2054, Vancouver, Canada

'54 ließ sich langsamer an als sein Vorgänger. Die Einsicht, daß es 'Halbzeit' war, machte mir zu schaffen. Ich blieb zwei Tage im Bett, um meinen Silvesterkater auszukurieren und dachte an Terrania. An die Sterne. An Betty und Bully und John. An mich in der grünen Uniform Terras. An Pläne, die Mercant mit mir haben mochte. An eine Menge Dinge. Am Ende biß ich die Zähne zusammen und machte mit dem Leben, das ich hatte, weiter.

Adam flog nach Toronto zurück. Luke machte seinen Abschluß mit der erwarteten Eins mit Stern ('Und ich habe nicht mal in ihren Files rumgepfuscht', sagte er, beeindruckt von seiner eigenen Zurückhaltung) und verschwand nach China, wo er einen Job bei einer Firma für Sicherheitssoftware bekommen hatte. In den letzten Tagen, wo er da war, büffelte er Interkosmo und versuchte, sich an chinesisches Essen zu gewöhnen. Eine der Bands, die gelegentlich im 'Fiddler's' spielte, kam auf die Idee, das sie noch eine weibliche Leadstimme brauchen und bequatschten mich, es zu versuchen. Wider Erwarten gefiel es mir, auf einer Bühne zu stehen. Die Stimmung der Leute aufzunehmen und ihnen zurückgeben machte Spaß, es war wie in warmem, schnellem Wasser zu schwimmen. Es erinnerte mich spürbar daran, daß ich immer noch Empathin war, und ließ mich vermuten, daß das zum Teil klosterartige Leben, das man Telepathen gerne aufdrückte, um ihre empfindlichen kleinen Gehirne nicht zu ruinieren, für eine schäbige Halbtelepathin wie mich einfach nicht paßte.

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Uni läuft inzwischen so richtig routiniert. Nur das Kreative Schreiben macht mir Kummer. Ich bin einfach nicht kreativ. Eine der Aufgaben war, auf einer Seite einen Streit zwischen einem Mann und einer Frau zu schildern, und ich saß da und war auf einmal so planlos, so wütend, daß ich nichts aufs Papier brachte. Und dann die Lyrik. Argh! Das einzige, was mir bis jetzt Spaß gemacht hat, war ein autobiographisches Schreibspiel: Innerer Dialog mit den Eltern - Wunschträume der Kindheit - Lebensbilanz. Die Pointe ist natürlich, daß ich eine gefälschte Biographie habe, daß ich die Geschichte einer Frau erzähle, die im 21. Jahrhundert in Terrania geboren ist, deren Vater Ingenieur war und deren Mutter Hausfrau, eine Frau, die ich nie gewesen bin. Mir ihre Kindheit auszudenken, ihre Jugend, ihr Verhältnis zu ihren Eltern, mehr als die paar Fotos, die mir die Abteilung für virtuelles Personal geschickt hat, war ein reines Vergnügen, ich war so stolz drauf, daß ich es Jo vorlas und dabei fast vergaß, daß sie den Witz ja nicht verstehen konnte und mich etwas kariert anguckte. Ich improvisierte mit der Wahrheit: Was für ein Erfolgserlebnis es sei, die Möchtegerntherapeuten glücklich zu mache, ohne etwas über sich selbst zu verraten. Das verstand sie, obwohl sie meinte, ich würde ganz schön kompliziert denken. Seit dieser Story wurde es besser und die Kursleiterin war sehr zufrieden damit, daß sie meine 'Blockaden beseitigt' hatte. Wer wäre ich, ihr zu sagen, daß die 'Blockade' das gewesen war, was ich bin, Widersprüche und Geheimnisse, und daß die Lösung war, mit der Stimme einer erfundenen Frau zu sprechen.

Der Frühling kam früh und heftig. Ich tourte die Westküste herunter bis Monterey. Dadurch verpaßte ich die Abgabe von zwei Papers für Englisch, und der bekümmerte Prof (bekümmert, weil mich solche Eskapaden dauerhaft auf einem B halten, während alle Papers, die ich abgebe, mindestens ein A- kriegen) hielt mir einen Vortrag über den Wert der Pflichterfüllung, dem ich mit einem Vortrag über den Wert des Frühlings begegnete, bis er mir schließlich ein Referat aufgab, um die Scharte auszuwetzen, so daß ich tatsächlich auf ein glattes A in dem Kurs kam.

Die Typen an der Schießbahn, wo ich trainiere, wollen, daß ich für ihren Verein in der Damenmannschaft mitschieße. So sehr mir die Idee gefällt, einigen Leuten mal unter Turnierbedingungen zu zeigen, was 'ne Harke ist, wenn ich irgendwas vor Publikum mache, dann doch lieber Folk singen. Ich glaube, ich fange wieder mit Fechten an, da bin ich so richtig schön aus der Übung. Oder ich lerne Schlagzeugspielen. Oder Reiten. Oh Mann, so viel zu tun und so wenig Zeit. Schon wieder Mai. Ich fühle die verdammten Monate davonticken.

