Am 13. Mai 2008 schaffte ich es endlich, Solveig zu erreichen. Im März hatte Viveka ein Klassentreffen vorgeschlagen, und ich hatte mich bereit erklärt, Solveig zu benachrichtigen. Inzwischen bereute ich es. Fast zwanzig Anrufe nach Terrania, nur um zu erfahren, daß sie immer noch nicht da war, waren ein Luxus, den ich mir kaum leisten konnte.

Als sie sich meldete, zeigte ich meinen (zugegebenermaßen nicht ganz gerechtfertigten) Ärger, worauf sie ziemlich giftig wurde und meinte, wie leid es ihr täte, daß ich mir hier die Ohren wund telefonierte, dieweil sie sich auf Dienstreise amüsierte. Das waren ihre Worte.

Ich bemühe mich immer, mir nicht zu genau vorzustellen, was 'Dienstreise' bei Solveig bedeutet.

Auf meine Bitte hin rief sie mich sofort zurück. Ich erzählte ihr von unseren Plänen und brachte sie zu einer halbwegs festen Zusage. Natürlich konnte ich es nicht lassen, sie mit ihrer ständigen Überarbeitung aufzuziehen. Ich frage mich, ob ihr ihre absurde Lage überhaupt bewußt ist. Durch die Art ihrer Anstellung in Verbindung mit der Zelldusche hat sie sich diesem Rhodan völlig ausgeliefert. Wenn sie mal nicht spurt, hat er noch die Auswahl, ob er sie vors Kriegsgericht stellen will oder ihr einfach die Zelldusche verweigern. Ob Solveig das klar war, als sie sich verpflichtet hat? Sie ist manchmal ziemlich impulsiv... und ich habe ihr ja noch dazu geraten! Stürmische Jugend! Mit 24! Das war das Jahr, in dem ich Jason geheiratet habe... vielleicht war das, was ich ihr sagte, von meiner eigenen Furcht beeinflußt, einen Fehler gemacht zu haben und so bürgerlich zu werden, wie wir niemals werden wollten, vielleicht wollte ich für meine beste Freundin ein anderes Leben als ich es hatte - aber vor allem wollte sie es selber, und ich sollte aufhören, mich verantwortlich zu fühlen.

Am Telefon sprach ich ein bißchen mit Solveig über ihren Job, mehr im Flachs, riet ihr, in die Gewerkschaft zu gehen und so. Sie bemühte sich, es lustig zu finden.

Am 2. Juni kam sie an. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Logisch, nicht wahr? Sie verändert sich nicht. Darum geht es ja bei diesen Zellduschen, die Leute wie sie kriegen, wenn sie für die Regierung arbeiten. Mutanten.

Auf der ganzen Fahrt vom Flughafen zu mir guckte sie wie ein Kind im Spielzeugladen. Ich versuchte, das Land mit ihren Augen zu sehen, aber ich sah nur vertraute Straßen, Wiesen und Häuser.

Meinem Garten zollte sie angemessene Bewunderung. In Terrania sind Gärten absoluter Luxus, die Wüste dörrt die Pflanzen schneller aus, als man sie bewässern kann, und die Hälfte des Jahres ist es so kalt, daß der Boden gefriert, wenn man Wasser hinzufügt.

Den ganzen Nachmittag saßen wir draußen, tranken Eistee und klönten. Die interessante Frage war, als was Solveig sich auf diesem Klassentreffen ausgeben wollte. Sicher würde jeder von allen anderen wissen wollen, wo sie lebten und welchen Job sie hatten, und Solveig schien keine übermäßige Lust zu haben, irgend jemanden reinen Wein einzuschenken. Diese Tiefstapelei ist ein Tick von ihr. Normalerweise stylt sich doch auf solchen Treffen noch ein Fließbandarbeiter in der Fischfabrik als 'Konservierungsingenieur'. (Vor 2 Jahren war Jasons 20jähriges und die Geschichte hat er überliefert.) Ich fragte mich, wie unüberzeugt sie von ihrem Job war. Und dann fragte ich sie.

Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen, das wäre besser für meinen Seelenfrieden gewesen. Solveig tat diesen Job (sagte sie), weil sie ihn für notwendig hielt. (Um genau zu sein, sie verglich in diesem Zusammenhang das Militär mit der Müllabfuhr.) Rhodan sei 'das kleinste Übel'. Sie sprach von ihrer Angst, Angst um Terra. Von all dem Mächten da draußen, die uns in die Vergessenheit bomben würden, wenn sie nicht glaubten, wir seien bereits tot und vergessen. Ich habe mir nie klargemacht, daß die Sterne feindlich sein können. Sie machte es mir klar. Ich sagte, ich verstünde, und sie sagte, nein, das täte ich nicht. Und erzählte mir, was auf ihrer letzen 'Dienstreise', kaum zwei Wochen vor meinem Anruf, passiert war. Um es kurz zu machen, sie hatte einen dieser galaktischen Händler erschossen. Notwehr, so wie sie es schilderte, aber ich rastete einfach aus. Ich dachte, sie wollte mich mit dieser Geschichte provozieren oder auf die Probe stellen, und solche Spielchen kann ich nicht ab. Erst als sie auf meinen Ausbruch nichts tat, als unglücklich zu gucken, kapierte ich, daß sie keine Spielchen spielte.

Ich war trotzdem wütend, wenn auch hauptsächlich auf mich selber. All die Jahre hatte ich mit Fleiß verdrängt, daß Solveigs Job bei allem Glamour und Abenteuer darin bestand, Menschen (im weiteren Sinne) zu töten, und jetzt stieß sie mich mit der Nase darauf. Was erwartest du jetzt von mir, fragte ich, daß ich dir sage, daß es in Ordnung ist?

Sie schüttelte den Kopf. Du bist die Erste, die nicht sagt, daß es in Ordnung ist, sagte sie. Alle anderen geben mir das Gefühl, daß ich verrückt bin, wenn es mir etwas ausmacht, jemanden getötet zu haben.

Und ich kapierte, daß der ganze Streß, den ich mir gemacht hatte, um zu verdrängen, daß Solveig Blut an den Händen hatte, bis vor zwei Wochen unnötig gewesen war. Und daß jetzt verdrängen nicht half.

Solveig war schockiert über ihre Tat. Wir alle haben Regeln gelernt, haben gelernt, was gut und was böse ist, und die Terranier, völlig sicher, die Guten zu sein, haben es nie nötig gefunden, ihre Handlungen weiter als das zu rechtfertigen. Während Solveig, wie sie sagte, sich zwar damit abgefunden hatte, für Terra zu sterben, aber nicht damit, für Terra zu töten. Dumm, dumm, dumm, sagte sie, ich hätte es wissen müssen, ich habe es vergessen, und jetzt stehe ich da und weiß nicht, was ich damit tun soll. Nach welchem Kodex ich leben soll.

