2053, Vancouver, Canada

Das Kolloquium fand in einem Tagungshaus mitten im Nirgendwo statt und ich war die einzige Frau. Ganz schlechter Anfang, dachte ich besorgt und fletschte die Zähne. Diesmal würde ich mir von niemandem irgendwelche Scheiße bieten lassen, und es würde niemand zu Schaden kommen.

Komischerweise gab es fast keine Probleme. Die Hälfte der Kybernetik-Asse waren so weit weg von der Welt, daß ein umgefallenes Bit in der Leitung ihre Aufmerksamkeit mehr fesselte, als selbst Helena von Troja es geschafft hätte, die andere Hälfte war sich ihrer Abwesenheit von der Welt noch hinreichend bewußt, um ehrfürchtig zu staunen, daß eine echte, lebendige Frau in ihrer Nähe war.

Das Zeug, was wir behandelten, war hochinteressant. Ich saß in einer Gruppe, die sich mit der Simulation mehrdimensionaler und halbdimensionaler geometrischer Probleme beschäftigte, und die verdammte Hypermathematik, die ich nie hatte lernen wollen, leistete mir gute Dienste. Eine andere Gruppe befaßte sich mit der rechnerunterstüzten Lösung von Problemen in schwach deterministischen Systemen, und eine dritte mit Effizienten Algorithmen. In unserer Freizeit spielten wir Karten. Ich stellte fest, daß Kartenspielen mir mehr liegt als Schach. Keiner kam auf die Idee, sich irgendwie an die frische (und kalte) Luft zu begeben, so stand ich vom zweiten Tag an vor Morgengrauen auf und machte lange Spaziergänge durch den verschneiten Wald. Am letzten Tag stellten wir uns alle gegenseitig unsere Ergebnisse vor, beglückwünschten uns und fuhren dann heim.

Silvester feierten wir bei mir, Jo und ich hatten einen Haufen Leute eingeladen, wir hatten so laut Musik an, daß das Haus bebte (was nichts machte, alle Nachbarn waren auf meiner Party oder aushäusig, nur die Katzen flüchteten verstört) und stießen um Mitternacht auf dem Dach mit Schampus an. Ab drei dünnte sich die Party spürbar aus, ich saß mit einem Haufen Leute um den Küchentisch, wir rauchten Gras und diskutieren über Politik und Moral, und ich hielt einen Vortrag über Bären, der mit ernstem Kopfnicken aufgenommen wurde. Einer nach dem anderen sackte weg, und als der Morgen graute, zogen die letzten vier Mohikaner (Jo, Suzanne, Adam und ich) auf der Suche nach einem Café, wo man anständigen Cappucino kriegte, durch die nieselregengrauen Straßen. Gegen Mittag fiel ich endlich in mein Bett, durch und durch zufrieden mit der Silvesterfeier und dem vergangenen Jahr, ein gelungenes Exemplar der Spezies Mensch.

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Februar und März regnete es. Ich verbrachte meine Zeit überwiegend im Bett und in der Bibliothek, ließ mein Training schleifen und kriegte meine vierte Katze, eine gewaltige Maine Coon, deren Schnurren die Wände zittern ließ und von der Jo schwor, sie habe Pumablut.

"Wie viele von denen willst du dir noch zulegen?" fragte sie.

"Keine Ahnung. Sie laufen mir zu."

"Hattest du nicht mal Krach mit dem Hausmeister wegen Reggie?" (Reggie ist der Rote).

"Wir haben einen neuen Hausmeister", sagte ich.

