich nicht kannte, sprach mich an: "Miß Jamieson, Sie wollten mit mir reden?" Die Stimme hatte einen Akzent, den ich nicht ganz zuordnen konnte.

Ich drehte mich um. Eine modisch gekleidete und athletische Frau mit dunkelbraunen, kurzen Haaren stand neben mir. "Miß Michalowna?" fragte ich.

"Die bin ich. Wollen wir uns vielleicht dort hinüber setzen?"

Ich nickte, ließ mir noch einen Himbeermilchshake geben (wenn das so weiterging, würde ich platzen, bevor ich zunahm) und folgte ihr zu der Sitzgruppe.

Miß Michalowna machte mich ein wenig nervös. Ich überlegte, woran das liegen könnte und stellte fest, daß sie eine wesentlich weniger deutliche... Signatur? Aura? ...was auch immer hatte. Ich konnte sie nicht so gut wahrnehmen wie andere Leute.

"Das ist interessant", sagte ich. "Schirmen Sie sich gerade ab?"

Miß Michalowna tat sich vier Stücke Zucker in ihren Tee. "Soweit ich weiß, bin ich schon abgeschirmt zur Welt gekommen. Schirmen Sie sich gerade ab?"

"Ich habe keine Ahnung", sagte ich. "Ich bin neu hier."

Sie sah für einen Moment durch mich durch. "Sie wirken nicht abgeschirmt", sagte sie. "Sie wirken, 'la-di-da, alles so schön bunt hier', und erst wenn man sich konzentriert, merkt man, daß man Ihre Gedanken nicht lesen kann."

Ich konzentrierte mich und formulierte, Verstehen Sie, was ich jetzt sage?

Ja, 'hörte' ich die Antwort. Sie sind also Halbtelepathin?

Das hat man mir gesagt. Ich weiß nur nicht, welche Hälfte.

"Offenbar die, die mit anderen Telepathen kommunizieren kann. Können Sie die Gedanken normaler Menschen lesen?"

"Nein. Ich spüre ihre Anwesenheit, ein bißchen ihre Stimmung, das ist alles. Man sagt mir, daß diese arkonidische Aktivierung mir helfen wird, meine Fähigkeiten besser zu verstehen und zu kontrollieren. Nur hat niemand eine Ahnung, ob das bei mir überhaupt funktioniert."

"Mhm. Die Aversion dagegen, sich im Kopf herumbasteln zu lassen, ist heutzutage ein zweischneidiges Schwert."

"Sie haben die Aktivierung nicht gemacht?"

"Nein. Wollen Sie?"

"Ich weiß nicht", sagte ich. "Welche Gründe außer genereller Aversion sprechen dagegen?"

Sie schüttelte den Kopf. "Keine, sagt man. Kann ich Ihnen mit noch etwas helfen?"

"Warum sind Sie ins Mutantenkorps eingetreten?"

Michalowna sah mich scharf an. "Was wissen Sie über mich?" fragte sie.

"Nichts."

"Wiedergutmachung", sagte sie. "Entschuldigen Sie mich, Miß Jamieson", und sie war weg.

Das war merkwürdig gewesen.

Ein "pfluff" auf dem Sitzkissen neben mir ließ mich aufsehen. Es war Betty. "Sie ist 'n bißchen seltsam", sagte sie. "Eigentlich will sie gar nicht hier sein, sie will ein normales Leben führen, aber Marshall hat sie so oft bekniet, noch ein Mal, und so weiter, daß sie selber nicht mehr glaubt, daß sie aufhören kann." Sie strich eines der Würfelzuckerpapiere glatt und faltete ein Schiffchen daraus. "Keiner von uns kann aufhören, genaugenommen."

"Würdest du, wenn du könntest?" fragte ich.

"Auf keinen Fall! Mein ganzes Leben auf einer Dreckkugel von Planeten zu verbringen, nicht wissen, was da draußen ist, was da draußen passiert... wozu wäre das gut? Ich würde jede Sekunde bedauern. Außerdem..." Sie starrte ins Leere. Das Schiffchen begann, über den Tisch zu segeln. "Meine Familie ist hier", sagte sie.

***

In meinem Zimmer wartete ein Anruf von Manoli auf mich, der sagte, daß ich ihn ab acht Uhr in seinem Labor in der Krankenstation des Regierungsgebäudes finden würde. Es war neun Uhr, bis ich endlich da war, und ich mußte so sehr gähnen, daß ich fast Maulsperre kriegte. Wir verabredeten uns für den nächsten Vormittag in Sachen arkonidische Geräte, seltsame Individualschwingungen und so weiter, und ich kriegte eine viertelstündige Behandlung für meine angeknacksten Knochen. Es kribbelte fürchterlich, aber ich schlief dabei trotzdem fast ein. Ich fühlte mich, als wäre ich seit zwei Tagen auf den Beinen. Im norwegischen Sumpf. Mit Gepäck. Im Regen.

Ich verdrückte noch ein Sandwich (mit Mühe) und schrieb auf, was Anne und Betty mir während des Mittagessens erzählt hatten, ehe ich das noch vergaß. Meine Hand tat nicht mehr ganz so weh. Dann beschloß ich, nicht mehr zu duschen, und fiel einfach so aufs Bett. Hoffentlich hielt mich der Putzroboter nicht für einen Haufen dreckiger Klamotten und räumte mich weg.


22. Juli

Ich erwachte am nächsten Tag auf meinem Bett, nicht auf der Wäscheleine, auch wenn meine Träume so wirr und grausig gewesen waren, daß eine Kochwäsche mit Schleudergang darin kaum aufgefallen wäre. Ich war verschwitzt und völlig verklebt. Es war neun Uhr.

Eine halbe Stunde, eine Generalreinigung und einen Satz frischer Klamotten später fühlte ich mich wieder zumindest hominid. Pflichtgemäß holte ich mir ein Sandwich und einen Pappbecher mit Kaffee, ehe ich aus dem Gebäude wetzte und den Rollsteig zum Regierungsgebäude nahm. Ich frühstückte auf dem Rollsteig und kippte mir fast den Kaffee ins Hemd. Dieses "fünf-Mahlzeiten-am-Tag"-Programm war nicht durchzuhalten. Wieso gab es eigentlich keine Nahrungspillen? Oder etwas in Tuben, das man nebenher nuckeln konnte?

***

Zum Glück hatte Manoli auch Kaffee, so daß ich meinen Koffeinhaushalt regulieren konnte, während er mir erklärte, was Individualschwingungen waren: So etwas wie ein psionischer Fingerabdruck, und gleichzeitig so etwas wie ein Codeschloß. Mit den richtigen Geräten konnte man die Individualschwingungen eines Menschen anmessen, und wenn man die hatte, war es wesentlich einfacher, seine Gedanken zu lesen oder ihn hypnotisch zu kontrollieren.

Es klang alles wie ein Haufen Hokuspokus.

Meine Schwingungen aber (und Manoli hatte die Bilder, um es zu beweisen) waren nicht stabil. Eine genaue mathematische Analyse hatte ergeben, daß es zwei verschiedenen Schwingungen waren, von denen jede für sich ganz leicht "schwamm". Die Interferenz der beiden war ein ausgesprochen kompliziertes Muster, an dem die meisten Geräte und Mutanten bereits scheiterten. Und selbst, wenn sie sich auf das Muster einstellten -- in dem Moment, wo sie eine der beiden Schwingungen modifizierten, traten völlig neue und unvorhergesehene Interferenzen auf.

"Wenn ich Sie nicht seit zwei Wochen beobachtet hätte, würde ich nach diesen Daten sagen -- und einige ihrer Psychotest-Ergebnisse würden mir recht geben -- daß Sie hochgradig schizophren sind", sagte Manoli. "In einem Ausmaß, daß Sie unmöglich funktional sein können. Da Sie aber offensichtlich nicht nur funktional sind, sondern geistig gesünder und stabiler als die Hälfte der Leute, mit denen ich tagtäglich zu tun habe, ist die naheliegende Interpretation, daß das, was wir anmessen, die Manifestation Ihrer Mutation ist.

Das hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, daß Ihr persönliches 'Weißes Rauschen' keines der typischen Merkmale eines abgeschirmten Telepathen oder Antihypnoten hat. Ein Telepath wird zwar merken, daß er Ihre Gedanken nicht lesen kann, wenn er es versucht, aber kein Meßgerät wird zeigen, daß Sie nicht denken. Dann ist der Mechanismus, so weit wir das überblicken, vollkommen automatisch. Sie müssen sich nicht konzentrieren, um ihn aufrechtzuerhalten. Ein weiterer Vorteil ist, daß sich Ihr "Fingerabdruck" permanent ändert. Ein Mutant wird Sie erkennen, da er Ihr "weißes Rauschen" und nicht den Fingerabdruck interpretiert, aber kein gewöhnlicher Schwingungsanalysator kann sie identifizieren.

Die Nachteile: Wir verwenden Individualschwingungen zur Identifizierung, zum Beispiel für Zugangsberechtigungen. Ihnen werden wir einen biometrischen Zugangscode geben. Das wird immer etwas langsamer und unsicherer sein als die Standardmethode, und Sie sollten niemanden wissen lassen, daß Sie einen biometrischen Zugang verwenden. Wenn Sie ein wenig nachdenken, können Sie sich bestimmt vorstellen, warum."

Ich stellte es mir vor und zog ein Gesicht.

"Ein weiterer Nachteil ist: Ich kann es nicht verantworten, Ihnen die volle arkonidische Aktivierung zu geben. Ich habe mit Crest darüber gesprochen, der die entsprechenden Geräte besser kennt als irgendeiner von uns, und es besteht eine geringe, aber nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, daß das Gerät Ihre interferierenden Schwingungen als einen Fehler im System betrachtet und versucht, das Schwingungsmuster zu konsolidieren. Und wenn das passiert, gibt es wiederum eine geringe, aber nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, daß ... Ihr geistiger Zustand danach mit einer naiven Interpretation unserer Meßergebnisse übereinstimmen würde."

Ich schluckte. "Oh, wow", sagte ich dann. "Verstehe ich es recht, daß Sie mir gerade gesagt haben, daß erstens mein Zugang zu Räumlichkeiten, sagen wir, des Mutantenkorps', so konfiguriert werden muß, daß ein Ganove mit meiner abgetrennten Hand hineinkommen kann, und daß die Anwendung verbreiteter hypnotischer Lernprogramme mich in den brüllenden... 'nicht-funktionalen'... Wahnsinn stürzen wird?

Und Sie glauben, daß es eine gute Idee ist, wenn ich nicht den ersten Flieger von hier weg nehme?" sagte ich fassungslos.

"Schwingungsanalysatoren für Zugangskontrollen sind eine Technologie, die sich in den nächsten Jahrzehnten zunehmend durchsetzen wird", sagte Manoli nüchtern. "Wenn Sie nicht lernen, Ihre Individualschwingungen zu kontrollieren -- es ist denkbar, daß das im Rahmen der Möglichkeiten Ihrer Mutation ist -- werden Sie dieses Problem früher oder später ohnehin haben."

Und ohne Leute, die wissen, was los ist, und wie man damit umgeht. Keiner von uns kann aufhören.

"Was den anderen Punkt Ihrer Bedenken betrifft: Der Effekt ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ist, daß die Hypnoaktivierung Ihnen nichts bringt. Im Fall eines wahrscheinlichen, aber geringen Nutzens gegenüber einem unwahrscheinlichen, aber schwerwiegenden Schadens einer Maßnahme muß ich als Arzt von dieser Maßnahme abraten. Außerdem ist dieser schädliche Effekt nur möglich, weil die Maßnahme Ihnen nützen soll. Wäre es die Intention, Ihnen zu schaden, wären Sie vermutlich immun dagegen."

"Wissen Sie das oder vermuten Sie das?"

Er seufzte, als hätte ich eine dumme Frage gestellt. Vielleicht hatte ich das. "Ich weiß", sagte er, "daß Sie exzellente Chancen haben, durch gegen Sie angewandte Psychotechnik keinen Schaden zu nehmen. Das ist mehr als ich über etwa fünf Milliarden Menschen auf diesem Planeten sagen kann. Ich vermute, daß Sie auf diesem Gebiet nichts zu fürchten haben, außer Wesen mit hochstehender Technologie, die nur Ihr Bestes wollen. Ich kann Ihnen versichern, daß nach unserem bisherigem Wissenstand diese Kombination von Eigenschaften in der Galaxis extrem selten ist."

Fast wider Willen mußte ich lachen.

