2051, Terrania: Mai

Bin ich nun zu blöd für diese Welt oder ist die Welt zu blöd für mich? Großartig, Solveig. 86 jugendliche Jährchen und vom Dienst suspendiert. Und nichts von dieser verdammten Scheiße ist meine Schuld!

Die ganzen letzten Jahre waren nicht der Brüller. '48 ist Lissa gestorben. Ich war nicht bei der Beerdigung, ich wagte nicht, ihrem Sohn, der in drei Jahren in Rente geht, mein Gesicht zu zeigen. Er ist der letzte, der sich an mich erinnert. Mein Gott.

Wir haben vor Jahren aufgehört, unsere Geburtstage zu feiern. Selbst Betty, die niemanden hat - niemanden zu verlieren hat - seit sie sechs war.

Warum denke ich an die verdammten Toten?

Weil ich Scheiße gebaut habe, selbst, wenn ich nicht daran schuld bin.

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Von vorne.

Ich bin, alles in allem, eine sehr mittelmäßige Mutantin. Mehr so ein P.S. in den Listen des glorreichen Mutantenkorps. Und im Unterschied zu den anderen Halbmutanten in dem Verein habe ich keine weiteren Qualifikationen zu meinen Gunsten vorzubringen. Also, praktisch denkend wie ich Idiot nun einmal bin, tu ich etwas dagegen.

Studier' doch was, sagte Bully. Aber was soll ich mit einem Doktorgrad in Kosmobiologie, ganz abgesehen davon, daß ich an der Uni ein Reinfall wäre mit meinem mickerigen 128er-IQ zwischen lauter Zukunftsterranern in luftiger 150er-Höhe. Selbst wenn's mich die Bohne interessieren würde, wäre ich da falsch. Aus reinem Trotz habe ich versucht, mich für Antriebstechnik einzuschreiben, aber nach einem beschissenen ersten Semester, in dem ich mehr Hypermathematik büffelte als ich im Leben lernen wollte, kriegte ich eine Nachricht von der Uni, daß ich als Mädchen die für Antriebstechnik vorgeschriebenen Praktika nicht machen könne und mich deshalb fürderhin als für Hypermathematik eingeschrieben betrachten könnte. Und tschüß.

Das war '49. Ich wünschte, ich hätte Lissas Verstand. Ich wünschte, ich hätte studiert, als sie es tat. Dann könnte ich jetzt mit meinen Titeln winken und das wäre es.

Verschüttete Milch.

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Von vorne. (Zweiter Versuch).

Unfähig, -willig, oder was auch immer in eine akademische Laufbahn zu sickern tat ich, was normale Leute machen: Ich ging auf Übungen und Fortbildungen. Ich trainierte fast täglich auf dem Schießstand und in der Turnhalle. Ich nahm an Technik- und Robotikkursen mit, was ich kriegen konnte. Es machte Spaß. Manchmal lernte man sogar nette Leute kennen. Sie hielten mich für eine Wissenschaftlerin der Explorer-Flotte. Ich erschuf mir ein regelrechtes Alter Ego - so brachte ich es schließlich doch zu einer Doktorandin der Kosmopsychologie, wenn auch nur in den Augen einiger Kollegen, die mir gelegentlich Anträge machten, die ich höflich (wie es sich für eine Wissenschaftlerin gehört) ablehnte.

Ich hatte jede Menge Zeit für diesen Blödsinn. Seit '44 hatte ich nur drei größere Einsätze, zwei davon für die Abwehr, die sich aber eigentlich keine Mutanten ausleihen soll, weil sie sie kaputtmachen könnte. Ansonsten: Routinescheiß, Sicherheitsüberprüfungen, Hilfspolizeiarbeiten.

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Also. Fortbildungen.

Die hier klang ganz besonders gut: Primitivwelt-Überlebenstraining. Jaaa! Pfadfinderlager! Abenteuerurlaub! (Ich bin meschugge. Ich weiß es ja.) Und nicht nur das, Casey würde dabeisein.

Casey Collins, eine schwarze Amerikanerin aus Chicago, war das, was ich zu sein vorgab: Kosmopsychologin mit Aussicht auf einen Explorer-Job, die ihre 'praxisbezogene' Ausbildung machte bis im Januar '52 'ihr' Schiff startete. Sie war clever, zäh, hatte einen herrlichen trockenen Witz und ein Mundwerk, das unters Kriegswaffenkontrollgesetz fallen müßte. Wir hatten uns ein halbes Jahr vorher in einem Kybernetikkurs getroffen und uns auf Anhieb gut vertragen. Ich freute mich darauf, sie wiederzusehen. Wir beiden würden die einzigen Frauen auf diesem Kurs sein.

Am 23.4. stand ich auf dem Raumhafen, umgeben von einem Haufen Knaben, die sich ebenso wie ich auf ihr Pfadfinderlager freuten, und einem Häuptling mit Captains-Sternchen, der entschlossen war, es uns gründlich zu vermiesen. Noch eine halbe Stunde bis zum Einschiffen auf die SANTIAGO, die uns zum Übungsgelände nach Bezat V bringen sollte, und wer nicht da war, war Casey.

Als der Häuptling das Kommando zum Einschiffen gab, rang ich mich endlich durch, nach Casey zu fragen, da es klar wurde, daß sie nicht mehr kommen würde und keiner sonst sich offenbar dazu äußern wollte. Der Häuptling, ein Captain Mario Serrato, zog ein Gesicht, als ginge es um etwas unanständiges und rückte damit heraus, Miss Collins sei schwanger geworden.

Mir kamen fast die Tränen, als ich das hörte, und ich weiß nicht, ob es nur Wut war. Bye bye, Casey. War wohl nichts mit Explorer. War wohl nichts mit Kosmopsychologie. Du bist hinten vom Wagen gefallen, Casey, so ein Pech. Denn solange du allein bist, darfst du dich 'Mädchen' nennen und mit den großen Jungs spielen. Aber wage es, eine Frau zu sein und du bist weg vom Fenster. Du existierst nicht mehr. Alles andere wäre nicht anständig. Scheiße, Casey, wie konntest du es so vermasseln.

Von da an wurde es stetig schlimmer. Das einzige Mädchen in einer Männergruppe zu sein, kann ganz lustig sein, so wie Löwenbändigen ganz lustig sein kann - sie fressen dir aus der Hand, wenn du bloß keine Schwäche zeigst und sie nicht auf dumme Gedanken bringst. Sonst wird es auch lustig. Für die Löwen.

Leider waren sie in dem Moment auf dumme Gedanken gekommen, wo sie von Caseys Schwangerschaft gehört hatten. Wir hatten noch nicht die Umlaufbahn verlassen da begannen schon die anzüglichen Witze. Und ich habe nicht Caseys Mundwerk, um ihnen die Spitzen zu nehmen. Ich werde einfach nur immer wütender.

Es gibt drei Vorgehensweisen im Buch für solche Fälle. Die erste ist, gib den Löwen welche auf die Nase und stell' klar, wer hier der Chef ist. Schwierig, wenn man inkognito unterwegs ist und ein gewisser Captain über die ganze Scheiße am lautesten lacht. Zweitens: spiel den Schakal. Dieser machte den Löwen, die ihn gefangen hatten, weis, er sei ein sehr seltenes und wohlschmeckendes Tier und nur der stärkste der Löwen sei würdig, ihn zu fressen. Woraufhin sich das Löwenproblem von selbst erledigte. Elegant, aber gefährlich. Drittens: Augen zu und durch. Ich entschied mich für Methode drei in einer Abwandlung von Occhams Axiom, wonach die unkomplizierteste Lösung oft die Beste ist.