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Journalistik läuft gut, obwohl Jo insofern recht hat, daß mein Stundenplan ziemlich volläuft. Andererseits kann ich den Kurs auf meine Hauptfächer anrechnen lassen, so daß mein Zeitplan insgesamt recht gut aussieht. In Politologie kämpfe ich mich durch 'Systemvergleiche', einen Anfängerkurs, vor dem ich mich letzten Winter gedrückt habe und für den ich jetzt den Schein brauche. Es ist stinklangweilig. Mein zweiter Kurs für das Fach ist über Anarchie und sehr viel interessanter. In Englischer Literatur amüsiere ich mich mit 'Zukunftsvisionen der Prä-Raumfahrtszeitalters' und lese bis in die Morgenstunden Heinlein, Asimov, Bradbury und was es sonst noch so gibt. Ich mag Heinlein. Als Gegengewicht habe ich mir versprochen, im nächsten Semester etwas Schwieriges zu nehmen. Für Kybernetik habe ich mich für den Sommer für ein Seminar über F-Schablonen-Prägung angemeldet. Es erfordert ein technisches Praktikum, für das, tä-tää, Frauen nicht zugelassen sind. Ich klagte Prof Chen, der nix auf seine Einserstudentin kommen läßt, mein Leid, und hatte zwei Tage später einen Praktikumsplatz in einer Roboterklitsche in Atlanta. Man sieht, ich lerne.

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Den April verbrachte ich also in Atlanta, wo alles Pfirsich-Irgendwas heißt, obwohl weit und breit kein Pfirsichbaum zu sehen ist, und sie heute noch den Amerikanischen Bürgerkrieg nachspielen, was um so mehr verwundert, da sie ihn, so weit ich weiß, verloren haben. Auf einer Parade entlang einer der Pfirsichstraßen sah ich die Kavallerie durchreiten, ein prächtiger Anblick, und auf einmal tauchte dieser Gedanke im meinem 88 Jahre alten Hirn auf und wollte nicht mehr weggehen, ob hier nicht irgendwo unerkannt in der Menge jemand wie Atlan stehen könnte, jemand, der sich ERINNERTE, und ich fragte mich, ob er wohl lachte oder weinte, während er dem Schauspiel zusah, den Eisverkäufern und den blumenwerfenden Mädchen. Am Abend war mir übel und ich hatte Kopfschmerzen und das Gefühl, etwas links neben der Welt zu stehen. Der Arzt diagnostizierte einen Sonnenstich und schrieb mich zwei Tage krank.

Ich besichtigte das Coca-Cola-Museum, wo ich erfuhr, daß man auch auf Arkon II seine Classic Coke kriegen kann, und machte, wie es sich gehörte, einen Abstecher nach Disney World in Florida, was ein kleiner Vorgeschmack auf ein hübsches, ordentliches, aufgeräumtes und sicheres Universum ist. Ich schickte eine Postkarte nach Terrania.

Am 30. April verabschiedete der Chef mich mit einigen blöden Kommentaren, von denen er nicht merkte, daß sie blöde waren, zufrieden mit der 'guten Zusammenarbeit', und sagte, er würde sich freuen, wieder von mir zu hören, wenn ich mein Studium beendet hätte. Danke, nein. Ich und ein 9 to 5 Job? Schreckliche Vorstellung.

Ich hängte eine Woche New Orleans an. Es war heiß und feucht und laut und voll von Leuten und Musik. Mein Hotel war eine billiger Schuppen im Zentrum, wo die Klimaanlage kaputt war und Kakerlaken über den Boden im Bad flitzten, es störte mich nicht. Keiner kannte mein Gesicht und ich ließ ein wenig die Sau raus, kaufte mir einen Minirock und ein ausgeschnittenes Top, tanzte bis zum Morgengrauen in verräucherten Jazzbars, trank Bourbon und lachte mir einen Latin Lover an, der sich nicht nehmen ließ, mich freizuhalten, wunderschöne braune Augen hatte und Hände wie ein junger Gott. Es war ein Lebensstil zum sich-darin-verlieren, die Hitze und die Musik waren so lebendig, daß man nie schlafen gehen wollte, die Tage und Nächte flossen zu einem einzigen ewigen Jetzt zusammen, in dem ich mich selbst kaum kannte. Am 8. in der Früh bestieg ich den Flieger, der mich wieder nach Vancouver bringen sollte, mit dem Gefühl, gestern erst angekommen zu sein, und gestern war vor hundert Jahren.

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In Vancouver schien die Sonne kühl und hell, und ich ging an den Strand. Auf dem Rückweg in meine Wohnung begegnete mir Jo.

"Ich habe dich gesucht", sagte sie aufgeregt. "Hast du es schon gehört?"

"Ich bin heute erst zurückgekommen. Was ist los?"

"Im Park vor der Uni ist gestern eine Frau überfallen und vergewaltigt worden. Wir wollen uns heute abend im Frauenzentrum treffen und überlegen, was wir tun können."