"Was ich Ihnen vorschlagen möchte", fuhr Manoli fort, "oder genauer gesagt, was Crest in Bezug auf Ihren Fall vorgeschlagen hat, ist, daß wir ein modifiziertes Programm verwenden. Wir versuchen, zuerst den Teil Ihres Gehirns zu aktivieren, der notwendig ist, um arkonidische Hypnoschulungen aufnehmen zu können. Dabei arbeiten wir mit einer strikten Sicherheitsschaltung. Sollte das gelingen, erhalten Sie als nächstes eine Hypnoschulung in Interkosmo, der Lingua Franca im Einflußbereich des arkonidischen Imperiums. Trotz des gleichen Namens verwendet dieser Prozeß wesentlich andere Mechanismen als ein Psychostrahler. Erst wenn wir die Ergebnisse und die Rückmeldungen dieser beiden Prozesse ausgewertet haben, entscheiden wir, ob wir weitere Modifikationen riskieren können, und wenn ja, welche. Sind Sie damit einverstanden?"

Ich tat so, als würde ich überlegen, was natürlich völlig albern war, da ich nicht genug von arkonidischer Mental- und Hypnotechnik verstand, um eine qualifizierte Meinung zu haben. Also hatte ich statt dessen eine unqualifizierte, die so ungefähr sagte, daß, wenn alle anderen die volle Aktivierung gekriegt hatten, ich besser zusehen sollte, wo ich blieb, wenn ich nicht als der letzte Dorfdepp enden wollte. "Einverstanden", sagte ich.

***

Crest war sehr groß, sehr dünn, und hatte rote Augen und weiße Haare, aber eine normale Gesichtsfarbe. Nicht besonders außerirdisch. Er erklärte mir noch einmal sehr geduldig, was sie alles machten, und erhöhte meine Entschlossenheit, alles Nötige zu tun, um ein bißchen schlauer zu werden: Ich verstand nämlich gar nichts.

"Sehr gut", sagte er schließlich. "Bitte kommen Sie mit. Und fürchten Sie sich nicht vor dem Gerät... Wie ich Mr. Bull schon sagte, wird es Ihnen keinen elektrischen Schlag versetzen."

Ich verstand den Witz, als ich das Gerät sah. Es sah wirklich aus wie ein elektrischer Stuhl auf alten Bildern, und ich spürte einen plötzlichen und tiefgreifenden Mangel an Urvertrauen. Also biß ich die Zähne zusammen -- wenn das hier nur ein sehr langer und elaborierter Witz auf meine Kosten war, konnte ich nicht viel dagegen machen -- und nahm auf dem Teil Platz. Ich kriegte noch mit, wie Manoli den Kopf schüttelte und sagte, "Crest, wir sollten wirklich über ein anderes Äußeres für dieses Gerät nachdenken", dann fiel ich in eine amorphe, von Blitzen durchzogene Wolke aus Seltsamkeit.

Nikki hat eine ältere Schwester, Xenia, die nach unser aller unmaßgeblichen Meinung vergessen hat, "hier" zu schreien, als Gott den gesunden Menschenverstand verteilt hat. Sie glaubt jeden Mist und hängt mit den durchgeknalltesten und abgewracktesten Typen rum, die man sich vorstellen kann. Einer von ihren Freunden hatte uns, als wir sechzehn waren, von den Wundern des LSD-Konsums vorgeschwärmt, alles "Bewußtseinserweiterung" und "Durchbrechen der Grenzen der Wahrnehmung", und allen möglichen Blödsinn. Eine Woche später hatte Xenia uns zur Hilfe gerufen, weil der Kerl wohl auf einen schlechten Trip gekommen war und wirres Zeug lallend über den Boden rollte und versuchte, sich vor den Straßenlaternen zu verstecken, die ihn verfolgten. Wir stellten ihn irgendwie ruhig, bevor die Nachbarn die Polizei holten, und sie gab ihm ein paar Tage später den Laufpaß, um nach Indien zu trampen und sich einem Guru anzuschließen.

Jedenfalls, was immer der Typ gesucht hatte, das hier war der wahre Jakob, und es war gruselig genug, daß die Vorstellung, von Straßenlaternen verfolgt zu werden, dagegen ein Dreck ist. Ich konnte sehen, wie die Dinger mein Gehirn in Scheiben schnitten. Ich konnte es spüren, in einer völligen Verwirrung aller Sinne, einem vierdimensionalen Escher-Bild aus farbigen Tönen. Ich kann es nicht wirklich beschreiben, und genaugenommen will ich das auch gar nicht.

Irgendwann wurde es um mich herum aufgeräumter, nur mein Rückenmark hing noch heraus und ein kleiner Affe schwang daran wie an einer Liane und sagte, "Sicherheitsabschaltung... Si- si- Sicherhei-hei-heits aaaaabschaaaaaaaaa...."

Der Raum faltete sich zusammen und rekonstituierte sich in drei halbwegs vertrauten Dimensionen. Manoli klebte ein Injektionspflaster auf meinen Unterarm. Crest sah verwirrt und ein bißchen unscharf aus. Der Affe hatte mein Rückenmark wieder dahin gestopft, wo es hingehörte, aber mein Kopf fühlte sich an wie mindestens vier Caipirinhas vom Vortag.

"Ausgesprochen interessant", sagte Crest.

Ich versuchte, ihn anzufunkeln, aber da meine Augen noch in zwei verschiedene Richtungen guckten, führte das nur dazu, daß mir schwindlig wurde. Ich schloß die Augen.

"Wie ist es gelaufen?", fragte ich.

Manoli sagte: "Möchten Sie sich hinlegen?"

"Ich möchte ein Glas Wasser", sagte ich und versuchte, mich aus dem Stuhl zu heben. Crest, der stärker war, als er aussah, fing mich auf und dirigierte mich in Richtung einer Liege im hinteren Teil des Raumes. Manoli erschien mit einem Glas Wasser.

"Wie fühlen Sie sich?"

"Es geht", sagte ich. "Etwas schwindlig."

"Die Sicherheitsabschaltung hat sich aktiviert, als der Prozeß zu etwa achtzig Prozent komplett war. Ohne einen genaueren Blick auf die Protokolle zu werfen, kann ich nicht sagen, wodurch sie ausgelöst wurde."

"Kumulativer Streß", warf Crest ein. "Ihre Mentalstruktur wehrt sich automatisch gegen jeden Eingriff in Ihre Bewußtseinsintegrität, sogar eine, die von Ihrem Willen als positiv und gewünscht eingeordnet wird. Die Belastung hat zu einem kleinen mentalen Kollaps geführt. Die Aktivierung selber sollte davon nicht tangiert werden."

"Sehr beruhigend." Ich wußte nicht, ob ich die Traute haben würde, das noch mal zu machen.

"Ich habe Ihnen ein Beruhigungsmittel gegeben", sagte Manoli. "Sie sollten sich ein bißchen ausruhen, während wir die Protokolle auswerten."

Mir graute vor der Antwort, und trotzdem fragte ich, "Machen wir weiter?"

"Wollen Sie das?"

Wieso schob er mir den Schwarzen Peter zu? "Können wir weitermachen?" formulierte ich die Frage um.

Es war Crest, der antwortete. "Vermutlich ja. Idiosynkratische Reaktionen sind uns nicht völlig unbekannt... tatsächlich, Doktor Manoli, ist es sehr überraschend, daß bis jetzt keiner Ihrer Terraner eine averse Reaktion gegen diesen auf den arkonidischen Geist abgestimmten Aktivierungsprozeß gezeigt hat! Wenn Miß Jamieson willens ist, können wir in wenigen Stunden mit einem besser abgestimmten Programm fortfahren."

Ich nickte vorsichtig. Mein Kopf brummte immer noch.

"Ich rufe Ihnen einen meiner Assistenten", sagte Manoli. "Er soll Sie in ein Taxi setzen. Solange Ihnen schwindlig ist, sollten Sie auf keine Fall die Laufsteige verwenden. Es ist jetzt..." Er sah auf die Uhr. "Oh, schon zwölf Uhr durch. Kommen Sie um drei Uhr nachmittags wieder, in Ordnung? Rufen Sie mich an, wenn sie noch Fragen haben."

"Eine Frage habe ich", sagte ich, und sah von Manoli zu Crest und zurück. "Was passiert, wenn wir an diesem Punkt abbrechen?"

"Vollständig abbrechen?" fragte Manoli.

Crest sagte: "In diesem Fall können Sie vermutlich mit einer geringen, aber permanenten Steigerung Ihrer Gedächtnisleistung und Ihrer Fähigkeit, Details zu verarbeiten, rechnen. Mit einer Intelligenzsteigerung ist nicht zu rechnen. Ob Ihnen die bisherige Aktivierungsstufe ausreicht, um Ihre Mutation besser kontrollierbar zu machen, kann ich ohne weiteres nicht sagen. Wir wissen zu wenig über diese geistigen Fähigkeiten."

"Danke", sagte ich, dann erschien der Assistent und hielt mich davon ab, beim Hinausgehen gegen Wände zu laufen oder in irgendwelche Tröge in Laboren zu fallen.

Draußen erschien mir alles ein bißchen bunter und intensiver als es sein sollte, aber das konnte der Streß oder mein verwirrter mentaler Zustand sein. Ich hatte keine Lust, mit irgend jemandem zu reden, deswegen ließ ich das Taxi an einer Straßenecke mit einem Imbiß und einem Kiosk auf mich warten, während ich zwei Dosen Cola, ein paar Schokoriegel und ein Take-away Curry mit extra Reis holte, und schlich mich im "Bienenkorb" direkt in mein Zimmer.

Das war jedenfalls eine interessante Erfahrung.

Gerade habe ich alles aufgeschrieben, was seit gestern abend passiert ist. Erinnere ich mich besser? Erinnere ich mich besser an Sachen, die nach der Aktivierung passiert sind als an Sachen, die vorher waren? Ich glaube nicht, aber ich bin nicht sicher. Will ich wirklich weitermachen? Wenn ich in zwei Tagen Rhodan sage, "danke, aber nein, danke", brauche ich keine arkonidischen LSD-Trips. Aber werde ich ihm das sagen?

Ohne Zweifel ist sein Laden bunt und interessant, und es gibt nette Leute hier. Aber das sollte nicht alles sein, wonach ich meine Entscheidungen treffe. Ist es das, was ich tun will: In Terrania bleiben? Vor zwei Wochen war es ein Gedanke, um damit zu spielen, ein Hirngespinst. Jetzt ist es ein Angebot. Ja, die Zukunft findet in Terrania statt. Aber ist es eine Zukunft, an der ich teilhaben will? Und zu welchem Preis?

***

OK, gleich halb drei. Ich werde gleich aufstehen, wieder zu Manolis Labor fahren, und das noch mal machen. Und dann vielleicht noch mal. Oh mein Gott. Ich weiß nicht, ob ich das kann.

Ich könnte einfach nicht hingehen.

Halb drei durch, nachdem ich eine Weile den letzten Satz angestarrt habe.

Ich könnte einfach nicht hingehen. Ich könnte aufstehen, zum Visiphon gehen und Manoli anrufen und ihm sagen, daß ich mich dagegen entschieden habe, weiterzumachen.

***

Ich stand auf, ging zur Tür, in den Korridor, durch das Foyer und durch die Eingangstür auf die Straße und auf den schnellsten der Laufsteige, hielt mich am Geländer fest und hatte das Gefühl, ich müßte in den Fahrtwind schreien. Der Laufsteig trug mich mit vierzehn Metern pro Sekunde auf Manolis Labor zu. Ich verließ den Laufsteig am Regierungsgebäude, ehe die Idee, daß ich stehenbleiben könnte und den Nachmittag lang Runden durch die Stadt zu drehen, mit nur dem Wind zur Gesellschaft, von meinem Gehirn in meinen Beinen angekommen war. Ich ging die gerade Auffahrt zu der Tür in einem Flügel des Regierungsgebäudes hinauf und schloß die Augen, als ich durch die Tür trat, damit ich nicht den letzten Moment wahrnahm, wo ich mich noch hätte umdrehen und weglaufen können. All die kleinen Tricks.

Manoli und Crest begrüßten mich, als wäre nichts und erzählten mir Sachen, die ich nicht verstand. Ich nahm unter der Maschine Platz als wäre nichts. Vielleicht war es diesmal besser.

Es war anders.

***

Ich hätte das Curry nicht essen sollen. Mein Magen krempelte sich auf links, als sie fertig waren, ich hatte nicht einmal mehr Zeit, auch nur den Papierkorb zu erreichen, und schaffte es nicht, mehr zu sagen als, "tut mir leid, tut mir leid", während ich versuchte, meinem Magen zu erklären, daß er aufgeben könnte, alles, was er in den letzten zwölf Stunden gekriegt hatte, war jetzt draußen. So würde das nie was werden mit dem Zunehmen. Manoli rief einen Roboter, der saubermachte. Ich hockte auf der Liege und nippte an einem Glas Wasser. "Tut mir leid", sagte ich wieder.

"Können Sie mich verstehen?" fragte Crest

Ich lauschte den Lauten nach. "Das ist Interkosmo?" fragte ich. Meine Zunge fiel ein bißchen über die ungewohnten Bewegungen.