Hätte ich die Schakal-Strategie verfolgt, hätte es mehr Tote gegeben, und ich wäre trotzdem an der ganzen Sache schuld.

Ich denke über die Situation nach, und mir fällt eine vierte Lösung ein: kneifen. Sich davonmachen. Sich weigern, an der Übung teilzunehmen. Nachher ist man immer klüger. Aber verdammt, wenn ich kneifen wollte, könnte ich mich gleich zu einem Bürojob verdonnern lassen.

Falls ich nach dieser Geschichte überhaupt noch einen Bürojob kriege.

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Am 25. April verließen wir die SANTIAGO mit einem Shuttle und nahmen Kurs auf Bezat V, wo wir ohne Zwischenfälle landeten. Das Übungsgelände lag in den subtropischen Breiten. Ehe wir das Shuttle verließen, gingen wir das Szenario durch. Es galt, in Gruppen zu sechst eine mehrere Tagesmärsche entfernte Basis zu erreichen. Dort würde eine weitere Aufgabe warten. Nicht weiter schwierig, selbst wenn man das feuchtheiße Klima, die höhere Gravitation und die schlechten Lichtverhältnisse unter der dunkelroten Sonne Bezat in Betracht zog. Ich bin in Lappland gewandert, als ich jung war. Eine schwerere Aufgabe wäre mir lieber gewesen.

Die Gruppen wurden verteilt. Die, in der ich war, erhielt Zurufe von den anderen, sie seien gut dran, da sie 'was zum Spielen' mitbekommen hätten.

Fünf Tage Marsch durch den Urwald, zwanzig Kilo Gepäck auf dem Buckel, immer im Zwielicht, das auf diesem Planeten für 'Tag' durchging, in einem Klima, wo einem nach Minuten die Uniform am Körper klebte. Peilungen, um den Weg zur Basis zu finden. Das Gefühl, aus dem Urwald heraus beobachtet zu werden. Das Gefühl trog nicht, es gibt Beurteilungen für diese Touren, etwas, worum ich mir nie Sorgen gemacht habe. Beamtin mit Kündigungsschutz. Außer, ich klaue silberne Löffel. Oder lege meine Kollegen um.

Fünf Tage, die ich überstand, mit zusammengebissenen Zähnen in dem Bewußtsein, daß ich, was immer sie in mir sahen, was immer sie sagten, in einer höheren Liga spielte, als sie es je tun würden. Fünf Nächte, in denen ich mit offenen Augen schlief. Ich begann, sie fürs Schakalspiel zu taxieren. Salhonen, ein Riese mit einem leichten Ritterlichkeitskomplex, der unglücklich über die Situation wirkte, Leutnant der Explorerflotte. Hawkins, ein schlanker Junge mit einem etwas zu hübschen Gesicht und den Augen eines Psychopathen, der geborene Omega des Rudels, solange nicht jemand von offensichtlich geringerem Status anwesend war. Leighton, der typische ich-bin-unwiederstehlich-Charakter aus reicher Familie mit vorgezeichneter Karriere, Patton, Self-Made-Man, der sich schnell als Leightons Hackenbeißer etablierte, und Gamar, angehender Space Marine, der als Kind viel zu viele schlechte Action-Filme gesehen hatte.

Fünf Tage Schilde und aller Stolz, der sich zusammenkratzen läßt. Es darf nichts schiefgehen. Es wird nichts schiefgehen. Ein gerissener Riemen am Gepäck und schon bietet Salhonen seine unwillkommene Hilfe an. Ich lehne ab, fädele den Ersatzriemen ein, sie gucken, Salhonen gekränkt, Hawkins mit dem Blick eines Geiers, Leighton amüsiert. "Unsere kleine Emanze", sagt er und "Seien Sie doch etwas lockerer!" Das gleiche sagt er am nächsten Tag, wenn er mir das Peilgerät aus der Hand nimmt, um sich dann um 3 Grad zu verrechnen. Trotzdem erreichen wir am nächsten Tag die Basis.

Kein Captain. Und das Funkgerät kaputt. Sah aus, als hätte ein Bär es als Sparringpartner benutzt.

Man muß wirklich nicht 60 Jahre im Business sein, um die Szene zu kapieren. Repariert das Scheißding, oder findet eine andere Station, und laßt euch nicht von den Bären fressen, während ihr dabei seid. Einfach genug.

Zwei Gruppen waren vor uns angekommen und hatten eine Art provisorisches Lager aufgestellt und Waffen gegen die Bären gebastelt. Soweit nicht wirklich blöd, aber intelligenter wurde es dann auch nicht mehr.

Der Tag verging, ohne daß mehr getan wurde als gezankt. Ein Typ namens Hartmann, noch so'n Space Marine, war in der ersten Gruppe gekommen und hatte sich als Leitgorilla etabliert. Von ihm stammte die Idee mit dem Lager. Leighton, kaum aufgetaucht, wußte prompt alles besser und es kam zu einer Schlägerei, bei der Leighton mit blutiger Nase davonkroch und erwartete, daß ich ihn verarztete, worauf es fast die nächste Schlägerei gab. Ich verwies ihn an einen Typen, der auf dem Hinflug erzählt hatte, Rettungssani zu sein. Am Abend kam die vierte Gruppe. Hartmann als momentaner Alpha des Rudels schlug mir vor, in seinem Zelt zu schlafen (als Alpha beanspruchte er natürlich ein eigenes Zelt, sollten sich die anderen zu fünft in einem drängen), da wäre ich sicher, man wüßte ja nie... Ich fragte, ob schon jemand daran säße, das Funkgerät zu reparieren und er fragte, ob ich was mit Leighton hätte. 'Sie reden Scheiße, Soldat', sagte ich, marschierte ab und genoß das interessante Gefühl, jemanden hinter sich zu wissen, der vielleicht gleich austiltet. Er tat es nicht.

Ich schlief nicht die Nacht, sondern schlich mich in die Basis, um den Schaden am Funkgerät zu betrachten. Die Zerstörung war größtenteils mechanisch, ein Puzzlespiel, nur ein Trafo und der Hypermodulator waren hinüber. Wenn man den Hypermodulator ausschlachtete, käme man an Ersatzteile für den Trafo und könnte eine andere planetare Station erreichen. Eine Sache von ein bis zwei Tagen, aber technisch jenseits von mir.

Der Morgen war kühl, neblig und stickig und ich war übermüdet. Im nachhinein betrachtet war das nicht so optimal. Hartmann schickte Patrouillen aus als glaubte er an einen Angriff der Menschenfresser. Er selbst blieb im Lager. Nachdem ich die gottverdammten Kochgeschirre von 24 Leuten gespült hatte, mich mit dem absolut vernünftigen Gedanken beruhigend, daß diese Arbeit getan werden mußte, und eine mörderische Wut entwickelnd, weil ich es war, die sie tat, atmete ich tief durch und überzeugte mich, daß ich mit Hartmann über das Funkgerät sprechen mußte. Antipathien hin oder her, eine Mission zu gefährden, weil man Erkenntnisse für sich behält, ist blanke Idiotie, in einem realen Einsatz ist es die Art von Fehler, die der letze sein kann.

Blöd von mir. Blöd, weil ich vernünftig dachte. Blöder, indem ich sein Spiel spielte und die Autorität, die er sich angemaßt hatte, akzeptierte.

Der Typ hörte mir einfach nicht zu, sondern glotzte mich nur an wie eine Giraffe im Zoo. Nachdem ich ihm den ganzen Kram erklärt hatte, sagte er so etwas wie, so ein Unsinn, das Funkgerät sei kaputt und wir seien nun auf uns selbst angewiesen, und glotzte weiter. Ich laberte auf ihn ein wie eine Missionarin und kriegte ihn schließlich in die Basis, um sich die Lage mal anzusehen. Meine Blödheit nahm kein Ende heute.