"Frauenzentrum?"

"Jetzt stell' dich nicht so mädchenhaft an. Kommst du?"

Langsam sickerte in mein Hirn, was sie gesagt hatte. "Ja", sagte ich. "Wann?"

Sie sah auf die Uhr. "In zwei Stunden. Kann ich mich bei dir zum Abendessen einladen? Ich muß noch ein paar Leute anrufen."

"Fühl' dich wie zu Hause."

Ich orderte chinesisches Essen, während Jo am Telefon hing. Anderthalb Stunden später schwangen wir uns auf mein Motorrad und fuhren zum Frauenzentrum, einem definitiv einsturzgefährdeten Haus in einer Nebenstraße, nahe am Unipark. In einem Raum mit Büchern, Zeitschriften, zahlreichen lila Tüchern und Mobiliar, das sich auf meiner Müllhalde gut gemacht hätte, saßen ein paar Frauen, zum Teil in relativ abenteuerlicher und interessanter Aufmachung.

"Hi Jo", grüßte die eine, als wir reinkamen. "Wo hast du denn Suzanne gelassen?"

"Arbeitet noch", knurrte Jo. "Das hier ist Solveig, eine weitere irregeleitete Studentin. Solveig, Cory, Heather, Tia, Ellen..."

Ich speicherte die Namen ab und hatte das Gefühl, daß ich irgend etwas nicht mitgekriegt hatte. Ich hätte danach espern können, aber das wäre nicht besonders höflich gewesen, und unnötig obendrein. Ich brauche nicht alles zu wissen, deshalb lasse ich meine Schilde normalerweise oben.

Cory bot mir Tee an. "Ich habe dich noch nie hier gesehen", sagte sie.

"Könnte daran liegen, daß ich das erste Mal hier bin."

"Wie lange kennst du Jo schon?"

"November 2051", murmelte ich und verdrückte mich aus dem Gespräch um ein Regal mit Büchern zu studieren.

Um kurz vor acht war ungefähr ein Dutzend Frauen da und rafften sich irgendwie auf, mit der Sitzung anzufangen. Ich hatte mir einen Sessel in der Ecke gesucht und bewunderte den Mangel an Organisation. Und ich hatte die Uni für chaotisch gehalten.

Eine Stunde später waren sie immer noch dabei, auf die Polizei zu schimpfen, die den Täter noch nicht erwischt hatte, auf die Unileitung, die keine Laternen entlang der Wege aufgestellt hatte. Der Gedanke an Laternen entlang der Wege gefiel mir nicht. Ich hatte inzwischen mitbekommen, daß es der zweite Überfall in ebenso vielen Wochen gewesen war. Das erste Opfer hatte sich gewehrt und geschrien und den Typen in die Flucht geschlagen.

An der Wand war ein Stadtplan. Ich sah mir die Ecke an, wo es passiert war. Fünf Minuten von einem der Wohnheime. Man hätte die Schreie doch hören müssen.

Die Diskussion war inzwischen bei Flugblattaktionen angekommen. Mir war nicht ganz klar, welchen Nutzen das haben sollte, und das sagte ich auch. Die Antwort war irgend etwas von 'Bewußtmachung'.

"Was Bewußtmachen?" fragte ich. "Daß es gefährlich ist, nachts alleine auf die Straße zu gehen? Haben euch das nicht eure Mütter schon erzählt?"

OK, es war vielleicht nicht das gescheiteste, das zu sagen. Ich sollte bei Bären bleiben. Ich erwog, zu erklären, was ich gemeint hatte, kam aber zu dem Schluß, daß das die Diskussion nicht voranbringen würde.

"Und was denkst DU, das wir tun sollen?" schoß eine Frau, deren Namen ich nicht mitgekriegt hatte, auf mich los, als sich der erste Aufruhr gelegt hatte. "So tun als wäre nichts passiert, bis er sein nächstes Opfer findet? Ist dir das etwa alles egal?"

Ich dachte an eine Vibroklinge in meinen Händen, an Blut, und antwortete nicht.

"Was würdest du tun, wenn er DICH erwischt?"

"Wegrennen", sagte ich. Mein Mund war trocken.