"Sie haben einen terranischen Akzent."

Ich zuckte die Schultern. Gib mir fünf Minuten, und ich werde anfangen zu überlegen, ob mich das kümmert.

"Galtrans Syndrom", sagte Crest. Er klang nicht unzufrieden.

Manoli sah zweifelnd aus. "Sie sagten, das sei auf eine arkonidische Familie beschränkt."

"Jetzt nicht mehr. Fragen Sie mich nicht, wie das möglich ist. Seit ich auf Terra bin, sehe ich ständig Dinge, die nicht möglich sind." Er wandte sich an mich. "Arkon verwendet diese Psychotechnik, die weit über das hinausgeht, was Terraner vor fünfzehn Jahren für möglich hielten, seit Tausenden von Jahren. Es ist eine ausgereifte, standardisierte und fehlerfreie Technik. Wenn sie nur selten Abkömmlingen der Kolonialvölker oder nicht-reinblütigen Arkoniden zur Verfügung gestellt wurde, hatte das politische und ...psychologische Gründe, keine technischen. Es gibt eine kleine Gruppe von bekannten Unverträglichkeiten oder untypischen Reaktionen. Eine davon ist in den arkonidischen Wissensspeichern unter dem Namen 'Galtrans Syndrom' abgelegt.

Galtran war eine alte arkonidische Familie. Sie brachte brillante Raumschiffkapitäne hervor, Strategen, Entdecker und Dichter. Das war zu einer Zeit vor ungefähr zweitausend Jahren, als bereits jeder hochrangige Arkonide bei seiner Volljährigkeit die gleiche Aktivierung erhielt, die wir jetzt auf Bitten von Mr. Rhodan ausgewählten Terranern zur Verfügung stellen. In der Familie Galtran trat gelegentlich eine Art erblicher Mutation auf, die eine Unverträglichkeit gegenüber der Aktivierung mit sich brachte, und ohne Sie mit den technischen Details zu verwirren, entspricht Ihre Reaktion fast genau Galtrans Syndrom. Es würde mich brennend interessieren, wie das möglich ist... Wie genau kennen Sie ihre Abstammung?"

"Genau genug", sagte ich pikiert.

Manoli machte eine Geste in Crests Richtung, die ich nicht ganz interpretieren konnte.

"Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Was Galtrans Syndrom bewirkt ist: Es verhindert, daß Ihre bewußte Wahrnehmung während einer hypnotischen Aktivierung oder Schulung ausgeschaltet wird. Und während die Schulungen erwartungsgemäß funktionieren und auch die erwartete Wirkung zeigen, ist es die Wahrnehmung dieser Prozesse, für die Ihnen jegliches Referenzsystem fehlt, und die Sie deswegen mental überfordert. Es sollte Ihnen möglich sein, durch Training entweder ein mentales Referenzsystem zu entwickeln, das Ihnen hilft, diese Eindrücke zu verarbeiten, oder zu lernen, die Eindrücke zu ignorieren. Bis dahin sollten Sie Hypnoschulungen sparsam einsetzen. Von weiteren Aktivierungsprogrammen würde ich fürs Erste dringend abraten. Vielleicht können wir in zehn Jahren Ihre Reaktionen re-evaluieren."

Zehn Jahre! "Was heißt 'sparsam'?" fragte ich, bemüht, trockene Fakten zu bekommen.

"Nicht mehr als ein Kurs die Woche, und nicht für länger als eine Stunde. Meiden Sie Intensivkurse. Es wäre ideal, wenn Sie den Stoff eines Kurses einen Tag vor- und drei Tage nachbereiten, um Ihrem Gehirn die Integration des Wissens zu erleichtern -- es kann sonst passieren, daß das Wissen unzureichend erhalten bleibt. Zum Beispiel sollten Sie in den nächsten Tagen Interkosmo intensiv anwenden. Kurse, die nicht Wissen, sondern Fertigkeiten vermitteln, sollten Sie nur unter der Aufsicht eines Arztes oder Wissenschaftlers machen, der mit Ihren Reaktionen vertraut ist. Das wären derzeit Dr. Manoli und ich."

Manoli blickte skeptisch. "Aber wird sie..." sagte er auf Interkosmo und unterbrach sich, als ich ihn ansah.

Crest antwortete nicht ihm, sondern mir. "Machen Sie sich keine Sorgen. Galtrans Syndrom hat die betroffenen Mitglieder der Familie nie davon abgehalten, brillant zu sein."

Ich war noch zu hin, um zu entscheiden, ob er so herablassend war, wie er sich anhörte.

***

Ich fror fürchterlich, und die Hitze draußen war angenehm. In meinem Rucksack fand ich meinen Walkman und eine Kassette, die in Nikkis Handschrift mit "Mystery Tape" beschriftet war. Ich schob mir die Kopfhörer über die Ohren, drehte die Lautstärke auf und überließ mich dem Sound.

Der Laufsteig trug mich zu einer der Schleusen, wo man das Regierungsviertel verlassen konnte. Ich tat das und mußte meinen Schein für den Paralysator vorzeigen.

Terrania-Stadt war schön und lebendig und voll und weitgehend frei von Uniformierten, und für das Gemüt mindestens so gut wie C-Dur und 4/4-Takt. Ich ließ meine Beine laufen, wohin sie wollten und dachte an alles mögliche.

Gegen Abend bekam ich fürchterlichen Hunger und Durst und stellte ich fest, daß ich gerade noch zwei Dollar in der Tasche hatte. Ich holte mir am nächsten Kiosk eine Flasche Mineralwasser und macht mich auf den Rückweg.

***

Betty empfing mich im Foyer. "Da bist du ja endlich! Wo warst du den ganzen Tag?"

"In Manolis Labor", sagte ich. "Und dann in der Stadt. Könntest du Interkosmo mit mir reden, ich soll üben."

Betty wechselte die Sprache ohne Probleme. "Klar. Und, ist diese Aktivierung so erleuchtend, wie alle behaupten?"

"Keine Ahnung", sagte ich. "Ich scheine eine seltene Unverträglichkeit zu haben, für mich war es wie ein schlechter..." -- wenn es ein Interkosmo-Wort für LSD gab, hatte es mir keiner gesagt -- "Drogentrip. Wenigstens ist ein bißchen was hängengeblieben."

"Deswegen hast du so einen komischen Akzent! Unverträglichkeit? Oh mein Gott, ich hoffe, ich habe keine!"

"Selten", betonte ich.

"Na und? Telepathin und Telekinetin zu sein ist auch selten!"

***

Wir gingen zur Messe. Es waren ein paar mehr Leute da als am Vortag. Ich erkannte Ishi Matsu und André Noir, die an einem Tisch mit Gucky saßen. Mrs. Lamont begrüßte mich herzlich und gab mir eine extra große Portion Lasagne und Tiramisu. Wir hatten gerade angefangen zu essen, als Anne sich zu uns setzte.

"Meine Güte", sagte sie zu mir. "Wie kannst du so viel essen und so dünn sein?"

"Das Privileg der Jugend", kam Betty mir zuvor. "Sprich Interkosmo mit ihr, sie muß üben."

Bettys Antwort hatte mich an eine Frage erinnert, die ich am Tag zuvor nicht gestellt hatte. "Wer sind eigentlich die Halbmutanten?" fragte ich. "Mrs. Lamont, aber wer noch?"

"Homer G. Adams und Allan D. Mercant", informierte mich Anne.

Ich versuchte, die Namen einzuordnen. "Der Chef der GCC und... wer?"

"Der Finanzminister der Dritten Macht und der Chef der International Intelligence Agency."

"Aha", sagte ich. Es gab eine 'International Intelligence Agency' und ihr Chef war bei der Dritten Macht? Und der Boß der GCC war hier Finanzminister? Was für ein Geklungel! "Und inwiefern Halbmutanten? Oder, inwiefern nicht?"

"Wie Mrs. Lamont haben die beiden Begabungen, die sie nur bedingt gezielt einsetzen können. Adams hat ein fotografisches Gedächtnis, und Mercant ist ein Halbtelepath -- er spürt die Intentionen von Menschen und hat einen sehr ausgeprägten sechsten Sinn, aber er kann keine Gedanken lesen."

Ich stocherte in meiner Lasagne herum. Wenn das die Maßstäbe waren, klang es so, als wäre ich Dreiviertelmutantin. Vielleicht sollte ich kochen lernen. Gab es Extraprozente für einen altarkonidischen Familienfluch?

"Einen Nickel für deine Gedanken", sagte Betty und kicherte. "Das wollte ich immer schon mal zu jemandem sagen."

"Ist vielleicht eine blöde Frage", sagte ich, "aber was macht ihr eigentlich? Ich meine, so den ganzen Tag?"

"Mhm". Anne wickelte ein widerspenstiges Salatblatt telekinetisch um ihre Gabel, ohne hinzusehen. "Womit wir unsere Arbeitszeit verbringen, hängt stark davon ab, was wir können. Die Telepathen sind immer ziemlich beschäftigt, viel im Sicherheitsbereich. Das wäre ein lange Liste. Mutanten mit Sonderfertigkeiten wie Frequenzsehen oder Spähen arbeiten oft in wichtigen technischen Projekten mit. Telekineten und Teleporter werden nur selten gebraucht, aber wenn dann meistens schnell und dringend, vor allem in der Katastrophenhilfe. Mein letzter Einsatz bestand darin, einen vom Hochwasser unterspülten Damm in China lange genug zusammenzuhalten, bis schweres Gerät vor Ort gebracht werden konnte. Ras Tschubai, einer unserer Teleporter--"

Ich nickte. "Der Hobbyphotograph."

"Ja, genau. Er hat mich dort abgesetzt, zwei Minuten, nachdem wir den Notruf bekommen hatten, und dann Leute evakuiert, die auf einer vom Land abgeschnittenen Brücke gefangen waren. Wegen solcher Fälle haben wir feste Bereitschaftszeiten. Die Teleporter können natürlich hingehen, wo sie möchten -- solange sie ihre Pieper mitnehmen. Und dann gibt es Leute wie Iwan Iwanowitsch, oder Mrs. Lamont, deren Fähigkeiten einen so eng beschränkten Einsatzbereich haben, daß sie tun können, was sie wollen. Iwan Iwanowitsch angelt und denkt über den Lauf der Welt nach, und Mrs. Lamont kocht."

"Und manchmal", ergänzte Betty, "gibt es einen Einsatz und wir stürzen alle in die Boote und tun, was wir am besten können: Außerirdische verwirren." Sie lachte. "Mein Gott! Wenn ich daran denke, was wir mit diesen armen Topsidern angestellt haben!"

"Diese 'armen' Topsider waren dabei, ein wehrloses Planetensystem zu okkupieren!" betonte Anne.

"Klar, aber nachdem ihr General umherflog und krähte wie ein Gockel, und sein Nachfolger in einer Direktübertragung dem Despoten aller Topsider revolutionäre Parolen um die Ohren haute, konnten einem die Kerle schon leid tun. Die konnten sich zu Hause nie wieder sehen lassen." Betty kratzte nachdenklich das letzte Tiramisu von ihrem Teller.

"Was heißt, 'nie wieder sehen lassen'?", fragte ich.

"Topsid ist eine Militärdiktatur", erklärte Anne. "Der Despot läßt Aufrührer und 'Unfähige' erschießen."

"Die armen Schweine", sagte ich.

"Bedaure sie nicht mehr als nötig", sagte Anne. "Sie hätten die Ferronen unterjocht, wenn wir sie gelassen hätten, die Erde zerstört, wenn sie sie gefunden hätten, und den Hauptplaneten des Wegasystems mit Arkonbomben in eine Gaswolke verwandelt, wenn wir sie nicht davon abgehalten hätten."

Ich nickte etwas fassungslos und wechselte irgendwie das Thema.

***

Wegen meiner Knochen mußte ich noch mal in die Klinik. Die Sonne war untergegangen und es wurde sehr schnell kalt. Der Himmel war sternklar. Als ich zurückkam, fror ich wieder. Ich genehmigte mir einen heißen Kakao, rief Marschall an, ob er am nächsten Tag Zeit für mich hätte (am Abend, sagte er), und spielte mit meinem einstellbaren Schlafzimmerfenster herum, bis ich die Bergkette fand, die ich vom Hotel aus gesehen hatte. Auf dem Bild ist es Nacht. Einen orangeroten Stern, der dicht über der Bergkette stand, hielt ich zuerst für den Mars, dann erkannte ich das Sternbild des Skorpions: Antares. Ich war nie weit genug südlich gewesen, um ihn so gut zu sehen. Das Bild bewegt sich übrigens, ich habe jetzt eine Weile geschrieben, und die Sterne über der Bergkette haben ihre Position geändert. Ich frage mich, ob auf diesem Bild morgen früh die Sonne aufgehen wird. Ich frage mich, ob Antares Planeten hat, ob diese Bewohner haben, und ob diese in den Himmel gucken und unsere Sonne sehen können. Daß das Universum nicht leer ist, daß wir nicht allein sind, fühlt sich ungeheuer richtig an. Daß die "anderen" uns erobern oder umbringen wollen, ist natürlich nicht so toll, aber wenigstens nicht überraschend.