'Sehen Sie, es ist kaputt', sagte er zufrieden, betonte das letzte Wort, als spräche er zu einem Fünfjährigen. Er hob den Hypermodulator auf, den ich letzte Nacht ausgebaut hatte, um ihn zu untersuchen, drehte ihn in der Hand und ließ ihn achtlos fallen. Ich zuckte zusammen. SO robust sind die Teile nun auch nicht. 'Hartmann', sagte ich, versuchte, Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit zu projizieren, 'das hier' - ich zeigte auf das Funkgerät und meinte die Situation - 'ist kein Anlaß um Cowboy und Indianer zu spielen. Wir sind auf einer Übung und stehen vor einem Problem, das es zu lösen gilt. Es wird sich nicht besonders gut in dem Berichten machen, wenn wir es nicht einmal versuchen.'

Er starrte mich an. 'Verstehen Sie immer noch nicht?' sagte er. 'Das Gerät ist kaputt. Wir sind auf uns allein gestellt. Und es ist ein Dschungel da draußen, wo nur die Stärksten überleben.'

'So ein Schwachsinn', sagte ich angewidert.

'Sie verstehen wirklich nicht', sagte er. 'Sie glauben immer noch an Ihre sichere Welt einer Übung. Sie glauben, daß wir alle gerettet werden, und wir nach Hause kommen.' Er legte eine Hand auf meine Schulter. Ich unterdrückte den Impuls die Bewegung wie einen Schlag zu blocken, sondern ging einen Schritt zurück. Er kam mit einem größeren Schritt nach. 'Sie sollten sich überlegen was Sie tun', sagte er. 'Wir sind in der Wildnis, und nur ich stehe zwischen Ihnen und den ...anderen. Ich kann Sie beschützen.'

Seine Hand wanderte von meiner Schulter abwärts. Ich griff mir seinen kleinen Finger und gab ihm seine Hand zurück. Ich war rotglühend wütend. 'Behalten Sie Ihre Finger bei sich', sagte ich, 'oder ich bringe Sie um.' Ich meinte es. Ich zog ab und versuchte, nicht zu verstehen, was er mir nachrief.

Warum tat ich das, fragte ich mich, als ich ins Lager zurückstapfte. Wieso markierte ich nicht die zerbrechliche Mutantin, vermied Ärger und Gefahr, soweit ich konnte, mit großen blauen Augen, wie Anne es tat, mutig, wenn es sein mußte, aber niemand, der Gefahr und Unbequemlichkeit um ihrer selbst willen suchte, hatte sie nicht zu mir gesagt, sie sei froh, eine Frau zu sein, es erspare ihr die harten Jobs. Es fühlte sich an, als täte ich es für Casey. Für alle wie sie. Weil irgendjemand so leben mußte. Scheiße, nein. Ich tat es für mich. Weil es mir Spaß machte. Aber es machte mir keinen Spaß, ich haßte jede verdammte Sekunde. Warum dann? Trotzdem. Deswegen. Und weil es, Casey oder nicht, jemand tun mußte. Auch wenn ich nicht wußte, warum, oder warum ich.

Die erste Patrouille kam zurück, sah mich mit komischen Augen an und brüllte nach Futter. Offenbar hatte meine Anwesenheit sie unfähig gemacht, ihre selbstwärmenden Proviantpakete eigenhändig aufzureißen. Ich ignorierte sie, und als Patton quasi anordnete, daß ich mich um ihre verdammten Proviantpakete zu kümmern hatte, sagte ich ihm, er solle mir den Buckel runterrutschen. Ja. Macht sich großartig in der Akte.

Nicht meine Liga. Nie meine Liga. Wäre ich je so dumm, so klein, so mittelmäßig gewesen, ich wäre tot, ich hätte nie die Sterne gesehen, nie den Fuß auf ein Raumschiff gesetzt, ich hatte nicht das Recht, eine Pappnase zu sein, während es ihnen in die Wiege gelegt war, sie durften Pappnasen sein und dennoch Space Marines, Exploreroffiziere. Salhonen versucht, mir etwas über die Moral der Truppe, die eine Tütenaufreißerin braucht, zu erzählen. 'Die Moral der Truppe ist mir scheißegal', sage ich. 'Ich bin nicht ihr kommandierender Offizier.' Er zieht unglücklich ab. Ja. Ein weiterer Punkt in meiner Akte. Wenn ich eine Pappnase bin, kleinlich und rachsüchtig und unausstehlich, verwirke ich mein Recht auf Sterne. Vielleicht auf Leben.

Ich konnte nicht nichts tun, und da ich zu keiner sinnvollen oder scheinbar sinnvollen Tätigkeit eingeteilt wurde, blieb mir, mich entweder glattweg zu weigern, eine Hand zu rühren, oder die Scheiße zu tun, zu der ich eingeteilt wurde. In meinen niedlichen Bemühungen, konstruktiv zu sein, entschied ich mich für letzteres. Und wurde immer wütender.

Ich wiederhole mich. Wie wütend kann man werden? So wütend, daß man glaubt, es fliegt einem die Schädeldecke raus. So wütend, daß man die Wut schwarz in den Adern fließen spürt. So wütend, daß der reine Innendruck einem das Wasser in die Augen treiben würde, wäre es nicht nur für Arkoniden angemessen, so zu reagieren, und kratzte man nicht seinen ganzen Stolz zusammen, um das Gesicht zu wahren, während die Wut kocht und blubbert wie eine Teergrube. So wütend, daß Blut der einzige Ausweg scheint.

Ich riß die Tüten auf. Ich spülte das Geschirr, während die anderen eine Versammlung hatten, die ergebnislos blieb, weil sie gar nicht vorhatten, etwas an der Situation zu ändern. Leighton schlug vor, eine Expedition zur nächsten Basis zu schicken, wurde aber von Hartmann niedergemacht, der nicht vorhatte, sich den Vorschlag eines Beta anzuhören, vor allem, wenn er sinnvoll war. Ich war müde und geladen, und es war so heiß. In der folgenden Nacht, beschloß ich, würde ich versuchen, die Funkanlage zu reparieren. War Hawkins nicht Kommunikationstechniker? Ich mochte seine Augen nicht, aber er könnte es hinkriegen. Ansonsten würde ich versuchen, mich alleine zur nächsten Basis aufzumachen. Es war Wahnsinn, aber ich traute es mir zu.

Ich begann, Ausschau nach Hawkins zu halten und bei der Gelegenheit die Küche zu organisieren und mir einen Kaffee aufzusetzen. Wer kam, war Leighton, er stelzte, als hätte er sich einen Wolf gelaufen, nahm kommentarlos den Kaffee und kippte ihn sich ein. Ich versuchte, etwas vernünftiges zu sagen, anstatt ihm die Kanne über den Kopf zu schlagen.

"Keine Expedition?" fragte ich. OK, beschissener Ansatz. Ich bin ja auch keine Talkmamsell. Ich spürte seinen Zorn, aber er verstand sich viel zu gut mit meinem, als daß ich ihn empathisch hätte dämpfen können.

"Mach dir bloß keine Sorgen", sagte er. "Dein Beschützer wird dich schon nicht in die Wildnis rausjagen."

"Ich habe keinen verdammten 'Beschützer'", sagte ich. "Und ich halte die Expedition für eine scheißgute Idee."

Das hörte Hartmann, der sich von hinten rangeschlichen hatte um ebenfalls meinen Kaffee zu klauen. Ich grabschte nach der Kanne und hielt sie fest. Blödsinnig, die Kleinigkeiten, an die man denkt.