"Und wenn er schneller ist?"

Dann gnade ihm Gott. "Mich losreißen", sagte ich. "Schreien. So einen Aufstand machen, daß es ihm das nicht wert ist."

"Und wenn er stärker ist als du? Wenn er eine Waffe hat? Wenn er dich schlägt?" Ihre Intensität und ihre hellblauen Augen hämmerten gegen meine Schilde.

"Vielleicht würde ich verlieren", sagte ich. "Aber ich würde kämpfen. Und WENN ich verliere, würde ich es nicht gegen mich halten." Ich schloß kurz die Augen um die Mitte wiederzufinden und merkte, daß ich die Fäuste geballt hatte.

Als das Rot vor meinen Augen verschwunden war und ich wieder klar sah, hatte sie sich abgewandt und die Hände vors Gesicht geschlagen. Ich fing zornige Blicke. "Du solltest jetzt besser gehen", sagte eine von den Frauen.

Ich ging, verwirrt, vage zornig, mir keiner Schuld bewußt und mit zu vielen Erinnerungen. Ich fuhr ein paar Stunden ziellos durch die Gegend und kam erst spät heim, durchgefroren, und träumte von Kämpfen, die ich nicht gewinnen konnte.

Am nächsten Morgen nahm ich mein Training wieder auf.

In der Cafeteria, als ich gerade über dem ersten Kaffee des Tages saß, ließ Jo sich auf den Platz mir gegenüber fallen.

"Du verstehst es wirklich, dir Freunde zu machen", sagte sie.

Ich verkniff mir ein 'tut mir leid', weil ich nicht genau wußte, was mir hätte leid tun sollen. "Meine gewinnende Persönlichkeit", sagte ich. "Wie ist es ausgegangen?"

"Du meinst, nachdem wir Laura beruhigt hatten? Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß es keinen Sinn hat, wie heißt es, Opferrollen zu zementieren. Wir planen, in dem Parkstück nachts Patrouillen laufen zu lassen, zu dritt mit Trillerpfeifen und Taschenlampen. Um es dem Kerl ungemütlich zu machen."

Ich dachte an das Chaos von gestern. "Du und welche Armee?" fragte ich skeptisch.

Sie grinste ihr 'Ich habe Arbeit für dich'-Grinsen. "Du zum Beispiel?"

"Nein. Nein. Kommt überhaupt nicht in Frage." Ich brauchte nur die Augen zu schließen damit meine Welt wieder voll Rot lief. Rot wie Zorn. Rot wie Blut.

"Und warum nicht?"

Weil es Tote gäbe, wenn er mir in die Finger geräte. Aber das wollte ich nicht sagen. Es klang wie eine Formel, eine Ausrede, Prahlerei. Ich starrte in meine Tasse. "Kannst du dich nicht einfach mit einem Nein zufriedengeben?"

"Nein, das kann ich nicht. Es ist mir wichtig, und ich glaube, daß es dir auch wichtig ist. Ich will wissen, warum nicht."

Es ist zu gefährlich. Es wird nichts bringen. Es ist mit den vorhandenen Ressourcen nicht durchführbar. Das mochte alles sein, aber es wurde nicht besser, wenn ich das Unternehmen nicht unterstützte. Hat uns Terrania nicht gelehrt, das Unmögliche zu tun?

Ich habe keine Lust, ich habe zu arbeiten, es ist mir nicht wichtig. War das die Wahrheit? War es relevant?

Warum soll ich mit Leuten zusammenarbeiten, die mich nicht mögen? Als ob 'mögen' eine Rolle spielte.

"Hundert Gründe", sagte ich, "und keiner gut genug, fürchte ich. Ich bin dabei."

Jo guckte besorgt. "Sicher? Ich möchte dich zu nichts überreden, was du nicht möchtest."

"Kann sein, daß du das grade getan hat." Ich grinste. "Die Rechnung geht auf dein Karma."

"Na großartig. Heute abend ist wieder Vorbereitungstreffen. Kommst du?"

"Meinst du, die lassen mich noch mal rein?"

"Versuch's einfach."