Solveig glaubt an Prinzipien. Ich schlug ihr vor, nicht mehr daran zu glauben. Ihre Intuition müsse ihr doch sagen, ob eine Tat gut oder böse sei. Ich klang wie Jason auf seinem Selbstfindungstrip. Intuition, sagte sie, habe ihre Hand nicht zurückgehalten und würde es auch nicht tun, wenn sie wieder in die gleiche Lage käme.

Dann kam Jason heim und Solveig schaltete um und verbreitete den Eindruck, als hätten wir den ganzen Nachmittag nur über die Guten Alten Zeiten geredet. Die Frau ist unheimlich.

***

Am nächsten Tag fuhren wir ans Meer und setzten, nachdem wir geschwommen waren, unser Gespräch fort. Wenn Solveig Antworten brauchte, konnte sie die nur selber finden, aber ich konnte ihr die richtigen Fragen stellen. Das habe ich immer gekonnt, so haben wir uns kennengelernt: Ich fragte sie, wovor sie Angst hätte. Am nächsten Tag sagte sie mir, sie wisse es nicht, und das sei ein Skandal. Sie änderte ihr Leben, und wir wurden Freundinnen. Das ist 30 Jahre her.

Wenn du nicht, weißt, was gut ist, sagte ich, was ist denn böse? Was ist so böse, daß du es nicht tun würdest, egal was passiert?

Sie dachte nach als testete sie den Geschmack der Worte. Schließlich sagte sie: 'Ich würde keine Zivilisten in dieses Spiel hineinziehen. Denn wenn das, was ich tue, irgendeinen Sinn haben soll, dann ist es der, Zivilisten zu schützen.'

Ich wollte wissen, was für sie ein Zivilist war. Der Weg zur Hölle, haben wie in der Schule gelernt, ist mit unklaren Definitionen gepflastert.

'Leute, die dieses Spiel nicht gewählt haben', sagte sie.

Ich verstand das nicht ganz, aber bei ihr schien das Licht angegangen zu sein. Nach einer Weile fand ich heraus, das sie sagte, jeder solle seine Art zu leben wählen und gemäß dieser Wahl behandelt werden. Die einzige Rechtfertigung, eines Soldaten, der tötet, sei, daß er selber sein Leben riskiert und daß sein Gegner mit dem gleichen Wissen und unter den gleichen Voraussetzungen kämpft.

Das erschien mir durchaus vernünftig. Aber kaum sagte ich das, zogen bei Solveig wieder Wolken auf, und sie sagte, daß dieser Springer es nicht gewählt habe. Er sei völlig überrascht gestorben, er sei nicht bereit gewesen, sein Leben zu riskieren.

Wut packte mich. "Das hätte er aber verdammt noch mal besser sein sollen!"

Solveig starrte mich entgeistert an.

"Wenn er bereit ist, jemanden in den Rücken zu schießen", führte ich aus, "dann soll er sich nicht beklagen, wenn sein Opfer sich wehrt! Das hast du nämlich vergessen", sagte ich, ruhiger werdend, "daß jeder damit rechnen sollte, so behandelt zu werden, wie er es mit anderen tut!"

Solveig starrte mich mit großen Augen an und gab zu, daß ich recht hätte. Die Frau braucht jemanden, der die auf das Offensichtliche aufmerksam macht.

Dann lachte sie, etwas ironisch. "Ich weiß nicht, warum, aber ich fühle mich jetzt besser."

Ich fühlte mich nicht besser. Sie würde weitermachen, wieder in den Weltraum fliegen und einen Job tun, den sie für notwendig hielt - und ich hatte Angst um sie. Denn was in unserer ganzen Diskussion nicht aufgetaucht war, war die einfache Tatsache, daß der Springer zuerst auf sie geschossen hatte. Sie hätte sterben können, während ich immer noch versucht hätte, sie zum Klassentreffen einzuladen. Ich hätte sie einfach nie wiedergesehen. Solveig schien keinen Gedanken daran zu verschwenden. Sie saß da, den Wind in ihren Haaren und sah auf die Schären hinaus, und ich hätte ihr gerne gesagt, 'Bitte mach so was nicht mehr' oder 'Paß auf dich auf', aber das sagt man einer Freundin nicht, wenn man 44 ist.

Schließlich sagte ich. "Du sagtest, du hättest Angst um Terra. Hast du keine Angst um dich?"

Sie gab mir die Frage auf eine Art zurück, die mein eigenes Gefühl der Sicherheit und den sonnigen Nachmittag in tausend Stücke schlug. Und indem sie mich fragte, ob nicht ICH Angst hätte, 44 Jahre alt, die bessere Hälfte des Lebens hinter mir, in einer Welt, die ich nicht lenken könnte, in einem Universum, dem ich gleichgültig war, mit einem Garten, dessen Obstbäume mich überleben würden - ob es mir nicht grausen würde, wenn ich an all die Zeit dachte, die vergangen war, an all die nicht ausgeführten Pläne, die unterwegs aufgegebenen Hoffnungen. Und endlich begriff ich, warum sie zum MK gegangen war.

"Doch", sagte sie dann, "ich habe Angst. Angst vor dem Tod, wie jeder Mensch, Angst davor, unseren Gegnern lebend in die Hände zu fallen und diejenige zu sein, die Terra verrät. Vor jedem Einsatz habe ich weiche Knie, auch wenn ich das niemals zugeben würde. Und trotzdem gehe ich, melde mich sogar freiwillig. Schließlich hast du mir beigebracht, daß man das, was man fürchtet, herausfordern soll."

"Solveig, du bist völlig verrückt! Das habe ich nie gesagt!"

"Nein, aber du hattest trotzdem recht."

Zum Teil stimmte es sogar. Als ich 15 gewesen war, war das meine Lieblingstaktik gewesen. Aber ich war nicht mehr 15. "Und", fragte ich, "bist du glücklich damit?"

Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. "Ja", sagte sie.

Was kann man dem noch hinzufügen.