Hartmann machte also wieder mal Leighton zur Sau, der genug zu haben schien und Widerworte gab, während ich mich an der Kanne festhielt. Leighton ging in Boxerstellung, ich dachte noch, Dämlack, wenn du jemandem die Fresse polieren willst, der stärker ist, warnst du ihn nicht vor, da kam auch schon ein rechter Haken von Hartmann und schickte ihn auf die nicht vorhandene Matte.

Er war nicht K.O., nur bedöselt. Hartmann marschierte mit einem 'Kümmer' dich um ihn' ab. Ich knurrte, daß ich immer noch kein Sani wäre und suchte nach einem Platz, die halbleere Kanne abzustellen. Ich suchte noch, als Leighton wieder auf die Beine kam. Ich hatte es nicht realisiert, er klebte mir von hinten eine, daß ich die Engelein singen hörte und zog mich an den Haaren. Ich kippte mir heißen Kaffee übers Hemd, was meiner Laune nicht zuträglich war. Er stieß mich in irgendwelchen Utensilien, ich immer noch mit der verdammten Kanne. "Das ist alle deine Schuld, du Schlampe", brüllte er. Ich kam halb hoch und schmiß die Kanne nach ihm. Der heiße Kaffee nützte seiner Laune genausoviel wie meiner. Er brüllte, und seine Wut ging von rot nach schwarz. "Das wird dir leid tun", fauchte er und kam auf mich zu.

Ich hätte eine Menge Sachen machen können, wenn ich heute darüber nachdenke. Aber beim Aufstehen war mir ein Stück Plastik in die Finger geraten, an dessen anderem Ende eine solide Vibroklinge war, ein schweres Arbeitsmesser. Er war halb über mir, als ich damit nach vorne fuhr, teils ein Hieb, teils ein Stich, ich traf ihn mit der geistlosen Sicherheit von jemandem, der es in einer Hypnoschulung gelernt hat, die Klinge ging durch Kleidung und Haut und Fleisch und vielleicht Knochen wie durch Butter, als ich sie nach oben zog und sein Herz traf.

Es war ein schneller Tod, er schrie nicht einmal, aber kein sauberer. Irgendwie distanziert staunte ich, was für eine unglaubliche Schweinerei es war. Strahler brennen diskrete kleine Löcher, und selbst Projektilgeschosse-

Himmel, ich schreibe Scheiße. Wenn ich versuche, daran zu denken, schalte ich wieder genauso weg wie in dem Moment. Es war so eine Schweinerei, und er fiel natürlich auf mich drauf, als er tot war, ich ließ das Messer los und rollte ihn von mir weg und rappelte mich auf und versuchte, mein Gehirn in Aktion zu treten, und dann kamen die anderen. Wie ferngesteuert bückte ich mich, zog das Messer aus der Leiche und sah sie an. Ich weiß nicht, was sie sahen, aber ich weiß, was ich fühlte, und das werde ich keinem erzählen. Denn von dem Moment an, wo das Messer auf Widerstand traf, wo ich in seinen Augen Überraschung sah, ehe sie brachen, war ein Gedanke in meinem Kopf klarer als Entsetzen und Schock über meine Tat: Ein tiefes, zufriedenes 'Habe ich dich, du Bastard.' Und als ich, das blutige Messer in der Hand, ihnen allen gegenüberstand, rechnete ich damit, daß es mehr Blut geben würde, und ich hatte überhaupt nichts dagegen.

Im Nachhinein betrachtet ist das das Unheimlichste gewesen. Ich könnte mir einreden, daß es 'etwas anderes' war, was mich in dem Moment beherrschte, ein Fremder, ein Schatten, ein schlechter Traum, aber wenn ich heute zurückdenke, ist an der ganzen Szene nichts, was sich nicht wie meins anfühlt, und das macht es schlimmer. Denn dann kann es wieder geschehen, dann habe ich das Herz einer Mörderin.

Natürlich hatte ich die ganze Zeit recht gehabt, es war eine Übung und wir wurden beobachtet, und jetzt erschien Captain Serrato und ein Medoroboter, der nur noch den Tod feststellen konnte und MP und Handschellen und die Drohung eines Kriegsgerichtsverfahrens und schließlich das Shuttle.

Ich war überrascht, daß ich in Selbstverteidigung gehandelt hatte (es hatte sich nicht so angefühlt, ich hatte nicht genug Angst gehabt, um es Selbstverteidigung sein zu lassen und doch war es das) und dann überrascht, daß Selbstverteidigung nicht ausreichte, um unschuldig zu sein. Leightons Familie zählt zu den reichsten und politisch einflußreichsten der amerikanischen Ostküste, solchen Leuten sagt man nicht 'Shit happens' oder 'that guy had it coming', man zeigt Besorgnis, gibt vorsichtig Fehler zu, beruft eine Untersuchungskommission ein und suspendiert die Missetäterin vom Dienst.

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Seit fünf Tagen sitze ich in meiner Wohnung, faktisch Stubenarrest. Ich habe einen Bericht in dreifacher Ausfertigung geschrieben. Ich schrieb nichts von Casey. Nichts von der Wut. Nichts von der terranischen Ideologie, die sagt, 'all men are created equal' und uns, den nicht-Männern, den Ungleichen, hoffnungslose Kämpfe aufzwingt, um unseren Teil an Freiheit und Glück zu ergattern.

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Ich weigere mich, mich zu fürchten. John war da, und ein Anwalt, der meinte, ich sollte auf Panikreaktion plädieren. Ich schmiß ihn raus.

"Es tut mir leid", sagte John.

"Mir tut es auch leid", sagte ich.

"Wie konnte das passieren?"

"Lies den Bericht."

"In dem Bericht kommst du nicht besonders gut weg", sagte er.

"Keine Notwehr?"

"Doch. Aber die Aussagen des Teams und der Beobachter stehen gegen dich. Du wärest unkooperativ und destruktiv gewesen und hättest nicht zur Lösung der gestellten Aufgabe beigetragen. Sie werden dich weder wegen Mord noch wegen Totschlag drankriegen, aber deine Beurteilung ist, knapp gesagt, bescheiden, und dein Bericht macht nichts besser. Wir können das nicht offiziell ignorieren, du erinnerst dich an die Geschichte mit Tifflor vor, oh, sechzig Jahren."

Ich tat es. Er hatte damals das einzig Vernünftige getan und viele Leute verärgert, weil er lieber ohne seinen Schild heimkam als auf ihm.

John seufzte. "Also machen wir das gleiche mit dir. Einen protokollierten Rüffel, einen Innendienstjob, und in fünf Jahren ist die Sache vergessen."

"Hoffst du."

"Was zum Teufel erwartest du?"

"Also ist das letzte Wort noch nicht gesprochen."

Er zögerte. "Nein. Aber ich würde mir keine Sorgen machen."

Ich sparte mir eine Antwort.

Im Hinausgehen sagte er: "Warum hast du das getan?"

"Ihn umgebracht? Er hat mich angegriffen. Lies den Bericht."

"Nein. Warum bist du auf diese Übung gegangen? Du BRAUCHST das nicht zu tun."

"Du tust es auch", sagte ich.

"Ja, aber..." seine Telepathie warnte ihn, nicht weiterzusprechen. "Nun gut", sagte er stattdessen. "Laß es in Zukunft etwas langsamer angehen, OK?"

"OK", sagte ich. Besser ein falscher Friede als keiner, Freunde waren zu wertvoll, um über solche Dinge mit ihnen zu streiten.

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Gerade rief Mercant an, er wollte mit mir reden. "Kommen Sie nur vorbei", sagte ich, "ich gehe nirgendwo hin."

"Zu mir kommen Sie", sagte er. "Um Fünfzehnhundert."

