1988
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Terrania
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Terrania! Was für eine Stadt!

Ich fürchte mich vor ihr, wie sie jetzt ist, wie ich sie jetzt sehe, nach zwei wilden Jahren, in denen ich kaum auf der Erde was, und wenn, dann nur im Regierungsbezirk der Dritten Macht oder allenfalls mal am Goshun-See.

Jetzt habe ich Urlaub, den ersten seit zwei Jahren, und es ist viel geschehen seitdem.

Die Stadt liegt unter einer sommerlichen Hitzeglocke, und vielleicht ist es die Hitze, die die Bilder verzerrt und die Gedanken zu seltsamen Formen schmilzt, der Grund dafür, daß alles so seltsam ist, so -- fremd.

Die vielen so plötzlich stillen Stunden meines Urlaubs verwirren mich. (Doch ich habe die stillen Stunden gesucht.) Ich denke an die Vergangenheit und an die Zukunft.

Terrania wurde im Jahr 1972 gegründet. Damals war ich sieben. Jetzt haben wir 1988, ich bin 23 und sehr jung, und die Stadt ist jünger als ich.

Ich wurde in der Nähe von Stockholm geboren. Mit 18 -- fünf Jahre ist das erst her, und doch liegen im Sinne des Wortes Welten und Lichtjahre zwischen damals und heute -- war ich mit der Schule fertig. Meine besten Fächer waren Mathe und Physik gewesen. Nicht, daß ich je dafür gelernt hätte, diese Sachen waren logisch und leicht zu begreifen. Mein eigentliches Interesse galt Dingen wie Literatur, Philosophie und Politik.

Und hier stehe ich nun!

Meine Eltern hatten bei weitem mehr Geld als Zeit und sie wünschten von einer erwachsenen Tochter weitgehend in Ruhe gelassen zu werden. Dafür ließen sie einiges springen.

Sie wollten immer, daß mal was ganz Tolles aus mir wird, eine berühmte Wissenschaftlerin, ein hohes Tier in der Wirtschaft oder so.

Oh Gott! Wenn sie wüßten!

An meinen jetzigen Job bin ich gekommen wie die Jungfrau zum Kind.

Ich hatte damals vor, zu studieren, nordische Sprachen und Politologie, zum Entsetzen meiner Eltern, aber vorher wollte ich etwas sehen von diesem Planeten Terra, auf dem ich ohne eigenes Zutun geboren war, auf den ich nun auf einmal stolz sein sollte.

1983 war das, und es wurde eine Menge geredet, nicht nur von Terra, auch von Arkon, einem riesigen, verfallenen Sternenreich draußen in M13, von der Wega, von bizarren Fremdwesen, Geschichten, die phantastisch klangen und nicht immer glaubhaft, wie zum Beispiel jene von dem geheimnisvollen "Planeten des ewigen Lebens".

Man redete viel von einem Mann, den sie 12 Jahre vorher wahrscheinlich erschossen hätten, hätten sie ihn nur zu fassen gekriegt, und dessen Gesicht sie heute auf Briefmarken drucken wollen, denn er hatte Erfolg, auch wenn es keiner geglaubt hätte, und der Erfolg rechtfertigt sein Tun, jetzt, wo die Weltregierung entstanden ist und er ihr Chef, Perry Rhodan, mein oberster Vorgesetzter.

Man redete von Terrania und deshalb fuhr ich hin.

Auch damals fiel mir schon auf, wie absurd jung diese Stadt war, aber ich fand es nur faszinierend, nicht unheimlich, nicht die Stadt und nicht den Staub, der allen Bemühungen zu Trotz an windigen Tagen noch aus der Wüste Gobi in die Stadt geweht wird.

Die ersten Tage in Terrania waren absolut phantastisch, das tollste überhaupt. Ich lernte viele Leute kennen, die wie ich in den billigen Hotels der Stadt abhingen, Weltenbummler und hoffnungsvolle Arbeitsuchende und reicher Leute Kinder, und die ganze erste Woche scheint im Rückblick eine einzige Fete an unterschiedlichen Orten gewesen zu sein. Ich ging mit meinen neuen Freunden in Discos und Bars, wankte im Morgengrauen zum Hotel zurück und kam mir sehr erwachsen und jung und frei vor.