Am nächsten Tag kam Sören nach Hause. Mein Herr Sohn hatte mal wieder eigenmächtig sein Wochenende verlängert. Täte er das nicht, sagt er, würde es sich überhaupt nicht lohnen, von Petersburg heim zu kommen, und seine Noten sind gut genug, daß er sich etwas Schwänzen leisten kann. Zum nächsten Semester hat er sich um ein Stipendium für Terrania beworben. Wenn er da mal nicht in schlechte Gesellschaft gerät. Ach, was mach' ich mir Sorgen. Sören ist mit 19 vernünftiger als Solveig je sein wird.

***

Der nächste Tag war Donnerstag, der 5. Juni. Wie es sich gehörte, regnete es, als wir aufbrachen. Viveka hat ein großes Haus auf einer der Schären gemietet, und ich hatte ihr versprochen, früh zu kommen und bei der Vorbereitung zu helfen. Bis ich meine Siebensachen gepackt hatte, klarte auch der Himmel auf, und als wir auf der Fähre waren, schien die Sonne. "Und was wirst du jetzt erzählen?" fragte ich.

"Das übliche."

"Keine Chance auf erschütternde Enthüllungen?"

Wir lachten, obwohl es bei Solveig etwas gezwungen klang. Nach dem, was ich in den letzten Tagen von ihr erfahren habe, würde ich an ihrer Stelle auch Märchen erzählen.

"Hej, ihr Kichererbsen!" rief plötzlich jemand hinter uns. Ich brauchte zwei Sekunden, um Ulf zu erkennen. Er war so braun wie ein Indianer. Ich zuckte zusammen, als hätte meine Mutter mich am Siruptopf erwischt. "Hab' ich euch erschreckt? Tut mir leid. Was gibt's zu lachen?"

"Ich hab' nur gerade die Geschichte von dem Arzt, dem Architekten und der Kybernetikerin erzählt", sagte Solveig, und als Ulf fragend guckte, erzählte sie ihm den Witz. Ulf lachte, wir gingen zum Smalltalk über, und als das Schiff ankam, waren wir schon beim 'weißt du noch'.

Das Haus, daß Viveka gemietet hatte, war ein Palast mit eigenem Anlegesteg und Nebengebäuden. Viveka empfing uns mit Besen, was Ulf und Solveig lautes Lamento über ihre jeweilige Unfähigkeit zu hausfraulichen Tätigkeiten entlockte. Schließlich warf Viveka angewidert die Arme in die Luft und teilte Solveig zum Holzhacken und Ulf zum Kistentragen ein, während sie und ich fegten, Kaffee kochten und über 'richtige Männer' lästerten. Wenigstens spielt ihrer nicht Selbstfindung, dafür scheitert sein technisches Verständnis am 'ein'-Knopf der Waschmaschine.

Als Solveig wieder reinkam und demonstrativ über ihre Handflächen pustete, mußte Viveka lachen. "Habt ihr in Terrania dafür auch Roboter?"

"Terrania?" Ulf wurde hellhörig. "Was machst du in Terrania?"

"Ach, ich schlag' mich so durch."

"Mädchen, du erzählst Geschichten. Ich war da - die Stadt hat Zuzugsbeschränkungen! Hast du reich geheiratet?"

"Nö. Ich schaff' für die Regierung."

Ulf lachte. "Du kriegst die Tür nicht zu! Solveig als Regierungsbeamte mit Kündigungsschutz und Pensionsanspruch! Du enttäuschst mich!"

Solveig grinste etwas säuerlich. "Was hast du denn erwartet, Bankräuberin? Wie verdienst du deine Brötchen?"

"Ich überfalle keine Banken, ich gründe welche. Außenweltvertreter, GCC-Finanz."

Solveig pfiff durch die Zähne. "Macht's Spaß?"

"Man kommt rum. Venus, Mars, die Titansiedlungen, Ferrol, Callies... Meine Kinder sagen 'Onkel' zu mir. Nach der letzten Beförderung kann ich auf Terra bleiben, wenn ich will, und das paßt mir ganz gut. Ich werde zu alt für diese Hyperraumsprünge." Er lachte. "Wenn ich daran denke, daß wir als Kinder alle Raumfahrer werden wollten... na, ich bedauere jeden, der's geworden ist."

***

Am frühen Abend, als wir mit belegten Broten auf der Veranda saßen, erschienen Sven, Ole und Arved. Ich war nicht besonders erfreut darüber, gerade die drei wiederzusehen, und Solveig, die unsere Klasse aus einer etwas anderen Perspektive kennengelernt hatte, schien plötzlich auf Krawall gebürstet. "Hej!" begrüßte Sven die ganze Runde, dann sah er Solveig an. "Hallo Bohnenstange!" Sven kommt sich immer sehr humorvoll und mitreißend vor. "Hallo Hohlkopf", sagte Solveig freundlich.

Es hört nie auf, dachte ich in diesem Moment. Klassentreffen sind Zeitreisen, Zeitschleifen. Wir blicken nicht zurück, wir gehen zurück, wir werden, was wir waren, und jeden Moment wird Stefani auftauchen und Solveig wird eine Schlägerei mit ihr anfangen.

Sven ballte die Fäuste. "Du hast dich gar nicht verändert. Du verstehst immer noch keinen Spaß."

Ich glaube, wenn nicht in diesem Moment Cheryl, Ellen und Eva gekommen waren, die etwas länger von der Fähre gebraucht hatten als die Jungs, wäre der Abend hin gewesen. Solveig fletschte schon die Zähne.

Cheryl stürmte nur so herein und begrüßte uns, wie es ihre Art war, alle mit Umarmung und Küßchen. Solveig schnitt darob ein genauso belämmertes Gesicht wie Sven. Grins. Cheryl war immer schon ein Wirbelwind und daran hatte sich nichts geändert, obwohl sie etwas breiter um die Hüften geworden war und eine Menge Lachfältchen hatte - man sah ihr an, daß Zeit vergangen war. Ellen dagegen wirkte immer noch blaß und wie mit dem Lineal gezeichnet. Sie malt, und ihre Bilder sind wild und stark und voller Farbe. Ich war auf ihrer ersten Ausstellung, und habe eine Orgie in Rot und Orange gekauft, die inzwischen fast wertvoll ist. Eva, schon in der Schulzeit die Dritte im Bunde, kam als letzte. Aus einem unbeholfenen großen Mädchen war eine grauhaarige Matrone geworden, die nicht so aussah, als würde sie sich von irgendwem irgendwelchen Blödsinn bieten lassen. "Puh", sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen. "Wir sind alle zusammen mit der letzten Fähre gekommen, aber diese Helden mußten ja unbedingt vorausrennen... Tach zusammen!"