Das wird ja immer besser.

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Ich war zehn vor drei im HQ und verschwand für exakt acht Minuten auf dem Klo, um nicht übereifrig zu erscheinen. So langsam wurde mir doch flau. Was wollte der terranische Abwehrchef von mir? Um eine Minute vor ging ich durch den Transmitter nach Ultima Thule.

Mercant empfing mich in seinem nüchtern eingerichteten Büro unter etlichen hundert Metern Polareis. Er hatte sich geweigert, nach Terrania umzuziehen.

Sein Adjutant brachte Kaffee und Mercant bot mir Zigaretten an, die ich gierig annahm. "Die Dinger werden Sie noch umbringen", sagte er mit der gutmütigen Selbstgerechtigkeit des Abstinenzlers.

"Nur, wenn es sonst nichts tut."

Ich rechnete mit schlechten Nachrichten, aber sonderbarerweise machte es mir nicht viel aus. Mercants Gegenwart war angenehm, gerade weil er, seinem populären Image zum Trotz, kein netter Kerl war. Abwehrchefs sind keine netten Kerls, und das entbindet einen von der Notwendigkeit, in ihrer Gegenwart einer zu sein. Auf seinem Tisch lag mein Bericht und die Berichte der anderen.

"Sie haben sich da in ein schönes Schlamassel gebracht", sagte er. "Nach dem, was hier drinsteht, würde niemand mehr einen Zehner für Ihre Karriere geben."

"Es ist nicht exakt meine Karriere, um die ich mir Sorgen mache", sagte ich.

Er nickte, als hätte er es erwartet. "Sie sind in sieben Jahren für die nächste Zelldusche fällig. Haben Sie schon mit Rhodan gesprochen?"

Ich verneinte.

"Ich schon. Er ist nicht amüsiert. Das Mutantenkorps ist eine Eliteeinheit, und solche Dinge dürfen nicht passieren."

"Sie sagen mir also nicht, daß ich mir keine Sorgen machen muß?"

"Wenn ich Leute beruhigen wollte, würde ich in die Politik gehen." Er lächelte sein irreführendes, schüchternes Lächeln. "Erzählen Sie mir, was auf Bezat V passiert ist."

Ich erzählte ihm mehr, als ich gedacht hätte, daß ich erzählen würde. Nichts von der Wut zwar, nicht davon, wie entsetzlich RICHTIG es sich angefühlt hatte, den Mann zu töten, aber von Casey, von den Angriffen, davon, die Minderheit zu sein.

Er nickte, als hätte er es halb erwartet. "Sie waren also nicht in Panik, als Sie auf den Mann einstachen?"

"Natürlich nicht", sagte ich.

"In dem ärztlichen Bericht steht etwas von Schockzustand."

"Möglich."

"Daß Sie im Schock waren?"

"Daß es da steht."

Er blätterte in dem Paper. "Geplatzte Lippe, mit drei Stichen genäht. Verbrühungen von heißem Wasser. Prellungen. Und Schockzustand. Dieser Bericht ist ihre goldene Brücke. Aber Sie bestehen darauf, sie nicht zu benutzen. Warum?"

Ich dachte nach. 'Weil es nicht wahr ist' klang wie unter meinem Niveau. "Ich bin nicht im Mutantenkorps um einen Schreibtischjob zu machen oder akademische Titel zu sammeln", sagte ich. "Ich habe nicht die Geduld und nicht den Kopf für so etwas. Was ich KANN - und das steht in den Beurteilungen all meiner Einsätze - ist improvisieren, Entscheidungen treffen, kämpfen, schießen, Raumschiffe fliegen und unter Druck die Nerven behalten. Es wäre einfach unsinnig zu behaupten, ich hätte in Panik gehandelt."

"Selbst wenn Ihr Weiterleben davon abhängt?"

"Ich bin bis jetzt davon ausgegangen, mein Weiterleben hinge davon ab, ob ich mich nützlich mache", sagte ich bitter.

Mercant nickte, und das dünne Lächeln um seine Lippen war nicht das, was er für gewöhnlich der Öffentlichkeit zeigte. "Nun. Notwehr", sagte er. "Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben." Er klappte den Bericht zu. "Wie groß war, Ihrer Ansicht nach, die tatsächliche Gefährdung in der Situation?"

Ich dachte nach. Das Ergebnis überraschte mich. "Minimal, Sir."

"Warum haben Sie ihn dann umgebracht?"

Blöde Frage. Oder? "Die Gefahr war minimal, WEIL ich ihn umgebracht habe."

"Sie hätten es also jederzeit tun können?"

"Ja."

"Obwohl er ein ausgebildeter Raumflottenoffizier war?"

"Ja."

"Ist die terranische Ausbildung so schlecht?"

"Nein", sagte ich. "Ich habe dieselbe Ausbildung. Plus sechzig Jahre mehr Kampferfahrung. Und... niemand hat erwartet, daß ich so etwas tue, bis es zu spät war."

"Mhm. Warum sind Sie dem Mutantenkorps beigetreten, Miss Jamieson?"

Das war einfach. "Ich erinnere mich daran, wie die Atomraketen flogen", sagte ich. "Ich erinnere mich an die Versuche der Arkoniden und Springer, Terra zu zerstören. Terra ist es wert, dafür zu kämpfen. Und als Mitglied des Mutantenkorps kann ich das tun."

Er zog eine Augenbraue hoch. "Nicht für Geld? Ruhm? Langes Leben?"

"Ich brauche das Geld nicht", sagte ich. "Ruhm interessiert mich nicht. Langes Leben, gut, aber es kann auch sehr schnell sehr kurz werden. Nein. Nichts von all dem."

Wieder ein Lächeln. "Sie sind ein interessanter Fall, Miss Jamieson."

"Sind wir das nicht alle?" fragte ich rhetorisch.

"Gewiß", sagte er, und ich war entlassen.

Ich war halb aus der Tür, als er mir nachrief: "Miss Jamieson?"

Ich drehte mich um.

"Wo haben Sie Messerkampf gelernt?"

"Gar nicht", sagte ich. "Es war..." Ich wußte es nicht. "Weibliche Intuition", sagte ich lahm.

Er nickte. "Sie hören von mir."

Etwas verwirrt reiste ich heim.

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Jetzt, wo ich das Gespräch im Kopf noch einmal durchgehe, wundere ich mich, wie es sich anhört. Als wäre ich eine Killerin. Und ich frage mich, ob ich das bin. Wie lange ist es her, daß ich zu Lissa kam, entsetzt über mich selbst, weil ich auf einem Einsatz einen Springer erschossen hatte, ehe er auf mich schießen konnte? Länger als Lissas Leben noch gedauert hat.

Damals verstanden meine Kollegen nicht, wieso mir das Probleme machte. Heute würden sie verstehen, weil das Opfer einer von 'uns' war, weil mich niemand angewiesen hat, ihn zu töten. Macht das einen Unterschied? Ich glaube nicht. Ich verstehe den Unterschied zwischen Krieg und Mord nicht. Hervorragend. Eine schöne Terranerin gebe ich ab. Sollten wir nicht moralischer sein als unsere Gegner? Aber ist es nicht moralischer, aus Zorn zu töten als auf Befehl?

Ich glaube, ich sollte aufhören, über Moral nachzudenken. Aber ich kann nicht anders als mich zu fragen, wie lange ich noch die Energie habe, nach Alternativen zu suchen, wenn ich jedes Jahr älter werde.

Was sagte Lissa? Wach bleiben, herausfordern, was man fürchtet, in der Münze des Gegners zahlen, und nicht mehr fordern als man selber einsetzt. Fairneß anstatt Moral. Mal sehen, ob ich damit leben kann.