Bis zu jenem Abend, an dem es passierte -- das Verrückte, der Meteoreinschlag, der Lottogewinn, das Ereignis, nach dem die Welt nie wieder die gleiche sein kann. Ich war auf dem Weg von einer Fete ins Hotel, nicht nüchtern und sehr gut drauf, als in einer Gasse plötzlich ein Typ mit einer futuristisch aussehenden Schußwaffe in der Hand auftauchte und mich offenbar im Weitergehen hindern wollte. Ich erwartete so was wie ein 'Geld her' und war völlig überrascht, als er mit den Worten "Hören sie zu. Sie werden morgen . . . " einen längeren Monolog begann, der darauf hinauslief, daß er offenbar glaubte, ich übermorgen eine wichtige Persönlichkeit, die ich gar nicht kannte, ermorden.

Das entsprach nicht ganz meinen Plänen, trotzdem antwortete ich auf seine abschließende Frage, ob ich das verstanden hätte, mit ja. Schließlich soll man Irren nicht widersprechen. Ich spürte ein komisches Kribbeln im Kopf, als wenn die Rückseite meiner Augäpfel jucken würde, aber es ging vorbei. Der Irre ließ mich unbehelligt meiner Wege ziehen. Am nächsten Tag erwachte ich mit Kopfschmerzen und schlechter Laune und blieb im Bett. Ich hätte die ganze Angelegenheit wohl vergessen, wenn ich nicht zwei Tage später erfahren hätte, daß diese futuristische Schußwaffe ein Psychostrahler gewesen war. Was man damit anrichten konnte, hatte ich gelesen.

Ich dachte mir, die ganze Angelegenheit sei hervorragend geeignet, mich wichtig zu machen und ging zur Polizei. Und da hatten sie mich.

Ich wurde mit Überlichtgeschwindigkeit durch die Instanzen geschleust. Letztlich landete ich in einem kleinen Konferenzzimmer und sah mich einem freundlichen jungen Mann von etwas 30 gegenüber. Leider war seine Freundlichkeit rein geschäftlich. Ich fand ihn süß. Irgendwo, erinnerte ich mich, hatte ich sein Gesicht schon gesehen. Ich erzählte mal wieder meine Geschichte, die ich jetzt schon ziemlich gut kannte und fragte mich, woher, um alles in der Welt, ich sein Gesicht kannte.

Er stellte weitere Fragen, ganz normale und höfliche, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, als wollte er Geheimnisse von mir wissen und zog mich innerlich zurück. Er wirkte erstaunt. Und dann, als ich ihn mißtrauisch anstarrte, kam das Kribbeln hinter den Augäpfeln zurück und es war, als hörte ich in meinem Kopf einen Namen flüstern. Ich schluckte und alle Teile fielen an ihren Platz.

Ich frage mich heute noch, woher ich in dem Moment die reine Coolness genommen habe, nichts weiter zu tun als etwas angestrengt zu lächeln und zu fragen: "Warum haben Sie sich mir nicht mit Ihrem richtigen Namen vorgestellt, Mr. Marshall?"

Im nächsten Moment materialiserte ein etwa 1 Meter großes, braunbepelztes Wesen im Zimmer und quiekte "Ich habe doch gleich gesagt, sie kann was!"

Das war zuviel. Ich kriegte einen völlig unangebrachten hysterischen Kicheranfall.

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So war ich also Antihypnotin und Halbtelepathin. Die nächsten Wochen verbrachte ich mit Tests und Training. Ich hatte mit John abgemacht, daß ich meine Fähigkeiten erst besser kennenlernen sollte, ehe ich mich entschied, ins Mutantenkorps einzutreten. Als ob das eine Frage gewesen wäre, denke ich heute.

Außer den Fähigkeiten, die sich schon gezeigt hatten, besaß ich noch Ansätze jenes Talents, das sie 'Orten' nannten, wenn auch in einer anderen Form als Fellmer Lloyd, dieser breite Waliser mit dem Temperament eines toten Pferdes. Ich spürte nicht, ob da 'etwas' war und ob es freundlich oder feindlich gesonnen war. Bei mir funktionierte es nur bei Leuten, die ich entweder kannte oder die sich in unmittelbarer Nähe befanden. Und es war nicht einfach ihre Grundhaltung, die ich spürte, sondern ihre Gefühle. Sie spiegelten sich in meinen, was ganz schön bitter sein konnte, wenn jemand schlechte Laune oder Zahnschmerzen hatte. Ich kam mir vor wie ein Voyeur, wenn ich diese Fähigkeit einsetzte und arbeitete hauptsächlich daran, sie abzublocken und John zu überreden, sie nicht in meine Akte aufzunehmen. Da diese Fähigkeit als nicht sehr wichtig galt, gab er nach.