23. Juli

Ich schlief mit dem beruhigenden Gefühl ein, daß alles irgendwie in Ordnung war mit der Welt und hatte fürchterliche Alpträume, in denen Riesenfrösche versuchten, mit meinem abgetrennten Kopf ein Schloß zu öffnen, das aus irgendwelchen Gründen aus mehreren zitternden Wellenlinien in einem Oszillographen bestand. Die Linien tanzten umeinander und schnatterten. Wenn die Linie sich stabilisierte, würde ich den Verstand verlieren. Ich versuchte, zu schreien, aber weil ich keine Lungen hatte, hatte ich nicht genug Luft dazu.

Ich wachte auf, nach Luft schnappend, und sah das erste Morgenlicht auf den schneebedeckten Gipfeln der Bergkette. Ich wollte das Fenster aufmachen, ehe mir einfiel, daß ich in Terrania war und das Bild eine bessere Fototapete. Also drehte ich mich um, schlief wieder ein und träumte zum Glück nichts mehr. Mein Unterbewußtsein muß zur Zeit ziemlich überfordert sein.

Ich frühstückte ausgiebig und ging dann in die Bibliothek, der ich schon die ganze Zeit einen Besuch abstatten wollte. Ich suchte Dokumentation über die Geschichte der Dritten Macht, und hoffte, daß ich hier mehr finden würde als das, was in den offiziellen Berichten stand. In der Bibliothek saß ein fast drei Meter großer Kerl mit grüner Haut und zwei Köpfen und las einen dicken Schmöker. Ich dachte zuerst, er wäre ein Außerirdischer wie Gucky, aber er stellte sich (nach kurzer Diskussion zwischen seinen beiden Köpfen) als "Iwan Iwanowitsch Goratschin" vor.

"Ach", sagte ich überrascht. "Betty sagte, Sie wären beim Angeln!"

Wir redeten ein bißchen über nichts im Besonderen, und er half mir, Zugang zu dem Rechnersystem zu bekommen, das die Daten enthielt, die ich suchte.

***

Es war ausgesprochen lehrreich. Ich erfuhr, was Tatjana mit "Wiedergutmachung" gemeint hatte, wie Bettys Vater gestorben war, warum Antihypnoten so beliebt waren, und daß Adams im Auftrag der Dritten Macht den Börsenkrach von 1972 inszeniert hatte, bei dem meine Großmutter ihr Haus verloren hatte. Ich erfuhr, wie Rhodan die Ferronen dazu erpreßt hatte, terranische Militär- und Handelsstützpunkte in ihrem System zu dulden, und daß Rhodan von seiner "Dritten Macht" bereits als einem "Terranischen Imperium" dachte. Ich erfuhr, daß in den letzten zwölf Jahren vier raumfahrende Spezies und ein Mutant, der sich für einen James-Bond-Schurken hielt, versucht hatten, die Erde zu erobern oder zu zerstören (und dabei war das Rumspielen der drei Supermächte mit ihren roten Knöpfen noch nicht eingerechnet). Ich erfuhr, daß Iwan Iwanowitsch jegliches organische Material zur Explosion bringen konnte, und daß der nette Mr. Noir einen galaktischen Händler dazu gebracht hatte, sein Schiff mit Mann und Maus in eine Sonne zu steuern.

Betty kam, um mich zum Mittagessen abzuholen. Beim Essen stellte sie mir Fragen darüber, wo ich zur Schule gegangen wäre und wie das gewesen wäre, welche Fächer ich gemocht hätte, was in meiner Abschlußprüfung drangekommen wäre und ob ich das schwierig gefunden hätte. Ob ich Freunde gehabt hätte, ob ich "einen Freund" gehabt hätte, und wie das gewesen wäre.

Ich revanchierte mich mit Fragen über Astronautenausbildung: Wer konnte alles Raumfahrer werden, und wie lief das ab? Aber darüber wußte Betty nicht viel.

Ich verzog mich wieder in die Bibliothek. Raumfahrer wurden an der Kosmonautenschule in Moskau und an der Space Academy in Nevada Fields ausgebildet. Um sich an der Space Academy in Terrania zu bewerben, mußte man bereits ein Studium abgeschlossen haben. Es gab Ärztinnen bei der Raumflotte, und Molekularbiologinnen. Biologie war immer mein drittschlechtestes Fach gewesen. (Die schlechtesten waren Kunst und Hauswirtschaftslehre.) Alle drei Schulen nahmen für ihre wissenschaftlichen Zweige nur die besten Bewerber, einen von hundert, hieß es. Die terranischen Raumschiffe flogen mit einer minimalen Besatzung, die mit Hypnoschulungen auf ihre Aufgaben vorbereitet wurde.

Die Geschichte der Dritten Macht hatte von 1976 bis 1980 eine Lücke. Es fiel nur auf, wenn man genauer hinguckte, denn natürlich war Terrania dagewesen und war gewachsen, Verhandlungen mit den Weltmächten waren geführt worden, Schiffe gebaut und Patrouillen geflogen. Aber weder Rhodan, noch Bull, noch irgendein Mitglied des ursprünglichen Mutantenkorps hatte zu der Zeit auch nur einen Pieps von sich gegeben. Für vier Jahre waren sie aus der Geschichte verschwunden, und als ich genauer nachforschte, landete ich bei einem "Zugriff auf die Daten verweigert".

Es war fünf Uhr. Um acht hatte ich mein Gespräch mit Marshall. Morgen vormittag wollte Rhodan eine Antwort von mir.

In meinem Zimmer stand die Sonne über den Bergen. Ich wählte an dem Visiphon Cecils Nummer, aber legte auf, bevor jemand sich meldete. Es gab nichts, was ich Cecil sagen konnte. Ich rief Lissa an, und bekam natürlich kein Bild.

"Hier ist Solveig", sagte ich, und sie sagte, "Solveig! Du hast dich ewig nicht mehr gemeldet! Wo um alles in der Welt steckst du?", und ich erinnerte mich, daß Rhodan von "Geheimhaltung" gesprochen hatte und fragte mich, ob das Gespräch abgehört wurde.

"Ich bin immer noch in Terrania", sagte ich, hörte mich weiterreden, hörte, wie ich meiner besten Freundin Märchen erzählte.

"Wann kommst du zurück?" fragte sie.

"Vielleicht übermorgen", sagte ich leichthin, und dann, "vielleicht auch nicht. Ich melde mich wieder."

"Bist du in Schwierigkeiten?"

"Ich?" sagte ich, ironisch-empört. "Du verwechselst mich mit jemandem. Wann komme ich denn schon mal in Schwierigkeiten?"

"Ein drohender Rausschmiß und ein halbes Jahr beim Schulpsychologen?"

Ich schnitt eine Grimasse, die sie nicht sehen konnte. "Das war es wert", sagte ich. "Außerdem ist das lange her!" Drei Jahre. Dreieinhalb.

"Ich mein' ja nur."

"Was macht Nikki?"

"Hat sich kurzfristig entschlossen, ein soziales Jahr zu machen. In Mexiko."

"Meine Güte. Ist er schon weg?"

"Im Moment ist er auf einem Vorbereitungsseminar in Kopenhagen. Es ist todlangweilig ohne euch beide. Ich lese und schlafe und verstecke mich vor meiner Mutter, die will, daß ich ihr helfe, die oberen Zimmer zu renovieren. Soll ich deinen Eltern sagen, daß du übermorgen zurückkommst?"

"Nein! Ich meine, äh, sag' Ihnen, daß es mir gut geht. Und daß es in Terrania keine Postkarten gibt. Und daß ich mich melde."

"In Ordnung. Und dann erfahre ich, was los ist?"

Ich überlegte kurz, abzustreiten, daß etwas los war, und entschied, daß das keinen Sinn hatte. "Ja."

***

Ich ließ mir mein Abendessen aufs Zimmer kommen und versuchte, eine Einführung in die Kosmonavigation zu verstehen. "Mathematik beruhigt das Gemüt", hatte Blümchen, unsere Mathelehrerin, immer gerne gesagt. Wie recht sie hatte.

Und jetzt versuche ich, mit hoffentlich beruhigtem Gemüt, herauszubekommen, was ich Marshall fragen will.

***

Ich konnte nicht fragen, "Glaubt ihr, daß ihr im Recht seid, mit dem, was ihr da tut?", oder "Wollt ihr ein römisches, eine britisches oder ein spanisches Imperium?"

Ich sagte statt dessen, ich hätte ja nun einiges über die Geschichte der Dritten Macht gelesen und gelernt, und dabei den Eindruck gewonnen, daß alles immer sehr holterdiepolter und hopplahopp und generell eher reaktiv als proaktiv gehandhabt worden sei -- ob Rhodan seines Wissens einen Plan hätte, wie das aussehen sollte, wenn es fertig wäre?

Marshall war ganz offensichtlich nicht auf diese Art von Fragen vorbereitet gewesen und stammelte ein wenig, was mir lieber war als eine einstudierte Rede, aber nicht so lieb wie ein anständiger Plan. Sie wollten Terra einen, sie wollten eine Raumflotte aus dem Boden stampfen, Handel mit fremden Völkern treiben, Kolonien gründen, und sie hofften, daß das irgendwie demokratisch oder zumindest pluralistisch abgehen würde, und daß uns -- damit war Marshall auf wesentlich sichererem Territorium -- niemand in der Zwischenzeit in ein Rauchwölkchen von einer historischen Fußnote verwandelte. Wie das gehen sollte, wußte er selber nicht. Vielleicht, sagte er, solle ich lieber Rhodan fragen.

"Rhodan ist der Mann mit dem Plan?" fragte ich.

Marshall bestätigte das. Ich fühlte mich nicht beruhigt. Ich hätte eine Dosis Mathematik gebraucht, statt dessen wechselte ich das Thema.

"Angenommen, ich trete ins Mutantenkorps ein", sagte ich. "Was würde das bedeuten und mit sich bringen?"

Diesmal machte ich mir Notizen. Das Mutantenkorps war nominell Teil des terranischen Militärs -- was es davon schon gab --, und unterstand theoretisch dem Oberkommando, praktisch aber Rhodan direkt, und genaugenommen war das das gleiche. (Mehr Kungelei. Ich hoffte, der Grund dafür war die Personalknappheit.) Es gab zwei mögliche Laufbahnen im Mutantenkorps: Einmal in "beratender Tätigkeit", was nichts weiter hieß, als das man seine Ruhe hatte, bis man gebraucht wurde. Tatjana arbeitete so, und Mrs. Lamont. Es wurde den "beratenden Mitgliedern" allerdings dringend nahegelegt, eine militärische und astronautische Grundausbildung zu machen, damit man in einem Feldeinsatz wußte, wann man den Kopf runterzunehmen hatte, und in einem Raumschiff die Brücke vom Maschinenraum unterscheiden konnte. Die Kurse gingen über mehrere Monate und man konnte sie unter anderem an der Raumakademie in Terrania machen. Insgesamt klang das Beraterleben relativ entspannt: Man wurde versorgt, kriegte ein Taschengeld, und arbeitete nur, wenn etwas anlag.

Die zweite Möglichkeit war es, an der Raumakademie in Terrania eine regelrechte Offizierslaufbahn einzuschlagen. Ein vorheriges Studium wurde in diesem speziellen Fall nicht erwartet, aber davon abgesehen hatte man die gleichen Kurse, Ränge und Prüfungen wie alle anderen Studenten auch -- wenn auch mit wesentlich entspannterem Zeitrahmen, da die Einsätze einen oft für Monate (sagte Marshall, und ich verkniff mir die Frage nach Jahren) am Stück beschäftigten. Marshall selber war dabei, diesen Weg zu gehen, und Betty und Gucky, erfuhr ich, hatten es vor. "Gott steh mir bei", sagte Marshall. "An mir bleibt es hängen, das möglich zu machen."

"Wie sieht es denn konkret mit der Bezahlung aus?" fragte ich. "Und was ist mit den Sozialleistungen?"

Hätte ich Flügel entfaltet und wäre durch den Raum geflattert, hätte Marshall mich kaum verblüffter ansehen können. "Wissen Sie", sagte er, "ich habe in den letzen elf Jahren zwanzig oder mehr Leute interviewt, ehe sie ins Mutantenkorps aufgenommen wurden -- und Sie sind die erste, die sich nach Sozialleistungen erkundigt!"

"Das ist seltsam", stimmte ich ihm zu.