"Schon 'ne Idee, was du nach dem Studium machst?" fragte Cory, als ich im Frauenzentrum saß und ihr half, die Bücher auszuwählen, die für die kleine Bibliothek bestellt werden sollten. Ja, Cory, ich werde zur Solaren Abwehr gehen. Ich werde auf fremden Planeten Leute umbringen, die nicht unsere Meinung zur Stellung Terras im galaktischen Machtgefüge teilen. Und es wird mir wahrscheinlich Spaß machen, denn sonst würde ich es doch nicht tun, oder?

Ich seufzte "Nein."

"Wahrscheinlich wirst du Lehrerin", sagte Cory gutgelaunt. "Werden alle. Oder Sekretärin."

"Ich hatte an Privatdetektivin gedacht", sagte ich. "Oder Trainerin für Kampfsport."

Das war mir so rausgerutscht, und jetzt schaute Cory mich mit großen Augen an. "Du machst Selbstverteidigung?"

"Kampfsport", korrigierte ich. "Karate und Jiu-Jitsu."

"Und das sagst du nicht . . ."

Eine Flasche Wein später hatte sie mich überredet, ein Mal wöchentlich Kurse am Frauenzentrum zu halten. Es gab keinen guten Grund, es nicht zu tun.

Am 27. Mai versuchte ein Kerl, im Park vor der Uni eine Frau zu überfallen. Sie war die Tochter eines Diplomaten und trug zu ihrem Selbstschutz einen Stunner. Der Kerl sitzt hinter Gittern und der Vater seines schlecht gewählten Opfers wird vermutlich dafür sorgen, daß er da eine Weile bleibt. Der Täter ist ein ganz normaler Junge, studiert wie ich Kybernetik im Nebenfach, viertes Semester, ich habe ihn oft an der Uni gesehen, und Laura sagt, es sei der gleiche, den wir letztes Jahr nicht erwischt hätten. "Es gibt noch Gerechtigkeit auf der Welt", sagte Tia zufrieden.

"Zufall gibt es", sagte Jo.

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Mein Tagesablauf zur Zeit: Immer noch aufstehen um halb acht, Training, um 10 an der Uni. (Außer Montags). Freitags singe ich mit der Band im Fiddler's oder in anderen Kneipen der Gegend. Donnerstags üben wir. Montags bin ich ab Mittags im Frauenzentrum, helfe bei diesem und jenem, klöne mit den Leuten, lese Bücher und halte abends meinen Selbstverteidigungskurs. Anschließend heule ich mich bei Cory über meine hoffnungslosen Fälle aus, die eine solche Beißhemmung haben, daß man sich fragt, wie sie den Kindergarten überleben konnten. "Hast du eine Ahnung", sagt Cory. "Die wirklich schlimmen kommen gar nicht bis zu uns. Die denken, Feminismus ist eine ansteckende Krankheit."

"Ich bin keine 'Feministin'", sagte ich indigniert.

Ich habe Cory noch nie wütend gesehen, aber jetzt war sie es. "Dann solltest du dir besser überlegen, warum nicht!" fauchte sie.

Ich suchte nach einem diplomatischen Ausweg. "Ich will einfach nicht in eine Schublade gesteckt werden, das ist alles."

Cory machte das Gesicht, daß ich vermutlich angesichts der mangelnden Aggressivität einiger meiner Schülerinnen mache. "Ist dir noch nicht aufgefallen, daß LEUTE dich in Schubladen stopfen, egal wie DU dich nennst? Und von denen läßt du dich ins Bockshorn jagen, erstarrst vor einem Wort wie ein Kaninchen? Werd' erwachsen!"

Ich würde gerne sagen, daß ich Cory einfach argumentatorisch nicht gewachsen bin, aber jetzt, eine Woche später (es ist wieder Montag und ich sollte langsam meine Sachen packen und mich auf den Weg machen), denke ich, sie hat mich in Grund und Boden reden können, weil ich ein Idiot bin. Dumm, vor Worten davonzulaufen. Besser, sich ein herausforderndes Etikett selber anzuheften, um Definitionen und um Wahrheit zu kämpfen. Schließlich hat es mich auch nie gestört, ein 'verrücktes Weibsstück' genannt zu werden - im Gegenteil.

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Im August kam Adam, auf der Flucht vor der schwülen Hitze von Toronto, und wir hatten unseren ersten Krach, weil er meine Arbeit um Frauenzentrum 'albern' fand. Er teilt eigentlich nur meine Ansicht, daß Leute für ihr Tun und Lassen und Werden selbst verantwortlich sind, aber es fehlt ihm das Konzept davon, wie sehr Gewohnheiten und Gesetze Menschen darin beschränken, eben das zu sein. Kann ich ihm eigentlich nicht übelnehmen, ich war in dem Alter genauso (er ist 33). Also erklärte ich es ihm, anstatt es übel zu nehmen, und ob er nun wollte, daß ich Ruhe gab oder ob er meine Argumente einsah, er entschuldigte sich und hielt den Mund, so daß wir in den restlichen drei Wochen seines Sommerurlaubs sehr gut klarkamen und viel über Literatur und Geschichte redeten. Er versuchte, mir einen Lateinkurs schmackhaft zu machen, aber das war mir dann doch etwas zu viel Bildung.