Wir unterhielten uns gut. Eva macht auf Muttertier - reicher Mann, acht Kinder, großer Gott -, Cheryl ist Redakteurin einer Frauenzeitschrift. Ellen, die damals Mathe studiert hat, weil sie das Malen für eine brotlose Kunst hielt, hat vor Jahren den Rechenschieber an den Nagel gehängt und lebt jetzt vom Malen - so kann's gehen.

Als es dunkel wurde, verschwanden wir in unseren Zimmern. Ich teilte eins mit Solveig und sagte ihr, sie hätte sich mal wieder unmöglich benommen. "Wegen Sven, meinst du? Ich hab' noch nicht mal angefangen. Das wird noch lustig mit denen."

Oh oh. "Wie meinst du das?"

"Ist dir an ihnen nichts aufgefallen?"

"Hätte mir etwas auffallen sollen?"

Sie grinste nur.

Früher hatten wir uns oft solche Rätsel aufgegeben. Na warte, dachte ich, das kann ich noch. Der Trick ist, zu verstehen, wie der andere denkt. Was immer es war, Solveig war es sofort aufgefallen und sie rechnete damit, daß ich es merken würde, wenn ich darüber nachdachte. Also dachte ich nach und überließ es Solveig, die Betten zu machen.

Die drei hatten Zusammengehörigkeit demonstriert, fiel mir auf. Sie mußten zusammengeblieben sein, zumindest auf die Art wie Solveig und ich. Das reichte aber nicht für ein 'das wird noch lustig mit denen'. Was wäre 'lustig'?

Ich hörte Solveigs Antwort, als hätte sie sie gegeben. Terranier, das wäre lustig. Ich ließ ihre Sprache, ihre Bewegungen, ihr Auftreten vor meinen Augen noch einmal ablaufen. Etwas zu zackig, zu selbstsicher. In Gedanken packte ich sie in grüne Uniformen und grinste zufrieden. Es paßte alles. Und 'lustig'... Ja, durchaus.

"Arved steht Grün nicht besonders, findest du nicht? Ich hoffe du planst nicht, sie den Löwen vorzuwerfen?"

"Das kriegen die schon selber ganz gut hin", murmelte Solveig abwesend.

Etwas in ihrem Ton ließ meine Alarmglocken klingeln. "Was ist los?"

"Menschen", sagte sie. "Ich habe heute abend dagesessen und mich völlig irreal gefühlt. Wenn das hier Terra ist, habe ich nie hier gelebt und wenn dies Menschen sind, kenne ich keine."

Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. "Was macht dich so anders?" fragte ich.

"Die Dinge, die ich nicht habe", sagte sie. "Freunde, die die Wahrheit wissen dürfen - außer dir. Einen Platz für mich allein. Pläne. Vertrauen in die Zukunft."

Solveig hat manchmal dramatische Momente, und dies hier drohte einer zu werden. "Du überschätzt uns Normalos", sagte ich leichthin.

"Vielleicht", murmelte sie und schaltete das Licht aus.

***

Als ich aufwachte, war Solveig schon fertig angezogen und frisch wie der junge Morgen. Ihre Haare waren naß und ich bemerkte einen schwachen Geruch nach Meer. "War's naß?" erkundigte ich mich.

"Kalt war's. Aber gut."

Wir gingen zum Haupthaus, wo die ersten gerade zum Frühstücken eintrudelten. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Sven, Ole und Arved. Ihr Verhalten fiel mir jetzt deutlich auf und es war leicht, sie mir in den grünen Uniformen der Raumflotte vorzustellen - etwas, daß ich bei Solveig nie geschafft hatte. Außer uns schien niemand es mitgekriegt zu haben - ich nehme an, die drei wollten die Bombe platzen lassen, wenn sie etwas mehr Publikum hatten. Raumflotte, naja immerhin, Mumm hatten sie.

Ulf fragte, ob wir segeln wollten. Cheryl schloß sich uns an. Wir verbrachten den Vormittag auf dem Wasser und Solveig holte sich einen Sonnenbrand, was Ulf mit einer Bemerkung über Amtsstuben quittierte, die ihm eine sofortige kalte Dusche einbrachte.

Mit dem Mittagsschiff kam unter anderem ein durchgeistigt aussehender Typ an, in dem ich Tomas erst erkannte, als er zu sprechen begann. "Na, bist du Lehrer geworden?" fragte Solveig. "Nee - Professor! Und du? Buchhändlerin?" Sie imitierte seinen Ton. "Nee - Raumfahrerin!" Alle lachten.

"Einen Job bei der Regierung", beeilte sich Ulf mitzuteilen. "Unkündbar mit Pensionsberechtigung."

Tomas guckte uns an als wollten wir ihn veräppeln und meinte, das Leben sei voller Überraschungen. Raumfahrerin hätte er Solveig eher zugetraut als Sesselwärmer.

"Hee, es ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit-", begann Solveig zu flachsen, als unser militantes, äh, militärisches Trio fand, es müsse sich einmischen. Sie hörten 'Raumfahrerin', spitzten die Ohren, peilten die Lage, peilten nichts und latschten voll rein.

"Raumfahrerin", sagte Arved, "das ist noch nichts für 'ne Frau!"

Solveig grinste mir schief zu, ich hab's dir ja gesagt.

Tomas zog eine Augenbraue hoch. "Meines Wissens gibt es Frauen bei der Raumflotte, wenngleich nur eine geringe Anzahl."

Arved schnaubte "So ein Blödsinn", und Ole setzte zu dem in diesem Zusammenhang unvermeidlichen Witz mit dem Kolonistenschiff an. Ehe es zu peinlich wurde, gab ich die fällige Vorlage. "Und wie kommst du an deine Weisheiten?"

"Wir sind bei der Raumflotte", sagte Sven und wuchs um ein paar Zentimeter.

Das Trio stand sofort im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mich überraschte das, bis ich mir klarmachte, wie weit weg die Sterne für die meisten Menschen immer noch waren. Schon Terrania war Legende. Ich dagegen, die ich Solveigs Geschichten gewöhnt war, alle Mutanten mit Vornamen kannte und auf Betty Toufrys 40. Geburtstag Zeugin geworden war, wie Gucky mit drei vollen Sektgläsern jonglierte, ohne eins davon anzufassen, zeigte mich offenbar so wenig beeindruckt, daß Arved meinte, ich würde ihnen wohl nicht glauben!

Solveig hat recht. Tiefstapeln macht Spaß.