Als Berater bekam man vom Korps Kost und Logis, so man wollte, Taschengeld ("Bereitschaftsprämie") und Honorar. Wenn man sich tatsächlich zum Militär meldete, kriegte man einen Rang, die "Bereitschaftsprämie" hieß "Sold" und war höher, und das Honorar hieß "Einsatzzulage" und war niedriger. Aber man konnte befördert werden. Die Bezahlung war unspektakulär, wenn man die Preise in Terrania berücksichtigte, respektabel, wenn man die Zulagen mit einrechnete.

Was die Sozialleistungen anging, wurden medizinische Kosten voll übernommen, für alle anderen Absicherungen war man selber verantwortlich.

"Was ist mit der Altersvorsorge?" fragte ich.

Marshall schüttelte ganz vorsichtig den Kopf, als hätte er Angst, daß er ihm runterfiele und er ihn nicht wiederfinden würde, wenn er sich normal bewegte.

Urlaub gab es nur drei Wochen im Jahr, plus üblicherweise Sonderurlaub nach Einsätzen. Ich fragte nach Gewerkschaftsbeiträgen, und Marshall sah mich wieder an als spräche ich Altägyptisch, also wurde wohl nicht erwartet, daß man Mitglied in einer Gewerkschaft war. (Ich hätte auch keine Ahnung in welcher. Öffentlicher Dienst?)

Es war zehn Uhr durch, als wir soweit fertig waren.

"Haben Sie noch Fragen?" fragte Marshall.

"Ja, zwei. Erstens, hat Dr. Manoli Ihnen gesagt, daß ich ein Problem mit Hypnoschulungen habe?"

"Ja. Aber das sollte sich nicht negativ auswirken."

"Auch nicht, wenn ich mich für eine Offizierslaufbahn entscheide?"

Marshall sah auf, als hätte er diese Frage nicht erwartet. "Es ist möglich, daß Sie dadurch mehr arbeiten müssen als andere Kandidaten", sagte er. "Aber als Mitglied des Mutantenkorps haben Sie einen flexiblen Stundenplan. Wollen Sie die Offizierslaufbahn einschlagen?"

"Ich weiß es noch nicht", sagte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. Ich wollte nur Marschall möglichst viel Info aus der Nase ziehen. Hauptamtlich in Uniform rumspringen, sich rumkommandieren lassen und auf Außerirdische schießen? Betty war mir soweit ganz vernünftig erschienen. Es wunderte mich, daß sie sich für diesen Blödsinn begeistern konnte.

"Und zweitens", fuhr ich fort, als sei die nächste Frage das Normalste der Welt, "Wo waren Sie eigentlich von 1976 bis 1980?"

Marshalls "Antwort" kam telepathisch, Woher wissen Sie--?, während er sagte, "Ich fürchte, ich weiß nicht, was Sie meinen."

"Ich habe diesen Tag damit verbracht, die Geschichte der Dritten Macht zu studieren", sagte ich. "Die Lücke ist gerade gut genug getarnt, um merkwürdig auszusehen."

"Miß Jamieson", sagte Marshall, "Es gibt eine Menge merkwürdiger Dinge im Kosmos. Und Sie müssen sie nicht alle wissen. Wenigstens nicht jetzt."

"In Ordnung", sagte ich, zufrieden mit mir. "Wann möchte Mr. Rhodan mich morgen sehen?"

"Acht Uhr. Treffen Sie mich hier um viertel vor."

***

Dann dackelte ich noch zu meiner Knochenbehandlung, wo der Nachtschicht-Assistenzarzt die Stellung hielt. Sein Chef würde am nächsten Tag um neun Uhr reinkommen, ich konnte dann auftauchen, wann ich lustig war.

***

Zurück im Bienenkorb holte ich mir pflichtgemäß noch einen Mitternachtsimbiß, suchte dann Betty und fand sie in der Bibliothek.

"Und, was sagt John?" fragte sie.

"Sie kommen für die Kranken-, aber nicht für die Rentenversicherung auf", sagte ich.

Betty wollte sich ausschütten vor Lachen, was ich nicht ganz verstand (der Witz war sehr lahm gewesen), aber ich hatte etwas anderes auf dem Herzen.

"Warum willst du an die Raumakademie?" fragte ich direkt.

"Hm", sagte Betty, überraschend ernst. "Hat John dir das gesagt? Ich glaube, er macht sich ein wenig Panik deswegen. Ja, ich will da hin. Ich will fliegen lernen. Und...." Sie überlegte. "Hier kennen mich alle, seit ich sechs Jahre alt bin. Ich bin immer 'die Kleine', und ich muß immer beschützt werden. Gut, ich bin erst siebzehn, aber ich werde nicht immer siebzehn bleiben, und ich will nicht wie Anne noch mit achtunddreißig das 'Mädchen' sein, das beschützt werden muß. Ich bin eine der stärksten Mutanten des Korps. Ich will, daß sie mich in zehn Jahren wie eine Erwachsene behandeln müssen."

Wir brüteten ein bißchen über dem, was sie gesagt hatte. "Was ist mit dir?" fragte sie dann.

Ich schüttelte nur den Kopf.

Betty sah demonstrativ auf die Uhr. "Du hast noch zwölf Stunden, um dich zu entscheiden", sagte sie.

"Neun", sagte ich.

***

Und jetzt sollte ich ins Bett gehen, aber ich fürchte mich vor meinen Träumen. Und ich habe noch keine Entscheidung getroffen. Ich hätte vor Tagen eine lange Liste machen sollen, Vorteile, Nachteile.

Vorteile: Kein Taxifahren. Sicheres Einkommen.

Nachteile: Gefährlich.

Ha. Als wenn das irgend jemanden interessieren würde! Als wenn das mich interessieren würde! Als wenn es das wäre, worum es geht!

Sie halten mir eine Fahrkarte in die Zukunft unter die Nase, aber es ist ihre Zukunft, und ich weiß nicht, ob ich ihre Zukunft mag -- ich kann es nicht wissen, sie wissen ja selber nicht, wie sie aussehen soll! Diese Fahrkarte ist für einen Flieger, wo selbst der Pilot nicht weiß, wo es hingeht und ob da eine Landbahn ist.

Wir fliegen mit Volldampf ins Unbekannte und hoffen, daß Gott nicht blinzelt, daß die Welt uns trägt, und ob ich im Cockpit sitze oder im Gepäckraum macht keinen Unterschied.

Außer, daß ich nie wieder nach Hause gehe.

Und ich denke an Zuhause: Grünes Land und dichte Wälder, und der Geruch von der See, und von Linoleum und poliertem Holz in den Hörsälen der Universität, Winterschnee und Finsternis, Wissen und Ideen. Journalistin. Politische Analytikerin. Beraterin. Jemand, der versteht, was passiert, und warum, jemand, der weiß, wohin wir gehen, und wie. Und dann kann ich immer noch zurückkommen, in zehn Jahren vielleicht, jemand, den sie wie eine Erwachsene behandeln müssen, und nicht, nicht... nicht wie eine Waffe oder ein Gimmick oder ein seltenes technisches Gerät.

Ja, ich müßte eine der Besten sein, um wieder nach Terrania zu kommen, aber warum nicht? Wenn ich gehe, kann ich eine der Besten sein, es wird keine Rolle spielen, ob ich Hypnoschulungen vertrage oder nicht, ob meine Intelligenz künstlich gesteigert werden kann oder nicht, weil niemand anders all das haben wird. Wahrscheinlich habe ich schon mit den Fetzen der Aktivierung, die bei mir hängengeblieben sind, einen Vorteil, den kein anderer hat. Wenn ich weiß, wo ich hin will, daß ich nicht Taxifahrer werden will oder Lehrerin, keine reflexartigen Witze mehr brauche, um mich kleiner zu machen und spöttelnde Mitschüler und neidische Götter zu besänftigen... Wenn ich weiß, was ich alles tun kann, dann kann ich in zehn Jahren wieder hier stehen, mit einem Doktortitel und einer größeren Welt um mich herum.

Morgen werde ich Rhodan sagen, daß ich nicht Mutantin genug bin, um dafür alles andere, was ich haben könnte, aufzugeben. Und dann werde ich nach Hause fahren, wo der Sommer schon vorbei ist, und zusehen, daß ich das Beste werde, was ich sein kann.


24. Juli

Ich schlief ein, und natürlich träumte ich. Ich lief durch ein Haus, das gleichzeitig eine weite Ebene war, und voller Spiegel hing. Ich hielt meinen Blick auf den Boden gerichtet, denn ich fürchtete mich vor dem, was die Spiegel mir zeigen würden. Die Sonne stand orangefarben über den Bergen, und mein langer Schatten vor mir war der eines Fremden. In zunehmender Panik machte ich kehrt, rannte auf die orangefarbene Sonne zu, vor meinem Schatten fort und vor den Spiegeln, versuchte, den Weg zurück zu finden, aber Spiegel fielen vom Himmel wie zerbrochenes Glas, und mein Schatten sprach in einer fremden Sprache mit mir.

Nicht schon wieder, dachte ich, als ich aufwachte. Ich hatte diese Träume früher schon gehabt, und sie hatten mir furchtbare Angst gemacht. Aber ich war keine fünfzehn mehr, also stand ich auf, ging ins Ankleidezimmer, schaltete das Licht ein und sah mich im Spiegel an. Jepp, Solveig wie sie leibt und lebt und in -- ich sah auf die Uhr, kurz nach drei -- sechs Stunden eine Gardinenpredigt vom Arzt kriegen wird, weil sie nichts zugenommen hat.

Meine Selbstsicherheit war gespielter, als ich zugeben wollte. Ich entschied mich, frühstücken zu gehen.

***

In der Messe ist es schummerig. Ich trinke Kakao und fühle mich außer Phase. Nikkis Mystery-Tape erzählt mir etwas von "confined the helpless safety of desires and dreams". Ich spule: "in the morning dirty tired hearts, and the scars of battle in our eyes". Spule: "you sealed your fate up a long time ago".

***

Ich fühlte mich so neben mir, daß sogar die Eagles unheimlich klangen, und die Fotografien im Halbdunkel an den Wänden und die Schatten in den Ecken machten mich nervös. Ich ging auf die Veranda hinaus. Oben, über dem Innenhof, standen eine Handvoll Sterne. Ich nahm den Aufzug aufs Dach.

Hier oben ist es besser. Kalt und klar. Ich sitze auf der Brüstung, und trinke meinen Kakao. Das einzige Gebäude, das so weit oben die Nacht mit seiner Beleuchtung stört und mir Licht genug zum Schreiben gibt, ist das Regierungsgebäude. Ich habe jetzt drei Mal versucht, die Etagen zu zählen, keine Chance.

***

"Guten Morgen", sagte eine tiefe Stimme. Ich hatte jemanden kommen gespürt, deswegen machte ich nicht vor Schreck einen Satz und probierte aus, ob das, was Betty über die Sicherheitsschirme gesagt hatte, stimmte. Statt dessen drehte ich mich um.

Der Mann war schwarz wie die Nacht und trug dunkle Kleidung. Das einzig helle an ihm war das Weiße in seinen Augen. "Guten Morgen", sagte ich.

"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"

Ich machte eine einladende Geste.

Wir saßen eine Weile da und genossen die Aussicht. Oder ich genoß die Aussicht, er machte, nach allem, was ich wußte, transzendentale Meditation oder verwendete seine Mutantenfähigkeiten, um das Nachtprogramm von Radio Eriwan zu empfangen. Terrania war Bänder von Licht, die sich in der Nacht verloren.

Hinter uns schaltete jemand das Licht in einer ganzen Zimmerflucht im Regierungsgebäude an, so hell, daß wir Schatten warfen. Ich sah mißbilligend hinauf. "Ich frage mich, ob man da auch aufs Dach kann", überlegte ich laut.

"Ich kann. Möchten Sie?" Er streckte die Hand aus, und ich ergriff sie.

Ein Wirbeln später, und Terrania war viel kleiner unter uns geworden. Dieses Dach war flach, bis auf Kamine und Luftschächte, keine Brüstung, und vor mir ging es hinunter und hinunter und hinunter. Der Mann hielt meine Hand fest, bis ich einen Schritt zurückgetreten war.

"Ras Tschubai?" fragte ich.

"Ja."

"Ich mag Ihre Fotos."

"Danke."

Die trockene, klare Luft trug kein Licht bis hier oben hoch. Die Sterne waren so nah, daß man meinte, hineingreifen zu können. Als könne man zwei Hände voll Sterne nehmen und sie werfen wie klingende Glastropfen. Als ich mich rücklings auf das kalte Dach legte, war nichts mehr zwischen mir und dem Universum. Die Kälte und die Sterne waren überall um mich herum. Es war schwindelerregend, ganz einfach, sich vorzustellen, man fiele in den Himmel hinauf. Und auf einmal traf mich die Realität der Unendlichkeit wie ein Hammerschlag. Wie groß auch immer meine Welt würde, sie wäre nie so groß wie die Sterne. Und ich wollte die Sterne, mit einer Intensität, die mich überrollte wie die Unendlichkeit selber, wollte sie wie ein Geizhals das Geld oder ein Gefangener die Freiheit, ein Verlangen, gegen das jeder Gedanke und jede Vernunft bedeutungslos wurden.