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Ich versuchte, und da ich bis acht Seminar hatte, war ich sozusagen pünktlich für das um sieben angesetzte Treffen. Sie guckten skeptisch, aber sie warfen mich nicht wieder raus. Wahrscheinlich waren sie von der reinen Frechheit beeindruckt. Und sie brauchten wirklich dringend Leute, um ihren Plan durchzuführen. Eine Liste von Frauen, die 'vielleicht' mitmachen würde, enthielt am Ende vierzig Namen. Beim nächsten Treffen waren es noch 22. Das hieß für jede, zweimal die Woche zwei Stunden. Wenigstens schienen die Frauen, die da waren, motiviert zu sein.

"Bis zum Ende der Woche", seufzte Jo. "Oder bis es das erste Mal regnet."

Wir saßen im 'Fiddler's Green', es ging auf Mitternacht. "Warum?" fragte ich. "Sie wissen doch, daß es länger brauchen wird."

Jo hob ihr Glas. "Auf Optimisten. Solveig, du hast so ein positives Menschenbild. Von welchem Planeten bist du?"

"Arkon", sagte ich. "Da haben wir Roboter für so was."

Sie wollte sich ausschütten, während ich an den mit Sternen gepflasterten Himmel Arkons dachte, an warme, helle Nächte in den Gärten, an Raumschiffe, die wie Wandelsterne ihre Bahnen über den Himmel zogen, und für einen Moment wünschte ich mich dorthin. Jo sah es nicht, sie gestikulierte Chris, dem Kellner, nach noch einem Bier.

Wir gingen zur Sperrstunde. Die Straße drehte sich ein wenig unter mir weg, und ich ließ das Motorrad lieber stehen und ging zu Fuß heim.

Nach einer Woche waren wir noch sechzehn auf den Patrouillen. In der ersten Nacht, wo es regnete, aus Eimern und Kübeln regnete, elf. Vierzehn, als das Wetter wieder besser wurde. Es geschah nichts, außer ein etwas skurriles Ereignis mit einem zankenden Pärchen. Ende Mai saßen noch Jo, ich, Suzanne, Cory und Laura im Foyer der Bibliothek, wo wir uns normalerweise trafen.

"Du siehst müde aus", sagte Jo.

Ich zuckte die Schultern. Ich hatte in diesem Monat eine Woche New Orleans aufzuholen, das Praktikum nachzubereiten, fünf Papers und ein Essay abzugeben, die normalen Vorlesungen und Seminare zu besuchen und die normale Menge an Büchern zu lesen. Das 'schwierige Sommerthema' das ich mir versprochen habe, ist Grammatik. Ich komme klar, aber die Ausflüge in die Berge fehlen mir.

"Das war's dann wohl", sagte Suzanne.

"Nein", sagte Laura.

Cory und Suzanne begannen ihr zu erklären, daß es keinen Sinn mehr hatte. Ich schlief auf der Fensterbank, wo ich saß, ein.

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Ich war nervös, nachdem wir aufgehört hatten, las jeden Tag die Zeitung und hing viel im Frauenzentrum rum. Ich hoffte, daß nichts mehr passieren würde. Denn wenn etwas passierte, wenn er wieder eine Frau überfiel, dann mußte ich ihn kriegen. Ich würde ihn kriegen, und ich war nicht wild auf die Konsequenzen. Aber tun würde ich es. Warum? Weil ich es konnte. Und weil es jemand tun mußte. Immer die gleiche Antwort.

Im Frauenzentrum haute mir Cory Theorie um die Ohren. Sie ist eine Tratschtante mit einem unglaublichen Gedächtnis für Namen, Gesichter, Aussprüche, Ideen und Argumentationslinien. Aus reiner Selbstverteidigung begann ich, mich durch die Bibliothek dort zu lesen. Es war eine der frustrierendsten Erfahrungen, die ich je hatte. An einem Tag schmiß ich erbost eins der Bücher gegen die Wand. Cory, die gerade beim Gläserspülen war, guckte interessiert hoch: Neuer Tratsch!

"Dies verfluchte Buch ist hundert Jahre alt", fauchte ich, "und jedes einzelne verfluchte Wort ist wahr!"

Cory lachte düster. "Willkommen in der Wirklichkeit."