Sie waren alle drei Captains (nicht schlecht, wenn man bedenkt, daß Gucky nur Leutnant ist). Sie erzählten Anekdoten, aus denen klar hervorging, daß Raumsoldaten - terranische Raumsoldaten - die tollsten Kerls der Galaxis waren, und sprachen mit einer Art von Ehrfurcht von Marschall Freyt, die sich nur schwer mit dem Bild, daß Solveig von ihm zeichnete ('ein Schäferhund - treu, mutig, kompetent und unoriginell') vereinbaren ließ.

Ich stellte Ole, der gerade von der Aushebung einer Überschweren-Basis erzählte, Solveig gegenüber und fragte mich, ob Ole je von irgendwelchen Zweifeln beleckt worden war, und ob das Vorhandensein von Dummköpfen einen ernsthaften Makel in Solveigs Philosophie darstellte.

Ich war nicht die einzige Skeptikerin. Tomas runzelte die Stirn. Ellen sagte: "Wie kann irgend etwas gutes an einem Job sein, bei dem es dazugehört, auf Menschen zu schießen?"

Einige Sekunden war es still, dann machte Sven den Mund auf, um zu antworten, aber Solveig kam ihm zuvor. "Das Gute ist", sagte sie in einem schwer zu deutenden Tonfall, "daß man überlebt."

Das hatten sie nicht erwartet, nicht von Solveig, die in unserer Schulzeit als Pazifistin bekannt gewesen war (den Zwischenfall mit Stefani hatten die meisten nicht miterlebt) und als jemand, den sogenannte 'Sachzwänge' nicht beeindruckten. Sie starrten sie an, als hätte die Wand geredet, Ellen irritiert, Tomas fragend, Ulf völlig verwirrt, der Rest irgendwo dazwischen. Nur Ole selber begriff anscheinend gar nicht, daß ausgerechnet Solveig seine Partei ergriffen hatte.

"Zu einem Streit gehören immer zwei", sagte Eva entschieden.

"'Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben...'", zitierte Solveig.

"Ich halte die Terranier nicht gerade für die Frömmsten", bemerkte Tomas. "Terras Expansion läßt sich durchaus als aggressiver Akt betrachten. Und Siedlungsprogramme lösen unsere Probleme nicht. Sie schaffen lediglich eine vorübergehende Prosperität, die die grundlegenden Differenzen der Gesellschaft verschleiert."

"Diese vorübergehende Prosperität verschafft uns Zeit, die Probleme anzugehen."

"Und wann wurde in der menschlichen Geschichte derart gewonnene Zeit jemals für Veränderungen genutzt? Alles was sie bewirkt, ist ein weiter-so-Denken, eine Zementierung bestehender Verhältnisse!"

Solveig seufzte. "Vielleicht. Aber davon ab: daß die galaktischen Reiche keine Konquistadoren-Mentalität haben, ist eine unbewiesene Annahme. Und eine ziemlich kühne. Galaktische Reiche entstehen nicht aus einer Politik des Laisser-faire heraus. Wir sollten immer auf das Beste hoffen, aber auf das Schlimmste vorbereitet sein."

"Wen oder was willst du eigentlich rechtfertigen?" fragte Ellen.

Fast hörte ich Solveigs Stimme 'Mich', aber sie schwieg. Statt dessen mischte sich Arved ein und bewies, daß er von dem ganzen Gespräch aber auch gar nichts kapiert hatte. Er maulte nämlich Solveig an, was sie den schon für eine Ahnung hätte (und fing sich einen Rippenstoß von Sven dafür ein). Solveig lachte kurz. "Mehr als du."

Jetzt kommt's, dachte ich, aber Arved war sprachlos und Vivi, die perfekte Gastgeberin, wechselte schnell das Thema.

***

Im Laufe des Nachmittags und Abends trafen so ziemlich alle anderen ein. Viv hatte offenbar weder Kosten noch Mühen gescheut, um alle aufzutreiben. Alle (fast alle) stellten Erfolg und das hinreichende Vorhandensein von Geld zur Schau. Die Frauen trugen modische Kleider, die Männer mehr oder weniger geschmackvolle Freizeitanzüge, und bald kam ich mir in meinem Räuberzivil so underdressed vor, daß ich mich doch noch in mein kleines Schwarzes warf, das ich in einem Anfall von Feigheit eingepackt hatte. Dabei ärgerte ich mich über meine Anpasserei. Solveig, wie üblich, schien nicht einmal zu merken, daß sie herumlief wie eine Studentin anstatt wie eine Staatsbeamte. Wenn unser militantes Trio ein Beispiel für die Leute war, mit denen sie normalerweise zu tun hatte, war es kein Wunder, daß sie ein dickes Fell gegenüber Erwartungshaltungen entwickelt hatte. Sie war sehr still den ganzen Abend, und ich machte mir etwas Sorgen um sie. Die anderen sprachen um so eifriger von sich, und gegen elf, als es langsam dunkel wurde, waren sie bei den Familienfotos, die ich in letzter Sekunde noch aus meiner Handtasche geschmissen hatte, um gegen dieses Niveau immun zu sein. Arved und Co. redeten natürlich am meisten.

Mit dem letzten Schiff kam Nikki, und Solveig fiel ihm fast um den Hals. Wir hatten kaum mit ihm gerechnet, und er trug erwartungsgemäß keinen Erfolg zur Schau. Nikki war immer genial, heiter und gänzlich ohne Sitzfleisch gewesen. Solveig und ich waren damals beide in ihn verknallt gewesen und hatten viele ernsthafte Diskussionen darüber geführt, welche von uns ihn mehr verdiente, während Nikki unser Problem auf der 'gerade Tage Lissa - ungerade Tage Solveig'-Schiene löste. Ich finde heute noch, es spricht für den guten Charakter aller Beteiligten, daß wir nie wütend aufeinander wurden. Jetzt gab er seine Profession vergnügt mit 'Abenteurer und Taugenichts' an. Er erzählte phantastische Geschichten, aber irgendwann, als wir neues Bier holten, fragte er mich, was Solveig denn jetzt tue.

"Hast du es nicht gehört?" fragte ich. "Gestern war es der Witz des Tages."

"Sie haben mir etwas gesagt." Nikki wirkte nicht überzeugt. "Ist es wahr?"

"Frag sie selber", sagte ich kurz.

Nikki sah nachdenklich aus. Solveig und ich hatten einen Ruf als ehrliche Bastarde gehabt, die mit einer Wahrheit mehr Verwirrung stiften konnten als andere mit zehn Lügen, und Nikki erinnerte sich offensichtlich daran.