Erst als die Sterne vor der Morgensonne verblaßten, die sich gleichgültig und unaufhaltsam wie die Zeit von Osten näherte und eine weitere Scheibe der Ewigkeit abschnitt, rappelte ich mich auf. Mir war kalt. Ras, sah ich, trug eine dicke Lederjacke und eine Mütze. "Zurück?" fragte er, und ich nickte. Die Unendlichkeit umgab mich noch, eine Hülle aus Stille und Kälte, die ich nicht zerbrechen wollte.

Wir landeten wieder auf den Dach des Bienenkorbes. "D-d-danke", sagte ich mit klappernden Zähnen.

Der Aufzug war zu eng und zu warm und viel zu laut. Mein Zimmer war stickig, und ich war froh, daß ich kein Zeug hatte, das herumstand und es noch kleiner machte. Ich duschte heiß und sehr lange. Aber mir ist immer noch kalt, und Unendlichkeit klingt noch in meinen Ohren.

***

Ich ging zu Fuß zum Regierungsgebäude. Bis in die Straßen war der Morgen noch nicht gekommen, wenn auch der Himmel über uns schon blau war. Nikkis Mystery Tape gab den Rhythmus meiner Schritte vor, "the future's here, we are it, we are on our own".

Marshall erwartete mich am Eingang. Ich sah das Gebäude hinauf und hatte für einen Moment das Gefühl, daß, wenn ich dort ganz oben wäre, die Nacht noch nicht vorbei wäre. Marshall sah mich etwas merkwürdig an. Wir fuhren zu Rhodans Büro, von dem ich immer noch nicht sagen konnte, ob es oben oder unten oder ganz woanders war.

***

Diesmal blieb Marshall draußen. Rhodan stand auf, als ich hereinkam, und schüttelte meine Hand. Er hatte keinen Kaffee da.

"Mr. Marshall sagte mir, Sie hätten sich ausgiebig mit der Geschichte der Dritten Macht beschäftigt", sagte er, nachdem wir Platz genommen hatten. "Was halten Sie von uns?"

Es war kein Small Talk, und es war kein Versuch, eine Kritik oder Komplimente zu kriegen. Es war eine Frage, was ich von ihnen hielt. Ich fragte mich, warum ihn das interessierte.

Gesten hätte ich eine Menge dazu zu sagen gehabt. Heute war ich mir nicht sicher. Ich suchte eine Weile, nicht nach der Antwort, sondern nach den richtigen Worten, um sie auszudrücken.

"Ich bewundere Ihren Stil", sagte ich schließlich, "wenngleich ich nicht sicher bin, ob ich ihn respektiere. Ich respektiere, wie Sie der Welt geformt haben, wenngleich ich nicht sicher bin, daß es mir gefällt. Sie haben uns zu den Sternen gebracht. Niemand anders hätte das getan. Sie reiten seit zwölf Jahren einen Tiger und halten sich an den Ohren fest, und wenn ich eines sicher weiß, dann, daß wir alle viel besser dran sind, wenn Ihre Glückssträhne anhält und Sie nicht loslassen. Das ist eine utilitaristische Beurteilung. Eine moralische behalte ich mir vor -- ich weiß zuwenig darüber, wie Sie das tun, was Sie tun." Oh je, ich war in meine 'strebsame Studentin'-Rolle gefallen und redete geschwollen daher, als wenn das hier eine mündliche Prüfung wäre. Zumindest, bemerkte ich mit leichter Überraschung, hatte ich dieses Mal kein Muffensausen.

"Das ist eine bemerkenswert kühle Beurteilung", stellte Rhodan fest.

"Nicht nach meinen Maßstäben", sagte ich. "Wollen Sie mich noch haben, nachdem Sie meine Meinung kennen?"

"Würden Sie für uns arbeiten wollen, wenn das Ihre Meinung ist?" stellte er die Gegenfrage.

"Ja, das würde ich", sagte ich. "Denn ich sehe im Moment nicht, daß der Tiger sich demnächst in eine Hauskatze verwandelt, und alles, was Ihnen hilft, Herr der Situation zu bleiben, ist gut für die Menschheit. Wenn ich Ihnen helfen kann, werde ich das tun." Ich log. Ich hätte sein Angebot angenommen, selbst wenn er Ming der Gnadenlose gewesen wäre. Denn niemand außer Rhodan konnte mich zu den Sternen bringen.

"Ausgezeichnet", sagte Rhodan. Er stand auf und ich tat das Gleiche, und er schüttelte meine Hand ein bißchen zu fest, und der angeknackste Knochen jammerte ein bißchen. "Willkommen im Solaren Mutantenkorps, Miß Jamieson."

Erst als ich draußen war, wurde mir klar, was ich getan hatte.

***

Ich wollte mich nur irgendwo verkriechen und dort so lange bleiben, bis ich wußte, was ich hier eigentlich tat, aber zum Glück mußte ich ja noch zum Arzt.

Der untersuchte meine Hand und meinen Knöchel, brummte zufrieden, und stellt mich dann auf die Waage. "Siebenundfünfzig Kilo und zweihundert Gramm", grummelte er. "Das ist nicht gut. Haben Sie heute schon gefrühstückt?"

Ich verneinte.

"Dann tun sie das! Sie sind noch im Wachstum!"

"Ich glaube, ich bin groß genug!" sagte ich defensiv.

"Das lassen Sie mal Ihren Körper entscheiden. Wenn Sie sich jetzt nicht vernünftig ernähren, werden Ihre Knochen und Muskeln nicht so kräftig, wie sie sein müssen, um zu Ihrer Größe zu passen, und sie kriegen Ärger mit den Gelenken, ehe Sie vierzig sind. Und jetzt gehen Sie frühstücken!"

Das war eine mindestens so gute Idee wie mich auf dem Klo einzuschließen und zu grübeln, also tat ich das. Um genau zu sein, ich fuhr ins Univiertel und holte mir zwei Curry-Hotdogs und einen extra großen Erdbeer-Shake, setzte mich an einen Ecktisch und grübelte dort. Was zum Teufel hatte ich getan?

"He, Solveig!"

Ich sah auf. Jeanne und Frederik, Kaffeebecher in der Hand, steuerten auf mich zu.

"Na, wie war Australien?"

"Nicht schlecht", sagte ich spontan. "Kühler als Terrania! Aber es gibt dort giftige Spinnen!"

"Iiih", sagte Jeanne.

"Wir haben dich nach diesem komischen Theaterstück gar nicht mehr gesehen", sagte Frederik. "Und Cecil auch nicht. Und dann war das das Feuer in dem Wohnheim, wo du warst, Mensch, wir haben uns echt Sorgen um dich gemacht!"

"Ich hatte Krach mit Cecil", sagte ich. "Blöder Idiot. Ich hab' dann den nächsten Flieger genommen."

"Gute Idee. Wenn du mich fragst, der hatte sowieso ein Rad ab mit seinem 'Oh, mein Bruder ist an der Raumakademie, ich bin so cool!' Keine Ahnung, wo der dann hin verschwunden ist. Wie lange bist du jetzt da? Ende August spielen Queen im Terrania Stadion, das wär' doch was für dich?"

"Ich weiß noch nicht", sagte ich. "Wenn ihr mir euren Visiphoncode gebt, melde ich mich, falls ich da bin, OK?"

"Wir besorgen dir einfach 'ne Karte mit", sagte Frederik. "Die werden jetzt schon knapp, wenn du nicht da bist, finden wir bestimmt einen Abnehmer."

"OK", sagte ich, "klasse, vielen Dank."

"Na komm", drängelte Jeanne. "Wir wollten noch einkaufen gehen!"

Sie entschwanden. Ich fragte mich, was sie wohl über mich geredet hatten, so schnell, wie sie darin waren, über Abwesende herzuziehen und merkte, daß es mich nicht kümmerte.

Ich bin... nicht erstaunt, wie schnell und mühelos ich gelogen habe. Mein Mundwerk ist gut darin, für alles die einfachste Erklärung zu haben. Lissas Satz, "Ich lüge nie. Die Wahrheit ist viel interessanter", hat für mich nie funktioniert. Ich lüge nicht, um mich interessant zu machen, sondern um die interessanten Wahrheiten für mich zu behalten. Ich horte instinktiv Geheimnisse, wie ein Drache seinen Schatz. Es gibt einfach eine Menge Sachen, die niemanden etwas angehen, der nicht weiß, wie man danach fragt. Wahrscheinlich macht es mir auch deswegen soviel Spaß, psychologische Tests zu manipulieren. Ich verstecke mich in einem Labyrinth aus Spiegeln... Hm. Ob das was mit meinen Träumen zu tun hat?

Keine Ahnung.

Die meisten Leute haben sowieso keine Geduld mit der Wahrheit.

Ich würde gerne zu dem Konzert gehen. Ich frage mich, ob ich das kann. Kann ich ein Leben außerhalb des Mutantenkorps haben? Was für eines? Kann ich Freunde haben, und wie, wenn sie nicht wissen dürfen, was ich bin, was ich tue? Freunde sind Leute, die Geduld mit der Wahrheit haben. Sie zu belügen würde heißen, daß sie keine Freunde sind, oder?

Mein Gott, was erzähle ich Lissa? Was erzähle ich meinen Eltern?

Oh, Scheiße, meine Eltern enterben mich, wenn sie das erfahren. Die wechseln nie wieder ein Wort mit mir. Ich kann mich zu Hause nie wieder sehen lassen.

***

Auf dem Rückweg sah ich Terrania das erste Mal als einen Ort, den ich so bald nicht verlassen würde. Es ist schwierig, diese Veränderung zu beschreiben. Ich fühlte mich den überwiegend blassen Touris überlegen, die sich verwirrt oder fassungslos oder begeistert umsahen, und identifizierte mich mit den Einheimischen, die milde genervt über die ganzen Baustellen waren und über die Neuankömmlinge spotteten. Läden mit Kram, den man einfach brauchte, schienen sich vermehrt zu haben wie die Karnickel, während Läden mit Tand und Andenken auf einmal albern und billig aussahen. Seltsamerweise gab es auf einmal an jeder Straßenecke Postkarten. Ich sah die Stadt an wie etwas, das meines war, mit all seinen Marotten, nur, weil ich imstande war, ohne einen Stadtplan den schnellsten Weg von der Universität zum Regierungsviertel zu finden. Und weil ich bleiben würde.

Ohne es eigentlich geplant zu haben, fand ich mich auf einem Rundgang zu allen Orten, wo ich gewesen war.

Am Flughafen kamen Touristen, Geschäftsleute und Arbeitsuchende an. "Fünf Dollar?" sagt ein Mann zu einem Würstchenverkäufer, "das soll ja wohl ein Witz sein", und er stürmt empört davon. Eine Gruppe Asiaten feilscht mit der Frau von der Zimmervermittlung. Draußen starten drei Flieger in der kurzen Zeit, die ich hinausschaue, darunter der nach Melbourne, mit Umsteigen in Singapur.

Vor dem Wohnheim am Kinsaha-Platz steht ein Wagen von einer Malerfirma. Nichts weist von außen darauf hin, daß es hier vor zwei Wochen gebrannt hat. Drei Frauen, die jünger aussehen als ich, in billigen Kleidern und mit auffallendem Lippenstift kommen gerade aus dem Gebäude und kichern miteinander. Ich mache mich davon wie ein Geist.

Ich habe mich an den Staub gewöhnt. Touristen fotografieren die Ruinen. In der Ferne steigt Staub auf, wo die Baumaschinen an dem Aquädukt arbeiten, das Wasser aus dem Himalaja nach Terrania leiten soll.

Als ich in der Hochbahn zum Galactica-Museum sitze, mache ich im Kopf eine Liste, was von all den Dingen, mit denen ich angekommen bin, noch da ist. Mein Walkman ist noch da. Paß. Tagebuch. Reiseführer. Haarbürste. Turnschuhe. Die Shorts und das T-Shirt, die ich anhatte, als ich gegangen bin, um mit Cecil zu reden.

Im Museumscafé esse ich einen Eisbecher, als ich eine Stimme in meinem Kopf höre, Solveig?

Hallo Betty. Was gibt's?

Wo steckst du?

Im Café vom Galactica-Museum. Ich esse Eis. Warum?

Wann kommst du zurück?

Ist es dringend? frage ich.

Nein.

Ich sehe auf die Uhr: Halb zwei. Zum Abendessen, sage ich.

OK. Solveig?

?

Bis du in Ordnung?