"Wirklichkeit! Das ist irreal! Wenn seit hundert Jahren jeder weiß, daß dieses Ach-so-weibliche Volksverarschung ist, warum hat noch keiner was getan? Scheiße, der Feudalismus ist gefallen, der Kommunismus und die Monarchie, Rassismus ist unmodern, und ich muß mir heute noch anhören, daß ich als Frau kein Robotik-Praktikum machen darf, weil ich mir ja wehtun könnte!"

Cory holte tief Luft und ich bereitete mich auf den nächsten theoretischen Rundumschlag vor. "Veränderung findet nur statt, wenn eine hinreichende Anzahl Leute zur gleichen Zeit die Verhältnisse unerträglich UND verbesserbar finden..."

Aber erinnerte ich mich nicht an Zeiten, wo es anders gewesen war? Hatten wir nicht als Mädchen geglaubt, alles erreichen zu können, wenn wir nur wollten? Hatte ich mich verändert oder die Welt?

Argh. Ich klinge wie eine alte Frau.

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So verging der Sommer. Ich arbeitete viel, um den verkrachten Mai aufzuholen, bestand alle Kurse und baute mir für den Winter einen faulen Plan zusammen. Im Robotik-Seminar lernte ich einen Knaben namens Lucas kennen, dessen Faszination mit Robotern und Positroniken eine fast religiöse Komponente hatte. Ich mochte seine Gesellschaft, und ich war die einzige, die sie aushielt. Im August schraubten und programmierten wir Tag und Nacht an unserem Projekt und präsentierten am 1. September dem erschütterten Prof einen automatischen Kybernetikprofessor mit auswechselbaren Persönlichkeitsalgorithmen. Das Gelächter der Zuschauer war auf dem ganzen Campus zu hören, schwört Jo.

Am 2. September packte ich Zelt und Schlafsack auf mein Motorrad und fuhr in die Berge. Ich brauchte die Pause.

Ich kam bis Alaska hoch und sah das erste Mal einen richtigen, echten, lebensgroßen Bären in freier Wildbahn. Mir ging schon etwas die Muffe, aber der Bär ignorierte mich und ging seinen Bärenangelegenheiten nach. Als ich nach Juneau kam, hatte ich zehn Tage mit keinem Menschen mehr als drei Sätze gewechselt und fühlte mich wieder heimisch in meinem Kopf. Zurück nahm ich das Küstenschnellboot, da hinter mir schon die ersten Pässe zugeschneit waren.

Meinen Winterplan habe ich mit einem Kurs 'Kreatives Schreiben' und einem Kurs über Holoprogrammierung aufgepeppt. Montag habe ich freigeräumt. Ausschlafen!

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Als der Herbst von den Bergen herunterkam und die Bäume rot und golden waren, kam eine Karte von Betty. Sie hatte unerwartet eine Woche, vielleicht zwei, frei bekommen und fragte, ob sie mich besuchen könnte. Ich sagte ja. Zwei Tage später brachte Ras sie vorbei, trank noch einen Kaffee und entplöppte wieder. Betty besah meinen Palast, mein Motorrad und meine Katzen mit Staunen. Wir tranken Bier im 'Fiddler's', ich schleifte sie durch die Sehenswürdigkeiten und einen der einfachen Berge rauf, wo ich sie dennoch abhängte. "Zu viele Schreibtischjobs", sagte sie entschuldigend.

Sie meinte, ich sähe gut aus. Ich sagte, ich fühlte mich auch gut.

"Wirst du zurückkommen?" fragte sie.

"Ja", sagte ich. Wie könnte ich es nicht tun.

Sie wirkte überrascht und ich fragte sie, warum.

"Wie lange kennen wir uns?" fragte sie. "Sechzig Jahre? Siebzig?"

"Siebzig Jahre und drei Tage", antwortete ich.

"Siebzig Jahre und drei Tage", echote sie. "Und hier stehe ich und frage mich, ob ich dich überhaupt kenne oder jemals gekannt habe."

"Wie stehen denn meine Aktien?" fragte ich, um abzulenken. "Würden sie mich noch nehmen oder haben sie gemerkt, daß sie ohne mich auskommen?"