Nach einer Weile bemerkte ich, daß Nikki, Solveig und Ann-Britt offenbar verdunstet waren. Ich suchte nach ihnen und erwischte sie dabei, Zahnpasta auf die Türklinken zu schmieren und Schnürsenkel zusammenzuknoten. Ich verfluchte sie als 'unmöglich' und beteiligte mich. Anschließend gingen wir zum Wasser herunter, beobachteten den Sonnenaufgang, tranken Scotch und rauchten Grass, das irgendwoher aufgetaucht war, und fühlten uns völlig in Frieden miteinander, mit uns selbst und der Welt, während vom Haus aus die ersten empörten Kreischer verrieten, daß unsere Späße angekommen waren. Ann hatte ihre Klampfe dabei, wir versuchten, uns an alle Strophen von "Those Were The Days" zu erinnern, und es war die verdammt beste Sommernacht, die wir in den letzten zehn Jahren gehabt hatten, fanden wir alle.

***

Am Samstag erschien unsere Viererbande als letzte beim Frühstück und begegnete einigen zornigen Blicken mit großen, harmlosen (wenn auch etwas blutunterlaufenen) Augen. Arved murmelte irgendwas militärisches, was wohl ein Witz sein sollte, denn seine Tischseite johlte. "Leute, erinnert mich daran, nie zur Raumflotte zu gehen - nur, falls ich eines Tages senil werden sollte", sagte Solveig hörbar. Wir versicherten ihr, das zu tun.

Der Tag verging ohne besondere Ereignisse. Solveig, nach dem zweiten Kaffee wieder ihr altes unkaputtbares Selbst, diskutierte mit Tomas Staatstheorie (Gott steh' uns bei, der Junge ist Politologe geworden - und er hätte doch so viele nette Sachen machen können!) und war somit explosionsfrei geparkt und ich spielte mit ein paar anderen Strandvolleyball, mit mehr Eifer als Talent, wie üblich. Ich suchte Ulf, als ich endlich beschlossen hatte, zu alt für solchen Unfug zu sein (von meinen Knien ganz zu schweigen), aber der quasselte mit Sven über Geldangelegenheiten und Hyperraumflüge. Also schloß ich mich Cheryl und ein paar anderen an, die am Küchentisch saßen und über Männer lästerten. Arved und Ole erreichten fast so gute Lästerwerte wie die jeweiligen Ehemänner. "Solveig wird weich auf ihre alten Tage", sagte Ingrid. "Früher hätte sie diese Hohlköpfe auseinandergenommen, anstatt sie noch zu verteidigen!"

"Was hat sie getan?" fragte Kristi, die die Szene gestern verpaßt hatte.

Ich hatte gehofft, solchen Gesprächen zu entkommen. Vergebens. Klar - Solveig war jemand gewesen in unserer Klasse, nicht das beliebteste Mädchen vielleicht, aber eine, die man mit Respekt behandelte und auf deren Meinung man hörte. Sie hat unsere Abiturrede gehalten, weil das Festkommitee der Ansicht war, sie habe von uns allen am ehesten etwas zu sagen. Natürlich interessierte man sich dafür, was aus ihr geworden war, und diese lächerliche Geschichte mit der 'Staatsbeamten' wollten viele schon deswegen nicht glauben, weil sie zuviel ihrer eigenen Träume auf die eine von uns projiziert haben, die so aussah, als könnte sie es schaffen, etwas besonderes zu sein. Hatte ich nicht das gleiche getan?

Ingrid erzählte die Geschichte. "Scheißleben", sagte Kristi, "wenn selbst die besten von uns staatstragend werden. Ich dachte, wir könnten dem Erwachsenwerden entgehen." Sie guckte unglücklicher als der Sache angemessen war. Wir wechselten schnell das Thema. Männer waren definitiv witziger.

Zum Abendessen war eine große Festtafel bestellt, und wer noch nicht in feinen Plünnen war, gab spätestens jetzt den Widerstand auf. Nur Solveig und Nikki kamen zu spät, naß und barfuß und brachten eine willkommene Erleichterung der Festtagsstimmung, die aufzukommen drohte. Cheryl, die mir gegenüber saß, murmelte "Das ist mal eine, die dem Erwachsenwerden entgeht! Scheiße, ich wünschte, ich wäre so erfolgreich damit! Staatsbeamte, meine Fresse! Wahrscheinlich ist sie Juwelendiebin!" Ulf sah mit gespieltem Schrecken auf seine goldene Krawattennadel.

Viveka hielt eine - erfreulich kurze - Rede, Erik trug ein - leider weniger kurzes - Gedicht in Knüttelversen vor, das so unoriginell war, daß er es wahrscheinlich aus einem Buch hatte. Das Essen war vom Feinsten, Bier und Wein flossen in Strömen, und wir gingen sehr schnell zum gemütlichen Teil über.

Es hätte so schön sein können, hätte nicht Arved zwei Plätze weiter gesessen, zuviel Bier getrunken und versucht, Tina zu beeindrucken.

Sie rissen Springerwitze, die relativ populär sind, erzählten von irgendeiner Raumschlacht ('wir vor weißnichwo mit einem Versorgungsschiff und drei Jägern gegen fünfzehn Walzenraumer!'), landeten dann wieder bei ihrer ausgehobenen Überschwerenbasis und wie die alle vor ihnen davongelaufen waren wie die feigen Hunde, die sie waren. Solveig guckte, als hätte sie Zahnschmerzen. Sie und ihre Kollegen entwickeln eher einen solide dunkelgrauen Humor, wie nicht anders zu erwarten, wenn man tagtäglich gegen eine Übermacht steht. Ole warf etwas ein, den Namen eines Schiffes, und Solveig, plötzlich aufmerksam, wandte sich unseren Helden zu. "Wo war das?" fragte sie.

Ole wirkte verwirrt. Arved sagte irgendeinen Namen, der mir nichts sagte. Solveig wurde weiß um die Nase. Sie tut das wirklich. "Ha'lhra VI war ein Massaker", sagte sie, betonte den Namen ganz anders als Arved es vorher getan hatte. "Als die Verstärkung kam, war Terra mit einer dreifachen Übermacht da. Fünfhundert Kampfroboter. Die einzigen, die Verluste hatten, waren die Kundschafter, die als erste rein sind, weil es hieß, die Basis sei verlassen."

Oh mein Gott. Hieß das...

"Wo hast du denn den Schwachsinn her?" fragte Sven.

Ole griente. "Aus einem von ihren defätistischen Pazifistenblättern. Wenn es nach ihr ging, würden wir alle unter der Herrschaft eines arkonidischen Roboters vor unseren Fiktivschirmen hängen."

"Sind doch nur Springer", meinte Arved. "Nach denen kräht sowieso kein Hahn."