Ja, sage ich, und, weil es in Gedanken einfacher zu sein scheint, die Wahrheit zu sagen, füge ich hinzu, Ich gewöhne mich gerade daran, in Terrania zu bleiben.

Sie lachte und war weg. Ich schüttelte den Kopf. Diese Telepathiegeschichte war noch ganz schön ungewohnt.

***

Später fuhr ich zu Cecils Wohnung. Mir war ein bißchen flau, aber wenn ich schon eine Tour in meine jüngere Vergangenheit machte, dann richtig. Ein blauer Transporter mit der Aufschrift einer Spedition stand vor dem Haus. Ein Roboter und ein junger Mann in einem Overall schoben Kisten hinein.

Cecils Tür stand offen. Seine Wohnung war bis auf die Einbauschränke und ein paar Kisten leer. Ich klingelte, und ein junger Mann, vielleicht 25, erschien in der Tür. Er sah Cecil ähnlich, hatte aber breitere Schultern und kürzere Haare.

"Guten Tag", sagte ich. "Ich suche Cecil Miers?"

Er musterte mich etwas mißtrauisch, als befürchtete er, daß ich mich über irgend etwas beschweren wollte.

"Und wer sind Sie?" fragte er.

"Solveig Jamieson", sagte ich.

"Oh, äh. Kommen Sie herein, Cecil muß jeden Moment wiederkommen."

Er sah mich immer noch an, als bedeutete ich Ärger, wirkte aber nicht mehr so bereit, etwas dagegen zu unternehmen.

"Sind Sie Cecils Bruder?" fragte ich.

"Oh, äh, ja." Er stand auf und schüttelte meine Hand als fürchtete er, sie kaputtzumachen. "Harry Miers."

"Sehr erfreut", sagte ich. Das war also der Raumakademie-Bruder. "Es tut mir sehr leid, daß ich nicht zu Ihrer Abschlußfeier kommen konnte. Geht es Cecil gut?"

Harry bedachte mich mit einem zweifelnden 'Wieviel weiß sie?'-Blick. "Ach, ich nehme an, Sie haben nicht viel verpaßt. Diese Feierlichkeiten sind fürchterlich langweilig. Viele Reden. Ich hatte das Glück, zu aufgeregt zu sein, um mich zu langweilen."

"Was haben Sie studiert?" fragte ich.

"Schiffsbau und Kommunikationstechnik."

Schritte auf dem Flur kündigten Cecil an. Er balancierte zwei Pizzakartons in der linken Hand. Als er mich sah, wurde er blaß und ließ fast die Pizzas fallen. Ich lächelte so unbedrohlich wie möglich.

"Solveig! Was tust du denn hier?"

"Ich habe gehört, daß du abreist", sagte ich, "und wollte noch mal vorbeikommen und sehen, ob du in Ordnung bist. Wir haben uns ja unter etwas ...abenteuerlichen Umständen zuletzt gesehen."

Harry stand auf. "Ich glaube, ich lasse euch mal alleine." Er verschwand mit den Pizzakartons in der Küche. Cecil setzte sich auf eine Kiste mir gegenüber. "Ich... ich erinnere mich nicht an alles", sagte er. "Manches, aber nicht alles. Habe ich...?"

Mir dämmerte was und ich verstand seine schuldbewußte Nervosität. "Ich weiß nicht, was du alles getan hast", sagte ich. "Aber du hast mir nichts getan. Ich bin am Abend des 11. zur Polizei gegangen. Und du hast nichts in die Luft gesprengt."

"Oh", sagte er. Ich kriegte derzeit eine Menge 'ohs'. Bin ich so überraschend? "Wie konntest du...?" fragte er.

"Wie konnte ich was?" Ich hörte mich ein bißchen gereizt klingen. Was für eine Frage war das?

"Ich meine, ich frage mich die ganze Zeit, warum hat er dich nicht mit dem Hypnostrahler erwischt?"

Ich lauschte auf die Untertöne. Es klang, als wurmte es Cecil, daß er hypnotisiert worden war und ich nicht. Warum nicht, dachte ich, umgekehrt hätte es mich ja auch gewurmt. "Ich nehme an, er hat nicht wirklich mit mir gerechnet", sagte ich abwiegelnd. "Ich war nicht sein Ziel. Ich hoffe, du bist nicht in Schwierigkeiten gekommen?"

"Sie haben mich zehn Tage dabehalten und Psychologen auf mich losgelassen. Waren aber sehr höflich dabei. Nach zehn Tagen haben sie dann endlich den Typen mit dem Psychostrahler gefangen und mich laufenlassen, nachdem ich ihn identifiziert hatte."

Nach zehn Tagen hatte der Typ mit dem Psychostrahler versucht, mich umzubringen. Wäre Suzy nicht wach genug gewesen, um mich zu warnen, wäre es ihm wahrscheinlich gelungen. "Schöner Mist", sagte ich.

"Wenigstens ist es vorbei."

"Mhm. Weswegen fährst du? Ich dachte, du wolltest dich hier an der Uni bewerben?"

"Ha. Dank dieses Idioten habe ich die Fristen verpaßt."

"Ich glaube, für so etwas machen sie eine Ausnahme", sagte ich. Wenn nicht, dachte ich, konnte ich versuchen, dafür zu sorgen.

Cecil zuckte die Schultern. "Mein Vater hat gesagt, er braucht Hilfe in der Firma..."

Es erschien mir nicht sehr überzeugend.

"Er hat gesagt, in Terrania laufen ihm zu viele Irre rum", sagte Harry, der mit ein paar Einwegtellern in der Hand gerade aus der Küche kam, mit der Rücksichtslosigkeit, die sich nur Geschwister erlauben können. "Ich sag' ihm, ja, das macht den besonderen Reiz dieser Gegend aus. Wollen Sie auch Pizza?"

"Nein danke", sagte ich. Cecil sah aus als wollte er etwas im Detail mit seinem Herrn Bruder ausdiskutieren, und ich hatte keine Lust, dazwischenzusitzen. Ich verzog mich.

***

Logischerweise hätte ich als nächstes der Gobi-Klinik einen Besuch abstatten müssen, aber statt dessen ging ich ernsthaft einkaufen. Wenn ich hierblieb, gab es keinen Grund, aus einem sowieso schon enorm reduzierten Koffer zu leben. Und wenn ich einen Job hatte, gab es keinen Grund, mich am Geld festzuhalten. Ich kaufte Sandalen, und ein bodenlanges, dünnes Kleid in einem afrikanischen Schnitt mit einem blauen, grünen und weißen Batikmuster. Einen Strohhut mit breiter Krempe, und eine dicke Wollfilzjacke. Zwei weite Tunika-Hemden, eine Sommerhose aus dünnem Stoff, eine Jeans. Wäsche. Indischen und chinesischen Tee, und eine Teekanne aus durchscheinendem chinesischen Porzellan mit vier Tassen. Teedosen. Eine große, bunte indische Decke mit Stickerei und knopfgroßen Spiegeln. Ein Poster mit einem Tiger, und eines mit ein paar niedlichen japanischen Comicjungen. Belgische Schokolade in einer selbstkühlenden Box. Einen handlangen, bronzenen Drachen. Ein neues Tagebuch -- das hier wird langsam voll. Eine Handtasche aus Leder, groß genug für Schmöker, Schlüsselkarte und Paralysator (den hatte ich immer noch dabei, ich weiß auch nicht, warum). Und einen dieser neuen Walkmans.

Beladen mit Tüten und Taschen und Beuteln und Schachteln wankte ich ins Regierungsviertel zurück. Der Soldat an der Eingangskontrolle musterte mich und sagte, "Wissen Sie, daß Sie einen Trageroboter mieten können?"

Natürlich haben sie in Terrania Roboter für so was.

***

Im Foyer lief mir (wie ich glaubte, zufällig) Anne über den Weg, machte große Augen, lachte und half mir, meine Beute in meine Höhle zu schaffen. Inzwischen war es fast sieben, und da ich Betty ja versprochen hatte, zum Abendessen dazusein, packte ich nicht mehr groß aus, sondern sprang nur kurz unter die Dusche, zog eines meiner neuen Hemden an und machte, daß ich in die Messe kam.

Wo niemand war, aber ich hörte Stimmen aus dem Innenhof. Es roch nach Gegrilltem. Als ich die Außentreppe hinunterging, pfiff jemand schrill (Gucky, erfuhr ich später), und einen Moment später kriegte ich ein Sektglas in die Hand gedrückt und fand mich in einem Haufen von Leuten, die mich alle begrüßten und mich willkommen hießen und mit mir anstießen. André stand am Grill, und Mrs. Lamont hatte sich selber übertroffen und ein Büfett hingestellt, bei dem man gar nicht wußte, wo man anfangen sollte, geschweige denn, wie das alles hieß. Ich war ein bißchen überwältigt und ging einfach mit der Stimmung mit. Der Sekt und das exzellente Essen halfen. Zum Glück erwartete niemand, daß ich eine Rede hielt. (Marshall hielt eine kurze.) Betty und Ras umarmten mich, und Ras grinste mich mit sehr weißen Zähnen an, als teilten wir ein Geheimnis. Vielleicht taten wir das.

Ich war satt, und ich wurde müde, und alles verschwamm ein bißchen um mich, irgendwann später, als ich mit Betty, Ras, André und ein paar anderen um eine Flasche mit Pflaumenwein saß. Gucky war auch da und sorgte dafür, daß unsere Becher nicht leer wurden, während er selber Tomatensaft trank.

"Wirklich", sagte André heiter, "es ist ein großes Glück, daß Sie sich entschieden haben, zu bleiben! Wenn Sie sich entschieden hätten, statt dessen, zu gehen, wir hätten Ihnen einen Hypnoblock geben müssen, damit Sie nichts weitererzählen, und wie hätten wir das tun sollen?"

Ich starrte ihn an. Ich wußte genau, wie sie dafür hätten sorgen können, daß ich nichts weitererzählte. Gucky sah völlig verwirrt aus und guckte von mir zu André und zurück. André machte ein entsetztes Gesicht, als bei ihm der Groschen fiel. "Mein Gott!", sagte er. "Wofür halten Sie uns?"

Es war zu viel. Ich mußte fürchterlich lachen. Die Tränen liefen mir übers Gesicht, und es dauerte Minuten, bis ich wieder genug Luft bekam, um irgend etwas zu sagen. "Ich weiß nicht", keuchte ich, "Alle fragen mich das, aber ich habe keine Ahnung, wofür ihr euch haltet. Aber wißt ihr was? Ich gehe jetzt schlafen. Es war ein langer Tag und eine großartige Party, und ich hatte eine viel zu kurze Nacht."

Ich stand auf, verbeugte mich ein wenig schwankend, zog einen imaginären Hut und stapfte die Treppe hinauf.

"André", hörte ich Ras noch sagen, "Volltreffer."

"Was?" protestierte André. Mehr hörte ich nicht mehr. Ich fiel halbwegs in den Aufzug und schaffte es gerade noch bis zu meinem Bett.

In dieser Nacht träumte ich überhaupt nichts.


August

Am folgenden Morgen erfuhr ich, daß Marshall auch im Bienenkorb ein Büro hatte, denn um neun Uhr saß ich dort und unterschrieb einen Vertrag. Ich entschied mich, erst einmal als "Beraterin" zu arbeiten. Betty machte am 5. August ihre Prüfungen fürs GED. Sie bestand mit einer Gesamtnote von A-. Das 'minus' ärgerte sie so sehr, daß sie jedem, der nicht schnell genug das Thema wechselte, im Detail erzählte, wie wenig es sie kümmerte. Anne rollte die Augen, und John hielt Betty eine feierliche Ansprache, daß sie eben mehr lernen müsse. Betty sagte zu mir, alles was sie brauche, sei endlich diese verdammte Aktivierung, aber Manoli, Bettys Vaterersatz, stellte sich noch quer: Sie solle erst einmal volljährig werden. Ich fragte mich, ob mein seltsamer Effekt dazu geführt hatte, daß Manoli jetzt Hemmungen hatte, seine Apparaturen auf Teenager loszulassen, und entschied, daß mich das nicht interessierte. Betty schrieb sich für Kosmopsychologie und Kosmonautik an der Raumakademie ein, und John raufte sich die Haare, weil es anscheinend ein ungeheuer komplexes Problem war, für eine Mutantin einen Fluglehrer zu organisieren. Ich entschied mich, die kosmonautische Grundausbildung, die Rhodan mir nahegelegt hatte, gleich im nächsten Trimester zu beginnen, zusammen mit Bettys Studium. Ein Blick auf das Curriculum und ich bekam beinahe einen Herzklabaster: Die praktische Ausbildung (im Unterschied zum vollen Studium, wo man erst einmal lange Zeit Theorie machte) begann mit drei Intensiv-Hypnokursen für Hypermathematik. Ich begann, mich schon einmal sehr, sehr ernsthaft hinter meine Bücher zu klemmen.