Betty grinste. "Aus für gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen mit pelzigen Ohren wurde verlautet, daß nur der Schiedsspruch des Großmufti zwischen dir und einer sofortigen Reaktivierung steht. Unser Obertierschützer hat vierzig Kamele für dich geboten."

Ich mußte über die Ausdrucksweise lachen. Die Abwehr hatte immer schon Mutanten gewollt. Und jetzt wollte sie mich? Da öffneten sich interessante Perspektiven. "Und?" fragte ich. "Verkauft der Großmufti?"

Sie zuckte die Schultern. "Pelzohren sind groß, aber die Wege des Muftis sind unerforschlich."

Wir sprachen über neue Raumschiffe, über die aktuelle arkonidische Außenpolitik, über den neuen Home-Rule-Gesetzentwurf, den Kolonistenvertreter vor dem terranische Parlament eingereicht hatten, wer den Antrag unterstützte und warum. Betty hielt die vorgeschlagenen dreißig Jahre bis zur völligen Unabhängigkeit für zu kurz, ich für zu lang. Wir diskutierten hitzig über die von Terra geforderte Klausel, daß nur Kolonien mit einer stabilen demokratischen Regierung in die Unabhängigkeit entlassen werden sollten. Ich argumentierte mit der Freiheit, auch seine Regierungsform zu wählen, Betty mit Menschenrechten. Ich sagte, daß einzige unentbehrliche Recht sei das Recht, fortzugehen. Natürlich kamen wir zu keinem Ergebnis - Heinlein hatte recht, als er schrieb, daß politische Diskussionen nie enden, sondern immer nur durch externe Ereignisse unterbrochen werden - aber es war wirklich gut, das Weltgeschehen mal wieder aus der Perspektive von jemandem zu betrachten, der einen aktiven Anteil daran hat.

"Fehlt dir Terrania?" fragte Betty.

"Terrania? Nein. Die Sterne fehlen mir."

"Du bist eine Romantikerin."

"Genau. Sag's bloß nicht weiter."

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Das Wintersemester lief so gemütlich an, wie ich es gehofft hatte. In dem Kurs über Holoprogrammierung traf ich Lucas wieder und wir heckten gemeinsam Blödsinn aus. Die halbe Fakultät hatte uns im Verdacht, als die automatischen Türen anfingen, sich nicht mehr für Aktentaschenträger zu öffnen, und es auf dem Campus zu regelmäßigen Einstein- und Elvissichtungen kam, aber niemand konnte etwas beweisen. Wir hackten uns in alle möglichen Systeme, nur um zu beweisen, daß wir es konnten, und wurden nie erwischt. Es gab Leute, die Luke dafür bezahlten, sich in ihre Systeme zu hacken und ihnen anschließend zu erzählen, wie er es gemacht hatte. Ich hatte meinen Spaß daran, aber mir fehlte sein religiöser Eifer. Als Abschlußarbeit bereiten wir ein interaktives Holoprogramm vor, das seine Weltkenntnis aus den Dramen von Shakespeare bezieht. Wenn die Zeit reicht, kriegen wir vielleicht noch eine alternative Dadaistische Variante hin.

In Politologie hatte ich Kolonialismus als Semesterschwerpunkt, in Englisch stand Linguistik auf dem Stundenplan. Im Frauenzentrum regnete es durchs Dach, und Jo spannte mich zum Helfen ein.

Weihnachten verbrachte ich in den Bergen und kam, nachdem ich beim Abfahrtsski zu einer Lawine geworden war, grün und blau zurück. Adam stand hinter dem Tresen im 'Fiddler's', wie er es während der Ferien für gewöhnlich tat. Er hatte keine Wohnung hier und ich bot ihm (nicht ohne Hintergedanken) an, bei mir zu wohnen, während er in der Stadt war. Die Sache entwickelte sich wie ich gehofft hatte. Adam ist groß und knuddelig, er mag meine Marotten und bringt ich zum Lachen. Den Abwasch machen wir gemeinsam und manchmal bewerfen wir uns mit nassen Handtüchern.

Silvester feierten wir im 'Fiddler's'. Es gab eine Jam Session, wir sangen ein paar Sachen, und zwischen einem Guiness und dem nächsten wurde mir plötzlich klar, daß die Hälfte meiner Zeit in Vancouver vorbei war.

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© inge 1998