Vielleicht war diese Fähigkeit die Erklärung für die . . . Schatten.

Die Schatten waren schon immer dagewesen, oder wenigstens so lange, wie ich zurückdenken konnte, irgend etwas Undefinierbares im Hintergrund meines Bewußtseins, mal vertraut wie ein alter Bekannter, mal unsagbar fremd. Manchmal wie ein Mensch, den ich nie kennengelernt hatte, manchmal . . . wie ein lauerndes Tier, fähig und bereit, mich zu übernehmen, mich zu etwas zu machen, was ich selbst nicht wiedererkennen würde. Manche Nacht sehe ich es in Alpträumen, es kommt näher und ich kann nicht fliehen, weil es in mir ist, ein Teil von mir, oder ich ein Teil von ihm, und wenn ich aufwache, sehe ich ein Nachbild von einem Gesicht, daß ich als mein eigenes erkenne, aber es ist nicht meins. Eine Zeitlang hatte ich immer einen Spiegel neben dem Bett, um nach solchen Träumen mein wirkliches Gesicht zu sehen, mich zu erinnern, wer ich bin, und ich weiß noch, jedesmal, wenn ich nach dem Spielgel griff, fürchtete ich kurz, daß mich aus meinem eigenen Spiegelbild diese fremden dunkelgrauen Augen ansehen würden statt der vertrauten grünen.

Am Schlimmsten war das Ganze, als ich so 12 bis 15 war. Mit 18 war es schon besser, und heute habe ich eigentlich keine Alpträume mehr. Aber ich habe das Gefühl, das die Schatten noch da sind. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein und sie sind weg, seit ich lernte, mich besser abzuschirmen.

Im Oktober '83 trat ich offiziell ins Solare Mutantenkorps ein. Jetzt bin ich wohl das, was meine Eltern 'wichtig' nennen würden -- aber ich habe es ihnen nicht erzählt. Weiß der Rabe, warum. Vielleicht, weil das nicht die Art von 'wichtig' ist, in der sie ihre Tochter gerne sehen würden: eine Mutantin. Ein Freak. Vielleicht liegt es auch daran, daß mein Vater von dieser ganzen Raumfahrts- und Dritte-Macht-Geschichte nie etwas hielt.

Für meine Eltern arbeite ich bei der GCC. Das ist zwar ihrer Ansicht nach auch kein ganz hasenreines Unternehmen -- sie haben erfahren, daß Adams wegen Börsenschwindels 14 Jahre im Gefängnis saß -- aber seit sie wissen, daß ich stolze 30 Solar im Monat verdiene, ist mir alles verziehen. Na gut, ich belasse es dabei.

Vielleicht will ich es auch nicht rumerzählen, weil ich es selbst noch nicht ganz glaube.

Ich kriegte 'ne wahnsinnige Menge Hypnoschulungen verpaßt, von denen mir übel wurde, Arkonidisch und Interkosmo, Kosmonautik und Grundlagen fünfdimensionaler Mathematik. Bis Dezember kannte ich alle Leute, die man so kennenlernt. Das Mutantenkorps besteht größtenteils aus Japanern, und ich hatte am Anfang immense Schwierigkeiten, sie auseinanderzuhalten, bis ich mich einfach auf meinen Instinkt verließ. Der originellste in der ganzen Truppe ist natürlich Gucky, der Mausbiber. Manchmal riskiert er allerdings 'ne sehr dicke Lippe -- obwohl, mit seinen Fähigkeiten riskiert er im Grunde gar nichts. Aber ich riskiere auch nichts, weil er in meinen Gedanken nicht lesen kann, daß ich ihn einen Affen nenne.

Am sympathischsten ist mir neben John (nein, ich bin nicht verknallt!) Betty Toufry. Sie ist ein Jahr jünger als ich und fast von Anfang an dabei. Sie kennt einige Storys, die mir die Haare zu Berge stehen lassen! Mit den anderen Frauen komme ich nicht so gut klar.