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2051, Terrania: Juni

Die Untersuchungskommission tagte, ich machte meine Aussage, man tagte weiter, und am Ende entschieden sie, daß ich unschuldig war, ein Opfer der Umstände. Um derartige Umstände in Zukunft zu vermeiden, wurde beschlossen, daß es keine gemischten Übungen mehr geben würde. Die Akte wurde geschlossen, die Familie ausbezahlt. Ich kriegte meinen protokollierten Rüffel und einen Schreibtischjob im Büro für Öffentlichkeitsarbeit. Jeden Tag von neun bis fünf sitze ich da und wünsche mir, ein anderes Leben gewählt zu haben. An den Wochenenden fahre ich in die Berge und mache Freiklettern und allein mit dem Stein und der Luft wünsche ich mir, nicht zurück zu müssen.

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2051, Terrania: Juli

Nach einem knappen Monat beschloß ich, wenn ich schon wahnsinnig würde, sollte der Rest der Belegschaft am Spaß teilhaben. Ich marschierte zu John, ignorierte seine Vorzimmerdame, die irgendwas von Terminen murmelte, und erwischte ihn in der Frühstückspause, ein Käsebrötchen zwischen den Zähnen.

"Morgen, Mr. Marshall", begrüßte ich ihn. "Ich will einen anderen Job."

Er wirkte nicht begeistert. Damit hatte ich auch nicht gerechnet.

"Es tut mir leid, Solveig."

"Das sagtest du bereits." Ich suchte Streit.

"Laß dem ganzen doch ein bißchen Zeit!" sagte er erschöpft. "Ich KANN dich noch nicht wieder in den aktiven Dienst nehmen, das Desaster ist noch zu frisch! Warte einfach ein paar Jahre, dann kräht kein Hahn mehr danach!"

"Ich mache diesen Scheiß-Job KEINEN MONAT LÄNGER!"

"Jetzt hör' mal zu!" Er begann, sich aufzuregen und das war mir recht. Es macht keinen Spaß, Leute anzubrüllen, die kühl und vernünftig sind. "Du schlitzt einem Raumflottenoffizier auf einer Übung den Bauch auf, machst eine elende Menge an schlechter Publicity, die wir nicht gebrauchen können, und sabotierst unsere Bemühungen, dich auf 'momentane Unzurechnungsfähigkeit' aus der Sache rauszuholen. Was zum Teufel erwartest du? Das wir sagen, sowas kommt vor, und die ganze Sache vergessen? Du hast einen Innendienstjob, dein altes Gehalt und gottverdammte bezahlte Überstunden und markierst die Primadonna! Was stellst du dir vor, daß ich tun soll!"

"Mir einen Job geben, für den nicht jede Hilfssekretärin mit hübschen Beinen besser qualifiziert ist als ich! Eine Public-Relations-Tante mit dem Gehalt eines Sonderoffiziers ist eine Verschwendung von Steuergeldern! Falls es dir entgangen ist, ich bin unter anderem qualifizierte Systemanalytikerin, also setz' mich irgendwo hin wo ich die lächerlichen Summen, die ihr mir zahlt, wenigsten verdiene!"

"Ist dir dein Gehalt zu hoch?"

"Mein Gehalt ist mir schnurzpiepe! Ich will etwas zu tun, was mich über einen dressierten Schimpansen stellt!"

"Denkst du ich hätte es nicht versucht?" fauchte er. "Aber die Leute wollen Kooperationsbereitschaft und Teamfähigkeit! Primadonnen nehmen die erst vom Doktorgrad aufwärts!"

Ich war nicht in der Stimmung, gerecht oder fair zu sein. "Ach so, das gemeine Volk hat also zu parieren."

"Exakt", bestätigte John grimmig. "Und du bleibst bei den Public Relations bis Gras über die Sache gewachsen ist. Deine Beine sind übrigens gar nicht so schlecht."

Erde an Solveig: Face it, girl, you're fucked.

"Ich kündige", sagte ich.

"Solveig - das sollte ein Scherz sein!"

"Ich sagte, ich kündige. Zum nächsten Ersten oder was immer die gesetzliche Frist ist. Muß ich ein Formular unterschreiben?"

"Du kannst nicht kündigen!"

"So? Das stand nicht im Kleingedruckten, als ich den Job annahm."

"Du kannst natürlich um deine Entlassung aus dem Dienst nachsuchen..."

"Was für ein Dienst? Ich bin Public-Relations-Tante!"

"Du meinst das nicht ernst", sagte er.

"So?" Ich starrte ihn an. Die meisten Menschen finden das beunruhigend. Nicht, weil ich so schöne grüne Augen habe, sondern weil ich Telepathin genug bin, daß sie in solchen Momenten genau mitkriegen, was ich von ihnen denke. John zuckte nicht mit der Wimper.

"Wanderer", sagte er.

"Vergiß es", sagte ich.

Johns Gesicht durchlief interessante Stadien von Unglauben, Empörung und Verwirrung. "Du willst lieber auf stur schalten und alles sausen lassen, wenn du dich nur ein paar Jahre gedulden müßtest und die Ewigkeit hast?"

"Ewigkeit", sagte ich, "ist kein verlockendes Konzept, wenn man jeden Tag haßt."

"Was willst du damit erreichen?"

"Ich will einen anderen Job."

"Oder du kündigst."

"Genau."

"Ich werde es Rhodan sagen", sagte er unglücklich. "Er muß das entscheiden."

"Tu das", sagte ich. "Ruf' mich an - du weißt ja, wo ich sitze."

Ich verschwand und hörte John hinter mir etwas von 'verrücktes Weibsstück' murmeln.

Ich weiß nicht einmal, ob ich geblufft habe. Was ich John über die Ewigkeit sagte, ist wahr, und all diese Dinge wie Geduld, Kooperation und Kompromisse machen einen zum Komplizen der eigenen Unfreiheit.

Zuhause dachte ich über meine Situation nach und arbeitete mich dabei durch eine Schachtel Kleenex. Ich wußte nicht einmal genau, warum ich weinte, aber ich tat es trotzdem.

Dann rief ich bei Casey an. Sie sagte, das Baby, ein Junge, käme im September, und lud mich zur Hochzeit in zwei Wochen ein. Sie klang, als hätte sie sich abgefunden. Ich erfand berufliche Termine und sagte ab.

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2051, Terrania: August

Heute in der Arbeit flatterte mir eine Meldung auf den Tisch: Ich habe übermorgen eine Audienz beim Großmeister. Das ist dann wohl die Stunde der Wahrheit.

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Ich erschien in voller Montur, wie es der Situation angemessen war, und auf die Minute pünktlich. Rhodan war am telefonieren, als ich reinkam, irgendeine Sache, die offensichtlich nichts mit mir zu tun hatte. "Setzen Sie sich, Sonderoffizier Jamieson", sagte er. Kein 'Miss' hier, keine vertrauliche Anrede. Rhodan ist ein recht beeindruckender Charakter, er lacht selten, aber er weiß, was er seinen Leuten schuldig ist, und seine Art, sich unangemeldet persönlich einzumischen hält seinen Beamtenapparat hinreichend paranoid, so daß sie nicht auf dumme Gedanken kommen.

Er beendete sein Telefonat und kam gleich zur Sache. "Mr. Marshall hat mir Ihren Antrag auf Versetzung vorgelegt", sagte er.

Hatte John ihm meine 'Kündigung' unterschlagen?