***

Bevor das alles passierte, waren natürlich die vier Wochen vorbei und ich wurde wieder zu Hause erwartet. Am Abend des 25. Juli rief ich Lissa an und sagte ihr, ich hätte es geschafft, einen Studienplatz an der Universität in Terrania zu ergattern: Astronomie, Geschichte und Linguistik. Sie stieß ein Indianergeheul aus, beglückwünschte mich und beklagte im gleichen Atemzug, wie langweilig es ohne mich sein würde. Ich sagte, ich wäre doch ohnehin nach Uppsala gegangen, und sie meinte, das könne man ja wohl nicht mit Terrania vergleichen. Nikki, erfuhr ich, würde in fünf Tagen nach Coatzaco-irgendetwas aufbrechen. Wann ich denn käme, um meine Sachen zu holen? Und ob ich meine Eltern schon angerufen hätte?

"Morgen früh", sagte ich.

Sie schnaubte. "Wie früh? Es ist hier neun Uhr morgens."

"Äh, morgen früh bei uns. Heute abend bei euch. Acht Uhr?"

"Früher, wenn's geht", sagte Lissa. "Deine Mutter dreht am Rad."

"Früher ist für mich vor fünf am Morgen. Das pack' ich nicht."

"Argh, Zeitverschiebung. Na, ich sag ihr, daß du anrufst."

"Danke."

Dann ging ich zu John und erklärte ihm, daß, wenn er nicht wollte, daß meine Eltern glaubten, ich sei von Außerirdischen entführt worden und Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um mich wiederzubekommen, wir ihnen eine gute Coverstory präsentieren müßten. Er trug sich kurz mit dem Gedanken, ob man ihnen nicht die Wahrheit erzählen und einen Hypnoblock verpassen könnte, und ich sah ihn so zweifelnd an, daß er von selber auf die Idee kam, Hypnoimmunität könnte erblich sein. Ich schlug als Covergeschichte ein Studium an der Universität von Terrania vor, es müßte doch möglich sein, den passenden Papierkram zu produzieren? Am besten noch am gleichen Tage, zu Hause bei mir wäre nämlich Panik.

John sah mich nachdenklich an. "Warum wollen Sie nicht, daß Ihre Eltern wissen, daß sie für die Dritte Macht arbeiten?"

Ich fragte: "Haben Sie mal X-Men gelesen?"

Um Mitternacht brachte der Hausroboter die Studienbescheinigungen.

***

Um halb fünf klingelte mein Wecker. Ich war fürchterlich nervös und fragte mich, ob ich das Richtige tat, aber jede Alternative war noch schwachsinniger als das hier. Ich überflog die Papiere und stellte fest, daß jemand anstatt "Linguistik" "Kybernetik" eingetragen hatte. Na super.

Es war zu spät, es zu ändern, und es war sowieso nur eine Coverstory. Ich wetzte in die Bibliothek hinunter und schlug nach, was Kybernetik war. Dann setzte ich mich vor's Visiphon, atmete tief durch, um die Nervosität niederzukämpfen, und wählte die Nummer.

Mein Vater nahm ab, ehe das Telefon ein zweites Mal geklingelt hatte, und ehe ich ganz "Hallo" sagen konnte, hob er zu einer Gardinenpredigt an, in der es vor allem darum ging, daß ich mich in Dreiteufelsnamen ja mal hätte melden können!

Da hatte er nicht ganz unrecht, und normalerweise hätte mich das enorm sauer gemacht. Dieses Mal ging es irgendwie an mir vorbei. Ich stellte mir vor, daß ich jederzeit sagen könnte, "Ich bin Mitglied im Solaren Mutantenkorps geworden", und die Vorstellung reichte aus, um das aktuelle Drama als Zwergenaufstand erscheinen zu lassen. Natürlich hätte ich es nicht sagen können -- all das Zeug über Geheimhaltung war ja wahr -- aber wenigstens vorstellen konnte ich es mir.

Als mein Vater endlich einmal Luft holte, erzählte ich ihm, er hätte selbstverständlich vollkommen recht, aber ich hätte die letzten Wochen damit verbracht, die Aufnahmeprüfungen an der Universität von Terrania -- eine der besten und renommiertesten Institute der Welt! -- zu machen, und hätte davon nicht erzählen wollen, ehe ich nicht die Ergebnisse hätte. Und da ich sonst nichts gemacht und nichts zu erzählen gehabt hätte...

"Und?" fragte mein Vater, so viel Hoffnung und Zweifel, daß ich mir für eine Sekunde sehnsüchtig wünschte, das, was ich erzählte, wäre wahr. Aber was half es? Ich erzählte meine Coverstory weiter, erklärte, was Kybernetik war (das Wissen von dynamischen Systemen, falls es jemanden interessiert), hörte die vordergründige Mißbilligung darüber, daß es Terrania war, und den Stolz, daß ich es geschafft hatte, und dachte, daß ich etwas ganz anderes geschafft hatte, und wußte nicht, ob ich darauf stolz sein konnte. Es war zu früh am Morgen für solche Sachen.

Dann fragte er, wieviel Geld ich bräuchte. Zu sagen, daß ich ein Stipendium bekommen hätte, hätte meine Geschichte überstrapaziert. Ich murmelte etwas von "Studienkredit", aber davon wollte er nichts wissen. Also sagte ich eine Summe, die vielleicht gerade für die Miete reichen würde. Meine Eltern haben keine Ahnung von den Preisen in Terrania. Mein Vater legte gleich noch einmal ein Viertel drauf und sagte, für den ersten Monat würde er mir das Doppelte schicken, schließlich müßte ich mich einrichten.

Zum Glück haben meine Eltern Geld, sonst hätte ich diese Diskussion nicht durchgestanden.

Anschließend redete ich noch mit meiner Mutter, die auch fürchterlich stolz war, aber sehr betrübt, daß ich so weit weg war. Sie hoffte, daß ich nach dem Studium wieder nach Hause kommen würde. Ich wußte, daß das unmöglich war und sagte, "ja, sicher". Wir machten ab, daß ich in zehn Tagen noch einmal kommen würde, um meine Sachen zu packen.

Es war halb sieben, als ich den Hörer auflegte. Ich war völlig durchgeweicht und fühlte mich beschissen. Gerade, als ich mich aufrappelte, um unter die Dusche zu gehen, meldete sich das Visiphon mit dem Ton für interne Gespräche. Ich prüfte schnell, ob ich respektabel aussah (leidlich), und ging dran. Es war John.

"Das haben Sie sehr gut gemacht", sagte er.

"Sie haben gelauscht?" Ich war so empört, daß meine Stimme sich überschlug. Nein, nicht empört. Entsetzt. Das Ganze war schlimm genug gewesen, ohne daß jemand zugehört hatte.

"Es tut mir sehr leid, aber es war notwendig", sagte er. "Ich wußte nicht, ob Sie der Belastung, gegenüber Ihren Freunden und Ihrer Familie geheimzuhalten, was sie tun, standhalten würden. Das Mutantenkorps ist die Geheimwaffe der Dritten Macht, das As im Ärmel. Wenn es Ihnen nicht gelungen wäre, Ihre Rolle zu spielen, hätten wir eingegriffen."

Hypnoblöcke. Und vielleicht wäre das besser gewesen. Aber schon der Gedanke an Hypnoblöcke war wie das Gefühl, in etwas Schleimiges zu fassen. Zu sehen, was sie mit Cecil gemacht hatten, wie sie die Leute im Krankenhaus in mordgierige Zombies verwandelt hatten... Hypnoblöcke waren schlimmer als eine Lüge. Ich hatte nur das Gefühl, sie wären besser, weil ich selber kein Hypno war und deswegen, Pilatus gleich, meine Hände in Unschuld waschen konnte, wenn André und Kitai ihren Job machten. An meinen Eltern. An Lissa. Oh mein Gott, an Nikki. Wo bin ich nur hineingeraten, fragte ich mich.

"Es ist zu früh am Morgen für all das", sagte ich.

"Das ist es", bestätigte John. "Entschuldigen Sie meinen Anruf. Aber Sie sollen bei uns immer wissen, woran Sie sind."

"Ist OK", sagte ich müde und legte auf.

Ich ging nicht wieder schlafen. Ich hätte es nicht gekonnt. Statt dessen fuhr ich aufs Dach. Die Sonne war aufgegangen und es waren keine Sterne zu sehen, also sah ich statt dessen auf Terrania, auf die Wüste bis hin zu den Bergen, und auf alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit, und fühlte mich fürchterlich. The future is here. We are it. We are on our own.

***

ENDE

 
 


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Disclaimer

Das Perry-Rhodan Universum gehört mir nicht -- ich leihe es mir nur aus, verdiene keine müde Mark damit und werde es nicht beschädigen.

Anmerkungen und Kommentare

Als ich vor zwanzig Jahren anfing, Solveigs Storyzyklus zu schreiben (nicht, daß ich damals eine Vorstellung hatte, daß es ein Storyzyklus werden würde!), riß ich den Hintergrund, wie Solveig ins Mutantenkorps gekommen war, nur kurz in "1988" an, um mich dann dem Grübeln, Kommentieren der Vorlage, und dem allgemeinen Weltschmerz zu widmen.

Seither ist "1988" nie wirklich überarbeitet worden, hauptsächlich deswegen, weil an der Story nicht viel zu retten war.

Im Sommer 2006 buddelte ich meine alten "Silbernen" Perry-Rhodan-Sammelbände mal wieder aus und begann zu lesen, dachte an Solveigs Geschichten, und entschied, daß es höchste Zeit war, ein paar von den Sachen, die ich in den letzten zwanzig Jahren über's Schreiben gelernt habe, darauf anzuwenden -- insbesondere die Einsicht, daß man erzählen soll, was passiert, und nicht, daß es passiert ist.

Um das Universum möglichst genau hinzubekommen, habe ich die entsprechenden "Silbernen" und die Perry-Rhodan Wiki verwendet, aber festgestellt, daß gerade in der Frühzeit die Serie dem Setting nur punktuell Aufmerksamkeit schenkte, daß die Charakterisierungen gelegentlich ein bißchen schwammig waren, und die Angaben über PSI-Kräfte und Hypnoeffekte (einschließlich Hypnoschulungen) sich gewaltig widersprachen. Also habe ich mir etwas zusammengebastelt was mir glaubwürdig scheint und gefällt.

Zum Layout: Ich habe den Versuch, den Anblick eines altertümlichen Computerterminals nachzubauen im Interesse besserer Lesbarkeit aufgegeben. Trotz ihrer Länge ist die ganze Geschichte in einem File -- ich gehe einfach mal davon aus, daß bei dem durchschnittlichen Tempo heutiger Internetverbindungen niemand zu lange seinem Rechner beim Laden zuschauen muß. Sollte jemand Probleme haben (und trotzdem bis hier gekommen sein, ich weiß...), bitte Bescheidsagen, ich kann das ganze auch in Kapitel aufteilen.

Ich hoffe, "1983" ist besser als "1988", ich hoffe, daß Solveig nicht mehr die Mary Sue ist, als die sie vor zwanzig Jahren angefangen hat, und daß jede/r Leser/in, die tatsächlich bis hier durchgehalten hat, mir eine kurze (oder längere) Feedback-Mail schreibt. (Außerdem hätte ich gerne ein Pony.)

Vielen Dank an meine Betaleser: Snow, Ceridwen und Tiassa!


Soundtrack

Fast alles, was auf Solveigs Walkman läuft, war tatsächlich 1983 schon zu hören:

  • We've got to get out while we're young -- Bruce Springsteen, "Born to Run", 1975
  • Is a dream a lie if it don't come true or is it something worse -- Bruce Springsteen, "The River", 1980
  • Is this the real life? Is this just fantasy? -- Queen, "Bohemian Rhapsody", 1974
  • Four men ride out and only three ride back -- The Eagles, "Doolin' Dalton - Reprise", 1973
  • Every mile you roam, ten thousands from home -- Clannad, "Strayed Away", 1982
  • Confined in the helpless safety of desires and dreams -- Anne Clark, "Sleeper in Metropolis", 1983
  • In the morning dirty tired hearts and the scars of battle in our eyes -- New Model Army, "Betcha", 1980
  • You sealed your fate up a long time ago -- The Eagles, "Desperado - Reprise", 1973
  • The future's here, we are it, we are on our own -- The Grateful Dead, "Throwing Stones", 1987

Sonstige Quellen:

  • Das Hintergrundbild ist eine Aufnahme des Hubble Ultra Deep Field und in voller Pracht (20 MB !) hier zu finden.
  • Zwei Hühner auf dem Weg nach Vorgestern -- Reinhard Mey, 1973
  • Niemand nennt mich eine feige Sau! -- Marty McFly in "Zurück in die Zukunft", 1985
  • Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. -- Mathäus 4:8-9
 
 

© inge, 2006