Das erste ernstzunehmende Unternehmen, an dem ich beteiligt war, war der Vorstoß nach Arkon mit der GANYMED. Ich erlebte also auch den bildschönen Reinfall mit, daß ein Riesenroboter auf Arkon die Macht übernommen hatte, man Crest und Thora wie Landstreicher behandelte, und uns auf einem öden Planeten festnagelte, wo man uns anscheinend verschimmeln lassen wollte. Der arkonidische Gouverneur des Planeten war viel zu desinteressiert an den Vorgängen um ihn herum, als daß er auch nur einmal von seinem Fiktivschirm hochgesehen hätte. Letztlich mußten wir -- das wurde langsam zur Gewohnheit -- wieder mal ein Schiff klauen. Nein, ehrlich, die GANYMED haben wir von den Springern, äh, befreit, die STARDUSTII von den Topsidern, die GOOD HOPE von Thora, und die alte STARDUST gehörte eigentlich der Regierung der USA. Klar, wir sind Helden, aber trotzdem, fein ist das nicht!

Die TITAN (so der Name unseres neuen Schiffes) landete dann auf Hamur -- ich hatte das Glück, an Bord der GANYMED zu sein und blieb deswegen von der 'Lachkrankheit' verschont. In einem absoluten Wahnsinnsunternehmen schafften wir es, Aralon, den Planeten der galaktischen Mediziner, zu finden, anzufliegen und das Gegengift . . . äh, siehe oben.

Kein Wunder, daß wir uns nach Abschluß der Aktion überall unbeliebt gemacht hatten. Die Aras, Springer und Arkoniden wünschten uns in ihre jeweiligen Höllen, und der Robotregent gab sich zwar sch . . . freundlich, schien uns aber für eine Bedrohung zu halten . . .

Das Ganze führte letztendlich zu einem Bluff den ich, da er nicht von mir ist, mal als genial bezeichne. Dem Rest der bekannten Galaxis wurde ein unbewohnter Planet im System Beteigeuze als Erde serviert und sie durften ihn kaputtschlagen. Was sie taten. Den Planeten gibt es nicht mehr, und unser ganzer Verein gilt mitsamt der Titan als tot und verdampft und somit fürderhin zu vernachlässigen.

Trotzdem gab es auch in den nächsten Jahren noch höllisch viel für uns zu tun.

Jetzt schreiben wir 1988 und ich habe Urlaub. Ich bummele durch die Stadt, Terrania, und an windigen Tagen schmecke ich den Staub der Gobi in der Luft. Der Wind weht von Südosten, da ist Char Choto, die Ruinen einer Stadt aus der zeit der Mongolenkaiser, die sich Herrscher des Himmels und der Erde nannten. Ruinen seit über tausend Jahren, von Staub und feinem Sand bedeckt, zu Staub und feinem Sand zerrieben. Was sind wir vor der Zeit und vor der Größe des Alls, von dessen "Eroberung" wir in unserem Hochmut manchmal reden, wie die Mongolenkaiser von der Eroberung des Erdkreises redeten und blühende Reiche zertraten unter den Hufen ihrer Steppenpferde . . . Der Staub treibt durch die Ruinen, treibt nach Terrania und läßt mich in der Sommerhitze schaudern.

Es gibt einen Weg der Vergänglichkeit zu entkommen. Als Mitglied des MK steht er mir offen: Der Weg nach Wanderer.

Wanderer. Welt des Geistwesens ES, eine Scheibe, die durch das All zieht auf der, geschützt unter einem Energiefeld eine Landschaft liegt, die an die Erde erinnert und wo Projektionen den Besucher erschrecken oder amüsieren. So erzählte John und grinste über mein skeptisches Gesicht.

Wanderer. Der einzige Grund, warum wir uns nicht völlig lächerlich vorkommen in unserem 'Wir gegen das Universum'. Das Versprechen von ES.

"Warum gerade wir?" fragte ich John. Das wußte er allerdings auch nicht.

Wanderer. Welt des ewigen Lebens. Ich kann hinfliegen. Unsterblich werden. Da bleibt einem die Luft weg. Nie alt werden. Nie keine Zeit für etwas haben. Es klingt wie alles, was man sich je wünschen kann. Wenn ich darüber nachenke wird mir schwindelig. 23 sein. Immer. Alles sehen, was es zu sehen gibt, alles, was geschieht. Ewig jung sein. Und die ganze Ewigkeit für Terra arbeiten. Denn die Unsterblichkeit braucht alle 62 Jahre eine Auffrischung.