"Ich will Ihnen kurz die Situation erklären", sagte er. "Wie gut Ihre Gründe, Leighton zu töten, auch vom juristischen oder menschlichen Standpunkt waren, können wir - kann ich - den Tod eines Flottenoffiziers auf einer Übung nicht ignorieren. Die Regelungen der Raumflotte verlangen eine Disziplinarstrafe. Diese bestünde in Ihrem Fall - alle mildernden Umstände berücksichtigt - aus zwei Jahren Strafdienst auf einer Station auf der dunklen Seite der Galaxis. Aus offensichtlichen Gründen ist das hier nicht sinnvoll."

In seinen Augen funkelte etwas, und ich war mir nicht sicher, ob das Bild, wie ich eine ganze Dunkelseitenstation zu Hackfleisch machte, um ihnen Respekt beizubringen, gerade durch seine oder durch meine Gedanken ging.

"Um dieses Problem zu umgehen, wurden Sie in den Innendienst versetzt. Bis jetzt gab es mit dieser Art von Lösung nie Schwierigkeiten. Und nun kommen Sie und wollen eher kündigen, als weiterhin im Büro für Öffentlichkeitsarbeit zu sitzen."

Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber er winkte ab. "Ich weiß. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen."

Ich wartete darauf, daß er weiterredete, aber er schlug eine Akte auf, die vor ihm auf dem Tisch lag.

"Sie sind 1983 zu uns gekommen", sagte er. "Damals waren Sie 18 und hatten gerade die Schule abgeschlossen." Er machte eine kurze Pause. "Welche Pläne hatten Sie damals für Ihre Zukunft?"

Die Richtung, in die das hier ging, befremdete mich. "Ich hatte einen Studienplatz an der Universität von Uppsala. Politologie und nordische Sprachen." Es klang wie eine Erinnerung aus dem Leben eines Fremden. Hatte ich jemals andere Pläne gehabt, als zu den Sternen zu fliegen und in Schwierigkeiten zu geraten?

"Der Vorschlag ist", fuhr Rhodan fort, "wir beurlauben Sie für fünf Jahre und versehen Sie mit einer Vergangenheit. Tun Sie, was Sie wollen. Wenn die fünf Jahre vorbei sind, sehen wir weiter."

"Was heißt 'sehen wir weiter'?" fragte ich mißtrauisch.

"Sie kehren entweder in den aktiven Dienst zurück oder Ihre Kündigung wird wirksam."

"Wer entscheidet das?"

"Sie", sagte er.

Ich widerstand der Versuchung, ein dummes Gesicht zu machen, und konzentrierte mich auf das Naheliegende. "Was ist mit Wanderer?" sagte ich offen und brach damit ein Tabu, das sich bei uns eingeschlichen hat.

Rhodan tat, als ob er rechnete, während er nachdachte. "Egal, wie Ihre Entscheidung ausfällt", sagte er, "Sie werden die nächste Zelldusche erhalten. Soviel schulden wir Ihnen. Ich hoffe aber, daß Sie bei uns bleiben."

Ich wankte völlig verwirrt aus seinem Büro. Ich wollte wütend sein, aber dieser Hundesohn hatte mir den Anlaß genommen. Nicht den Grund, aber ohne Anlaß schien die Wut hohl und kleinlich. Hatte ich nicht gerade alles bekommen, was ich wollte? Brauche ich Gefahr und Gewalt so nötig, daß ich nicht für fünf Jahre darauf verzichten kann? Wem will ich eigentlich was beweisen?

Ich ging zu Betty und jammerte mich aus. Sie grinste. "Bestraft mit fünf Jahren Urlaub? Erinner' mich daran, nie mit dir Poker zu spielen. Aber Scherz beiseite, bist du sauer, weil Terra anscheinend auch ohne dich leben kann oder weil du ein Adrenalin-Junkie bist?"

"He", sagte ich, "wenn Terra fünf Jahre ohne mich leben kann, dann können sie's immer, oder?"

"Bis zum nächsten kosmischen Notfall", sagte Betty trocken. "Wenn sie dich wirklich nicht bräuchten, hätten sie deine Kündigung angenommen."

Sie sah das 'aber' in meinem Gesicht und fuhr fort: "Und glaube nicht, daß sie dich aus Höflichkeit behalten - ich habe Johns Gesichtsfarbe nach eurem letzten Gespräch gesehen. Ich glaube, Höflichkeit war das letzte, was er im Sinn hatte."

Sie schnitt eine komisch-zornige Grimasse, und ich mußte lachen.

"Was wirst du tun?" fragte sie.

"Was kann ich tun?" schoß ich zurück, immer noch anlaßlos wütend. "Ich werd's wohl annehmen."

Später am Abend tranken wir Rotwein und hörten alte Rockmusik.

"Du hast recht, weißt du?" sagte Betty.

"Womit?"

Sie machte eine ausholende Geste, stieß ihr Weinglas herunter, fing es telekinetisch auf und stellte es mit übertriebener Sorgfalt wieder auf ihre Armlehne. "Mit allem."

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Der nächste Tag war mein letzter Tag im Public-Relations-Büro, und ich feierte meinen Ausstand mit einem Büfett und Champagner, was der Pensionierung eines Chefs angemessener war als dem tatsächlichen Anlaß, genau, wie ich es beabsichtigt hatte.

Ich verkrümelte mich bald und ging zu Fuß nach Hause. Es waren fast 40 Grad im Schatten, und der Himmel war weiß vor Hitze. Außer mir war niemand auf den oberirdischen Rollbändern unterwegs, die Leute zogen die kühlen Passagen und U-Bahnen vor. Das spärliche Stadtgrün war allen Bewässerungsbemühungen zum Trotz überwiegend gelbbraun. Von Juli bis September zeigt Terrania seinen Bewohnern die Grenzen der Stadtklimakontrolle. Es war schon wieder Sand in der Luft. Wo immer ich hingehen würde, dachte ich, es würde definitiv eine Stadt sein, wo man das ganze Jahr über das Fenster öffnen konnte, ohne Klimaanlagen und Staubstürme.

Zuhause spielte ich mit meinem Atlas herum, zog Edinburgh und Vancouver in die engere Auswahl und entschied mich für letzteres aus keinem besseren Grunde, als daß ich gehört hatte, es würde dort viel regnen.

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Die falschen Papiere kamen, Solveig Jamieson, geboren 25.3.2028 in Terrania, Konfession römisch-katholisch (da hielt sich wohl jemand in der Abteilung für virtuelles Personal für sehr witzig), Vater Sven Maschinenbauingenieur, Mutter Irma Hausfrau, Vollwaise. Abschlußzeugnis der Oberschule mit guten Noten, Praktika, die erklärten, wieso ich 23 war anstatt 19. (Ich sollte biologische 31 sein, aber ich bin eine von diesen Typen, die aussehen können wie frühreife 16 oder gut gehaltene 40, und denen man ihr Alter ohnehin nie glaubt.) ID-Karte, Führerschein, Bankkonten, Sozialversicherungsnummer. Fotos meiner Eltern, Fotos von mir, Urlaubsfotos, wir in Everest Park, wir in Hua'an Beach, wir auf der Großen Mauer. Mein erster Schultag, meine Erstkommunion, meine Schulentlassung. Ein ganzes Leben in einem neutralen braunen Umschlag. Ich machte mir nicht die Mühe, irgend etwas davon nachzuprüfen, ich vertraue terranischer Wertarbeit. Ich bewarb mich an der University of British Columbia um einen Studienplatz für Englisch, mit den Nebenfächern Politologie und (in Anbetracht meiner mangelnden 'formalen Qualifikationen') Kybernetik. Ein paar Fäden wurden gezogen, und Mitte August hatte ich meine Zulassung, ein Bett im Wohnheim und meine erste Professorensprechstunde.