Solveig sprach leise und sehr artikuliert. "Und welcher verdammte Hahn", sagte sie, "wird nach euch krähen - oder nach irgendeinem von uns - wenn wir tot sind?"

Es war eine von diesen Bemerkungen, die betretenes Schweigen hervorrufen. Sven räusperte sich. "Und das ist der Grund", sagte er mit weiser Miene, "warum Weiber in der Raumflotte nichts zu suchen haben. Die können nichts ab und fangen gleich an zu flennen wenn mal einer den Löffel abgibt."

Ich trat Nikki, der den Wortwechsel fasziniert verfolgte, gegen's Schienbein: Tu was!

"Sicher", sagte Solveig. "Im Gegensatz zu kinnlosen Helden, die sich brüsten, fünfhundert Kampfroboter auf einhundertsechsundachtzig verdatterte Springer gehetzt zu haben, während ihr Schiff hundert Lichtjahre entfernt zum Auftanken lag!"

Arved kuckte verwirrt. Ole plusterte sich auf. "Du Sesselfurzerin glaubst doch, ein Lichtjahr ist etwas, was auf deiner Stromrechnung steht..."

Vivi hatte sich von hinten herangeschlichen. "Hör mal, Solveig", sagte sie, "wir versuchen hier 'ne Party zu feiern, also nimm dich bitte etwas zusammen und halte keine pubertären Volksreden."

Tomas räusperte sich. "Äh, Vivi..."

Sie funkelte ihn an. "Ich will hier nur ein bißchen Ruhe und Frieden! Ich hab' eine Menge Arbeit..."

Nikki war aufgestanden und neben Vivi geglitten. "Ist doch klar, Vi", sagte er beruhigend. "He, du weißt doch, wie diese jungen Leute werden, wenn sie Politik diskutieren...", Er grinste sein patentiertes zehnjähriger-Lausebengel-Grinsen, das in den meisten Frauen die mütterliche Ader hervorbringt und Vivi beruhigte sich. Tomas schaute von Solveig zu mir mit einem 'es gibt ein logische Erklärung'-Blick. Solveig begann, leise zu lachen. "Gebt mir ein Pferd und nennt es Rosinante", murmelte sie.

Tomas schob ihr kommentarlos den Brandy rüber. Solveig kippte sich einen doppelten ein und trank ihn auf Ex. Ich erwartete halb, daß sie das leere Glas gegen die Wand werfen würde, aber zum Glück verzichtete sie darauf. Arved turtelte wieder mit Tina. Ole bat Cheryl um den nächsten Tanz. Draußen begann es zu regnen.

Ich sah gerade aus den Fenster, deswegen sah ich es zuerst. Ein dunkler Gleiter landete im Garten. Ein echter Gleiter, mit Antigrav, der etwas über dem Boden hing. Wer kommt denn da noch, war mein erster Gedanke, und daß, wer auch immer es war, WIRKLICH an Geld gekommen sein mußte, diese Dinger kosten ein Vermögen. Dann klopfte es an der Tür, und es war nicht das Klopfen von jemandem, der zu spät auf eine Party kommt. Vivi eilte zur Tür. Solveig neben mir zankte sich gerade mit Ulf, wer damals die weiße Maus im Klassenzimmer losgelassen hatte. Und so waren Solveig und Ulf die letzten, die die Neuankömmlinge bemerkten, zwei Männer im Lindgrün der Raumflotte, ein - ich versuchte, mich an die Abzeichen zu erinnern - ein Major und ein Sergeant. Erst als Ole, von Reflexen überwältigt, aufsprang und salutierte, drehte Solveig sich zur Tür und wurde zum zweiten Mal in einer Stunde weiß um die Nase. Sie stand auf.

"Was ist los?" sagte sie.

Der Major räusperte sich. "Frau Oberst Jamieson", sagte er, "es tut mir sehr leid... Ich habe einen Einsatzbefehl für sie. Sie sollen sich sofort im HQ in Terrania melden."

Solveig wirkte seltsam allein, wie sie da so stand, als hätten alle um sie her im Geiste einen Schritt zurück gemacht. "Selbstverständlich", sagte sie. Dann drehte sie sich zu mir. "Lissa, packst du bitte mein Zeug für mich mit?"

Ich nickte. "Bring' dich nicht wieder in Schwierigkeiten", sagte ich, als sei das für mich das Normalste der Welt. Solveig grinste schief. "Ich tu' was ich kann...." Sie ging zur Tür. Vivi hatte immer noch den Türgriff in der Hand. "Sorry", sagte Solveig zu ihr. "Das war nicht so geplant... war aber ein schönes Treffen." Sie winkte in den Saal, und ich wünschte, ich hätte in dem Moment nicht sie angesehen, sondern Arved. Nikki, der cleverer war, sagte später, er hätte nicht gewußt, daß ein menschliches Gesicht zu einem so belämmerten Ausdruck in der Lage sei.

Vivi machte automatisch die Tür hinter Solveig und den beiden Raumsoldaten zu. Durch das Fenster sah ich den Gleiter abheben, und dann begannen alle gleichzeitig zu reden. "Das kann doch nicht sein", sagte Ulf, und Tina begann in der Richtung zu spekulieren, daß Solveig, Nikki und ich das als Streich arrangiert hätten. Ole fauchte sie an, er werde ja wohl noch einen echten Raumflottenmajor erkennen, und Ann-Britt murmelte etwas davon, daß er einen echten Raumflottenoberst anscheinend nicht erkennen würde, warf mir aber dabei auch zweifelnde Blicke zu. Tomas rieb sich die Nasenwurzel und sah aus als würde er gleich Kopfschmerzen kriegen. Vivi versuchte mehrfach vergeblich, etwas zu sagen, machte eine frustrierte Geste und kam zu mir. "Sag mir, daß ihr uns auf den Arm genommen habt", sagte sie. Ich schüttelte nur den Kopf. "Es kann nicht sein", fuhr sie fort. "Die Raumflotte nimmt keine Frauen auf. Ich weiß das. Meine Tochter..."

"Solveig ist nicht bei der Raumflotte", sagte Tomas.

Vivi wirkte erleichtert und ein bißchen ärgerlich. "Ihr HABT mich auf den Arm genommen", sagte sie.

Tomas sah mich an. "Geheimdienst oder Mutantenkorps?"

"Es gibt kein Mutantenkorps", sagte ich. Er nickte.

"WAAAAS!" Diesmal konnte niemand Vivi überhören. "Wieso sagt mir das keiner!!"