John hat diesen Handel gemacht und es scheint ihm nicht leid zu tun. Und ich bring's nicht, ihn zu fragen wie sich das anfühlt, unsterblich zu sein -- zu wissen, daß Zeit und Welt sich unter dir wegdrehen, daß du jeden Menschen, den du kennst (außer jene wenigen Privilegierten) sterben sehen wirst. Und dabei ist diese Unsterblichkeit immer noch, wie sie sagen, 'relativ'. Sehr relativ, wenn dich ein Strahlschuß trifft, dein Raumschiff explodiert oder auch nur jemand mit dem Messer auf dich losgeht. Oder wenn ES es sich eines Tages einfach anders überlegt. Welche Garantien haben wir?

Aber die Garantie, eines Tages zu sterben, haben wir immer, ob wir Wert darauf legen oder nicht. Was Es und Rhodan bieten, ist nur ein anderes Leben. Ein längeres, mit weniger Alternativen, aber auch der Gelegenheit, Dinge zu sehen, von denen man nie geträumt hätte.

Wie kann ich annehmen? Wie kann ich ablehnen?

Ich sagte, diese Entscheidung wollte ich nicht mit 23 treffen. Und nahm Urlaub.

Ich suchte mir eine Wohnung, weit von meinem sonstigen Quartier. Ich denke, ich werde sie auch nach meinem Urlaub behalten. Ich will keine Bungalow am Goshun-See. Ich will unter Menschen leben, solange ich das noch kann.

Ich werde Lissa schreiben. Sie war meine beste Freundin. Vielleicht versteht sie mich. Ich hoffe, sie verzeiht mir, daß ich ihn nicht die Wahrheit über die letzten fünf Jahre gesagt habe.

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Ich schrieb den Brief am 12. August und erhielt eine Antwort, daß Lissa am 18. ankäme. In meinem Brief sagte ich nur, daß ich ein paar Probleme theoretischer Natur hätte und ihr in den letzten Jahren nicht alles geschrieben hätte was wichtig war.

Sie antwortete, sie käme an 18., wenn ich dem Reisebüro bis dahin das Geld für den Flug geschickt hätte, und spekulierte unterhaltsam und realitätsfern über den Grund meiner 'Schwierigkeiten'.

Am Nachmittag des 18. holte ich sie vom Flughafen ab. Ich hatte halb gefürchtet, daß, während sie schon im Flieger saß, irgendein Aufruf der Dringlichkeitsstufe 1 käme, die ganze Galaxis kurz vor dem Schlaganfall stünde, und die privaten Pläne einer Hilfsmutantin natürlich unter den Tisch zu fallen hätten. Aber es geschah nicht.

Ich war pünktlich am Flughafen und fand Lissa in dem Gewühl sofort. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, fand ich. Allerdings sagte sie das gleiche von mir, was ich nicht besonders glaubwürdig fand.

Als wir das Flughafengebäude verließen, konnten wir sehen, wie weiter im Norden gerade ein Raumschiff vom Space Port abhob, ein 200m-Frachter nach Ferrol. Lissa sah ihm nach, bis er zu einem kleinen Punkt am Himmel geworden und schließlich verschwunden war. Aber sie war viel zu praktisch und nüchtern veranlagt um sich unerfüllbaren Träumen vom Raumflug hinzugeben.

Wir sprachen an diesem ersten Abend nicht über meine Probleme. Statt dessen zeigte ich ihr Terrania, alles, was man als Tourist anerkanntermaßen gesehen haben mußte, und alles, was ich für sehenswert hielt. Dann gingen wir Pizza essen und anschließend in eine gute Musikkneipe, wo wir bis zur Sperrstunde blieben und uns dann in einen Tanzschuppen vermachten. Ich redete wenig, und wenn, hilet ich die Illusion, die ich anderen als 'meine Welt' verkaufte, aufrecht. Lissa erzählte von zu Hause, bestellte Grüße von meinen und ihren Eltern und unserer alten Clique. Sie selbst schrieb gerade ihre Diplomarbeit in Elektrotechnik. "Ich denke, heute läuft alles positronisch", meinte ich. "In Terrania vielleicht", knurrte sie. "Komm' du mir bloß nicht an, daß du einen Küchenherd angeschlossen haben möchtest!"

Gegen halb drei landeten wir in meiner Wohnung, zweieinhalb Zimmer fast ohne Möbel. Lissa rollte ihren Schlafsack in dem halben Gästezimmer aus und war schon wegen der Existenz eines solchen beeindruckt.