Meinen Hauhalt in Terrania aufzulösen war erschreckend einfach. Was nicht in die zwei Koffer und den einen Umzugskarton paßte, wurde verkauft oder verschenkt. Eine Firma kam, um das Zeug abzuholen, eine andere, um die Wohnung zu reinigen, und dann standen Betty und ich zwischen den weißen Wänden, die nicht aussahen, als hätte jemals jemand in ihnen gewohnt.

"Wahnsinn", sagte Betty. "Wenn ich jemals umziehe, werde ich zwei Möbelwagen und ein Räumkommando brauchen."

Ich schlief die letzte Nacht bei Betty. Am Abend ergab sich eine ungeplante Abschiedsfete, ein paar Mutanten und Bully, der mir vergnügt und lärmend viel Glück wünschte und über meine regelmäßigen 'Sabbaticals' freundlich Witze riß. Es war eine recht fröhliche Feier, auf der die Gründe für mein 'Sabbatical' nicht zur Sprache kamen. Man hatte sich im Stillen darauf geeinigt, das ganze als erweiterten Bildungsurlaub zu betrachten.

Am nächsten Morgen fuhr Betty mich zum Flughafen.

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2051, Vancouver, Canada: September

In Los Angeles mußte ich in den Küstenhüpfer umsteigen und hatte 40 Minuten Aufenthalt. Insgesamt dauerte die ganze Reise knapp drei Stunden, und das war alles was ich hatte, um eine neue Persönlichkeit zu werden. In den langen Korridoren des Flughafens von LA, der ebensogut der von Terrania hätte sein können, fühlte ich mich noch wie 86 und beurlaubt und glaubte, ich würde es nie schaffen, jemand anders zu sein.

Aber als ich in Vancouver landete, war der Himmel grau, und vor dem Flughafengebäude stand ich ehrfürchtig und staunte über das Wunder, daß Wasser vom Himmel fiel. Hinter der Stadt deuteten sich Berge in grau und grün an und es roch nach Meer. Ich stand mit leeren Händen im Regen und alles, was ich zurückgelassen hatte, war in einer anderen Welt, war schon Geschichte, und ich wußte, daß es richtig gewesen war, herzukommen.

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2051, Vancouver, Canada: Oktober

Mein Zimmer ist im 'Alten Haus', einem Bau von gut 100 Jahren, der schon damals offensichtlich nicht für die Ewigkeit gebaut war und seither mit Klebeband und guten Wünschen zusammengehalten wird. Meine Zimmergenossin ist ein 20jähriges mausegesichtiges Mädchen namens Emily, die jede Woche einen neuen Liebeskummer hat und in der Zeit zwischen den Liebeskummern die Zimmertür absperrt, um mit ihrem jeweiligen Süßen allein zu sein. Erst vor ein paar Tagen stand ich unterm Fenster und brüllte so lange, bis sie mir schließlich mit hochrotem Kopf Klamotten zum Wechseln runterschmiß (ich war in schönster Terrania-Manier ohne Regenzeug aus dem Haus gegangen und hatte keine Lust, in nassen Sachen in der Vorlesung zu sitzen.) Das halbe Haus guckte aus den Fenstern und lachte. Emily produzierte Tränen, als wir uns das nächste Mal sahen und klagte, wie ich ihr das hätte ANTUN können? Ich erklärte fröhlich, nächstes Mal könnte ich auch die Tür aufbrechen, wenn ihr das lieber wäre, und sie brach doch tatsächlich in Tränen aus und nannte mich eine Schreckschraube.

Richtig. Ich liebe es.

Die Universität besteht aus einem Durcheinander von Bauten aller Stilepochen der letzten 200 Jahre und liegt mitten im Urwald. Ehrlich. Das Gelände ist größer als Terrania Space Fields und eine Wildnis, in der anscheinend nur die Wege freigehalten werden. Auf den Hauptwegen wimmelt es von Radfahrern, auf den Nebenwegen trifft man oft keinen Menschen. Die Stadt selber ist genauso ein Stilmischmasch wie die Uni.

Auf der schattigeren Seite habe ich Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstoff (außer Kybernetik), und das schockiert mich, weil ich mit achtzehn keine gehabt hätte. Ich bin aus dem Denken in Worten und Ideen raus. Also verbringe ich den Großteil meiner Freizeit in der Bibliothek oder im Diskussionsclub und versuche, wieder in Übung zu kommen. Wenn ich nicht elementare Kulturtechniken neu lerne, tu ich mich in der Stadt um. Gegen Terrania ist das hier altes Kulturland mit seinen zweihundert Jahren. Mit ein paar Frauen aus meinem Semester gehe ich in den Irisch Pub (Kneipen scheinen Irlands Hauptexportgut zu sein, es würde mich nicht wundern, wenn Siga und Callies schon welche hätten) und zu 'Danny's', einem runtergekommenen, lauten Rockschuppen, wo die anderen mit den Bikern flirten, die hier ziemlich harmlos sind. Die Leute aus dem Diskussionsklub stehen mehr auf Jazz und experimentelles Kino und spotten gutmütig über mich Kulturbanausen, aber was könne man von einem Terranier erwarten?

Es ist Ende Oktober inzwischen und es hat noch keinen Frost gegeben. Falls es im Winter schneit, sind die Berge bestimmt phantastisch zum Skifahren.

Ich denke an den Versuch, 'normal' zu leben, den ich 1991 machte, und frage mich, was der Unterschied zwischen damals und heute ist. Vielleicht versuchte ich damals, 'zurück' zu gehen und vergaß, daß man nur vorwärts gehen kann. Oder es war damals ein 'Versuch' und heute ist es ein Urlaub. Die Entscheidungen sind getroffen. Aber vielleicht werde ich auch in fünf Jahren zurückblickend sehen, daß es gar keinen Unterschied gegeben hat. Hmpf. Ein Grund mehr, für die Gegenwart zu leben anstatt für Zukunft oder Vergangenheit.

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2051, Vancouver, Canada: Dezember

Auch Weihnachten fiel kein Schnee in der Stadt. Ich fuhr in die Berge zum Skifahren. Seit ich in Terrania war, hatte ich nur Abfahrtsski gemacht, die Himalayapisten sind nicht so gut für Langlauf, aber hier fing ich wieder damit an. Die Wintertage sind lang, und es gefiel mir, stundenlang mit der Stille, dem Schnee und meinen Gedanken allein zu sein.

Vielleicht lag's am Skifahren, aber als die Feiertage vorbei waren, fing es an, meinem Gehirn besserzugehen. Meine Noten wurden besser und Lesen war nicht mehr so mühsam, wie es am Anfang gewesen war. Durch die Kybernetikvorlesungen ging ich weiterhin wie ein heißes Messer durch Butter.

Emily blieb mit einem Knaben namens Francis tatsächlich zwei Wochen zusammen und begann, Heiratspläne zu schmieden. Mit jedem Tag Francis guckte sie mehr entlang ihrer spitzen Nase auf mich herunter (irgendwie kriegte sie das hin, obwohl ich einen Kopf größer bin als sie), da ich offenbar immer noch keinen Boyfriend hatte. Ich sagte ihr, daß sie, wenn sie einen Fetzen von Verstand im Kopf hätte, sich um ihr Studium kümmern sollte statt um Francis, dekorative Knaben gäbe es wie Sand am Meer, Diplome nicht. Am nächsten Tag schwenkte sie mir eine obskure Statistik unter der Nase, derzufolge Männer eine aussterbende Spezies waren und eine Frau, die mit 30 noch keinen geangelt hätte, ehe von einem Meteor erschlagen würde, als in den Hafen der Ehe einzusegeln. Soviel dazu, daß Studieren klug macht. Ich begann, mich nach einer anderen Bleibe umzusehen, da mir vor dem Francis-Liebeskummer graute, und ich endlich eine Katze haben wollte.

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© inge 1997