***

Ich verdrückte mich, ehe sie auf die Idee kamen, mich auszufragen. Als ich nach Mitternacht in mein Zimmer zurückkam, lag Nikki auf Solveigs Bett und schlief. Ich rüttelte ihn wach. "Falsches Bett."

Er grinste und warf einen Blick zu meinem.

Ich funkelte ihn an. "Falsches ZIMMER."

"Nicht wirklich. Es gab noch Teilchen. Ich hab' dir welche mitgebracht. Und Wein."

Wir tranken den Wein aus der Flasche.

"Ich wußte es übrigens", sagte Nikki.

"Sicher. Morgen erzählen mir das alle."

"Weil Solveig es mir gesagt hat", fuhr er fort.

Ich sah ihn verblüfft an. Er zuckte die Schultern. "Du hast gesagt, ich soll sie fragen, also habe ich das getan. Ich hab' gesagt, sie soll doch bitte schön mein Vertrauen in die Welt wieder herstellen."

"Daß Solveig zum Militär gegangen ist, stellt dein Vertrauen in die Welt wieder her? Du hast sehr bescheidene Ansprüche."

"Ich habe sehr hohe Ansprüche. Daß sie dabei alle Regeln gebrochen hat, DAS stellt mein Vertrauen wieder her. Staatsbeamte, also wirklich. Wie kann jemand so einen Blödsinn glauben."

Der Raum hatte sich inzwischen etwas von mir weggerückt und ich spürte ein weißes Rauschen im Kopf. Ich hatte ganz entschieden genug zu trinken gehabt.

"Weil es heißt, daß sie nicht besser ist als wir", sagte ich.

"Ist sie denn besser?" fragte Nikki.

"Zumindest ist sie jünger." Das klang falsch, es war nicht das, was ich hatte sagen wollen, ich hatte etwas über eine Leidenschaft sagen wollen, über Wagemut, über Prinzipien und Rebellion. Über all das, was uns anderen, uns Sterblichen, auf dem Boden zurückgebliebenen, so schmerzlich fehlte.

"Das ist sie", sagte Nikki. Er schüttelte den Kopf und ich verstand, daß er gehört hatte, was ich gemeint, nicht was ich gesagt hatte. "Wie lange noch?"

"Ich weiß nicht", sagte ich. "Wie lange kann man achtzehn bleiben, wenn man sich nur entschlossen genug weigert, sich mit der Welt zu arrangieren?"

Nikki und ich sahen uns tiefgründig an und griffen im gleichen Moment nach der Flasche. Nachdem wir den Rest Wein geschwisterlich geteilt hatten, sagte er, "Ich habe es versucht. Aber selbst ich habe gelernt, daß keiner von uns perfekt ist. Daß die Welt größer ist als wir. Und daß mir nichts anderes übrigbleibt, als mir und der Welt diesen Mangel zu verzeihen."

"Solveig war nie gut im Verzeihen."

"Nein", sagte Nikki. "War sie nicht. Ist sie nicht. Hast du ihre Adresse?"

"Willst du ihr schreiben?" Das wäre ja was ganz Neues. Nikki hatte noch nie auch nur einen einzigen Brief beantwortet.

"Ich will nach Terrania fahren", sagte er.

***

Als ich aufwachte war Nikki weg. Ich nahm zwei Aspirin - ich wurde zu alt für diesen Mist - trank einen halben Liter Wasser und setzte meine Sonnenbrille auf, bevor ich es wagte, dem Tag gegenüberzutreten.

Vielleicht lag es am Kater, daß ich das Gefühl hatte, von schrägen, zweifelnden Blicken getroffen zu werden. Oder die anderen hatten auch noch heftig gezecht. Der Zustand der Halle ließ derartiges vermuten. Cheryl, Ingrid und Eva saßen auf der Terrasse und legten eine Kaffeepause zwischen der ersten und der zweiten Runde Aufräumen ein. Ich griff mir eine Tasse und setzte mich dazu. Jepp, definitiv schräge Blicke. Ich dachte an Nikki, an Solveig, grinste und sah in den Himmel.

"Das gestern abend...", begann Eva schließlich.

"Mhm?" murmelte ich.

Und Eva kicherte wie ein junges Mädchen. Ich wandte meinem Blick vom Himmel ab und sah, daß die drei grienten wie Honigkuchenpferde. "Das war brillant", sagte Eva, von Kichern unterbrochen. "Genial."

"Einer der seltenen Momente der Perfektion im Leben", ergänzte Cheryl.

Ingrid nickte enthusiastisch. "Ulf versuchte, jedem zu erzählen, daß er es die ganze Zeit gewußt hätte. Tina kreischte, daß das alles ein Schwindel wäre, den ihr euch ausgedacht hättet. Tomas machte ein Gesicht, als hätte er den Weihnachtsmann tot im Kamin gefunden und dürfte alle Geschenke behalten. Und Arveds Kinnlade haben wir gerade beim Zusammenkehren auf dem Fußboden gefunden."

"Und wenn du noch breiter grinst", fügte Eva hinzu, "fallen dir die Ohren in den Mund."

Ich versuchte, meine Mundwinkel zusammenzusammeln, aber ich fühlte mich zu gut dafür. Und so redeten wir weiter und sonnten uns in dem Glanz, einen Menschen zu kennen, der davongekommen war, ehe wir zurückkehrten in die Leben, die wir uns gewählt hatten, und die wir (außer Nikki vielleicht) nie eingetauscht hätten gegen die, die wir so bewunderten. Denn es ist besser, sich am Feuer zu wärmen, als mit beiden Händen hineinzufassen. Außer man ist Solveig.

***

Ich kam am Sonntagabend nach Hause zurück. Jason war im Garten und hängte Folie in den Kirschbaum, um die Stare zu vertreiben. Er hatte Erde an den Fingern und welke Kirschblüten in den Haaren und winkte mir zu, als ich durch das Gartentor kam. Später saßen wir auf der Terrasse, aßen Salat und tranken Saft.

"Wie war dein Klassentreffen?" fragte Jason. Und ich dachte an Nikki, der auf dem Weg nach Terrania war, an Solveig, die auf dem Weg nach Gottweißwo war, und ich spielte mit dem Gedanken, davon zu erzählen. Aber all das erschien weit, weit fort und belanglos. "Wir waren sehr kindisch", sagte ich. "Solveig und Ann-Britt haben in der Nacht alle Schuhe vertauscht. Eva hat acht Kinder. Und Arved ist immer noch ein Idiot."

Über uns erschienen die ersten Sterne, als wir ins Haus gingen.


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