Wir schliefen, bis uns am nächsten Morgen die Hitze weckte, frühstückten gut, redeten Unsinn und lachten viel. Es war wie in den alten Zeiten, als gäbe es die fünf Jahre dazwischen nicht.

Anschließend machten wir einen Einkaufsbummel, denn natürlich hatte Lissa versprochen, jedem ein Andenken mitzubringen.

In einer Einkaufspassage begegnete uns John. Wir wechselten ein paar Worte, aus denen ich entnahm, daß 'der Geschäftsgang ruhig' war, mein weiterer Urlaub also nicht gefährdet. Lissa stellte ich John als meinen Abteilungsleiter vor, was er sehr komisch fand. Sie merkte aber irgendwie, daß hier ein Hase im Pfeffer lag.

Wieder in der Wohnung machte ich Eistee und dann sollte endlich die Stunde der Wahrheit schlagen. Ich wußte überhaupt nicht, wie ich anfangen sollte, mir kamen hunderttausend Bedenken . . . Lissa kannte mich und diese Schwierigkeiten natürlich und fing an, absurde Vermutungen aufzustellen, um mich zum erzählen zu bringen.

"Was ist nun?", fragte Lissa. "Laß' mich raten: du sollst Kaiserin von Arkon werden?"

"Leider nicht", sagte ich. "Es wäre zwar politisch klug, aber der Kaiser steht mehr auf Brünette."

"Hm, laß mich weiterraten. Man hat dir die Aktienmehrheit der GCC angeboten?"

Ich seufzte theatralisch. "Der Vorschlag ist im Aufsichtsrat gescheitert."

"Offenbar hast du gerade eine Pechsträhne." Sie grinste. "Aha! Es hat etwas mit diesem netten Abteilungsleiter zu tun!"

Sie fiel aus allen Wolken, als ich sagte: "Ja, so kann man das ausdrücken."

"Der ist doch viel zu alt für dich!"

"Er ist 46", sagte ich, "und heißt mit bürgerlichem Namen John Marshall."

Jetzt war es raus, und ich konnte auch den Rest der Geschichte erzählen.

Als ich fertig war, fragte sie etwas unsicher: "Stimmt das alles?"

"Jedes Wort."

"Oh Gott." Pause. "Und das erzählst du mir erst jetzt?!"

Es war wunderbar, daß Lissa da war. Einfach ihre Anwesenheit verschaffte mir einen klareren Kopf als ich seit Jahren gehabt hatte. Sie nahm die Dinge, wie sie kamen und betrachtete mich weder als Freak noch als Wundertier, sondern lachte und meinte "Ich hab' dir ja immer gesagt, daß du Gedanken lesen kannst!" Das war ein ständiger Witz zwischen uns gewesen. In der nächsten Woche hechelten wir abwechseln meine Probleme und die Musikkneipen von Terrania durch und kamen (von der Musik mal abgesehen) auf folgende Schlüsse: Eins meiner Hauptprobleme war offenbar, daß ich nicht wußte, ob ich diesen Job überhaupt ein Leben lang (egal wie lang) machen wollte, und es mir schwerfiel eine Entscheidung zu treffen, da ich nie ein anderes Leben kennengelernt hatte. Lissa schlug vor, ich sollte mich für längere Zeit beurlauben lassen und einfach versuchen, mir ein 'normales Leben' einzurichten. Mit 30 wäre es immer noch früh genug, eine Entscheidung zu treffen.

Es klang so vernünftig und einfach, daß ich mich wirklich fragte, warum ich nicht von selber darauf gekommen war.

Ich fragte sie auch, was sie von meiner Geheimniskrämerei hielt. "Zuerst war ich etwas sauer", sagte sie, "aber du hast recht. Die meisten Leute würden sich doch nur das Maul zerreißen."

"In Ordnung", sagte ich. "Ich habe noch zwei Wochen Urlaub über. Da könnten wir doch eigentlich -- "nach Hause, hatte ich sagen wollen, aber das Wort blieb mir im Hals stecken "nach Stockholm fahren und dem Rest der Leute wüste Lügengeschichten erzählen."

"Na großartig", meinte sie. "Worauf warten wir noch?"

"Auf das nächste Flugzeug", sagte ich.

Wegen der Zeitverschiebung waren wir 4 Stunden eher in Stockholm als wir von Terrania losgeflogen waren.

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