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Im September gab ich endlich den Auftrag, die dritte Etage meines verfallenen (inzwischen nicht mehr ganz so verfallenen) Palastes zu renovieren. Ein Brief von Leroy & Kimble teilte mir mit, daß sich mein Vermögen in den letzten zwei Jahren um ca. 7% vermehrt hätte, trotz meiner ständigen Ausgaben. Ich versuchte, mir das in Zahlen vorzustellen und auf ein paar Jahre hochzurechnen und mir wurde schwindelig. Im Laufe der nächsten Tage füllte ich hauptsächlich Schecks aus und spendete etwa 1K-Solar an wohltätige Organisationen - Nationalparks, politische NGOs und in dem Aufwasch auch (anonym und ohne Spendenquittung) ans Frauenzentrum, auf daß sie endlich mal ihr Dach anständig flicken lassen, sonst müssen Jo und ich da im Oktober wieder hoch und Dachpappe vernageln.

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Im Oktober hockte ich mit Jo auf dem Dach und vernagelte Dachpappe, während die Orga-Gruppe beriet, ob man eine anonyme Spende annehmen könne und wenn ja, was damit zu tun sei. Mein Vorschlag, das Dach reparieren zu lassen, traf auf taube Ohren, da ich, als diejenige, die letzten Endes die Dachpappe zu vernageln hatte, natürlich voreingenommen war.

Eines Tages werde ich vielleicht verstehen, wie diese Leute denken.

Im Oktober hatte ich auch drei Veröffentlichungen: Erstens ein paar Texte aus dem 'Kreatives Schreiben'-Kurs, recht bedeutungsloses Zeug, ehrlich gesagt. In dem Blatt des Kybernetik-Lehrstuhls erschien das Paper, das Luke und ich letztes Jahr begleitend zu unserem holographischen Professor geschrieben hatten, und im Jahrbuch des Fachbereichs Politologie druckten sie meinen Aufsatz, 'Vergleich der Reaktion der Weltmächte auf die Etablierung der Dritten Macht in den Jahren 1971/72'. Letzterer war mir extrem peinlich, ich hatte zu wenig Zeit für diese Hausarbeit gehabt und mir deswegen ein (von meinem Standpunkt) extradünnes Brett zum Bohren ausgesucht. Merke: Die kleinen Sünden . . .

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Der Herbst war fast zu schön, um wahr zu sein. Nebel am Morgen und frische blaue Tage, ein Hauch von Frost in den Bergen, und mehr Farben, als das Auge fassen konnte. Ich schaffte es nicht, auf meinem Hosenboden hinter meinen Büchern sitzen zu bleiben und nachdem ich es drei Tage lang standhaft versucht hatte, sagte ich all meine Verabredungen für die nächsten zwei Wochen ab, packte meinen Kram und machte mich auf eine ausgedehnte Trekking-Tour. Ich kam erst Mitte November wieder, mit dem Flieger, und alle möglichen Leute waren sauer auf mich. Aber ich hatte einfach nicht aufhören können, hatte nicht umdrehen können, hatte die Tage vergessen in der Weite und der Stille des aufziehenden Winters. Hätte ewig weitergehen können.

"Glaube ich nicht", sagte Jo und setzte mir einen Teller Nudeln vor. "Du siehst aus wie dein eigenes Gespenst."

"Ich fühle mich gut", sagte ich und stocherte in den Nudeln herum. "Ich habe keinen Hunger."

"Du ißt das jetzt", sagte Jo entschieden. "Wovor läufst du eigentlich weg?"

Vor der Vergangenheit. Vor der Zukunft. Vor mir selber. Ich weiß nicht. Ich zuckte die Schultern und aß die Nudeln.

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Bis Weihnachten nahm ich drei Kilo zu, arbeitete mein liegengebliebenes Zeug auf, lernte die Bodhran zu spielen, versuchte mein Glück mit der Fiddle (zum großen Jammer meiner Katzen), gab meine Kurse, ließ mich breitschlagen, ein Seminar in Kybernetik zu halten, stellte fest, daß die Etage unter mir in meiner Abwesenheit an ein Pärchen wohlhabender Hohlköpfe vermietet worden war, führte meine wöchentlichen tiefgreifenden theoretischen Gespräche mit Cory und ein paar anderen Frauen, die an Debatten und Ideen interessiert waren, und freute mich auf Weihnachten und Neujahr mit Adam im Fiddler's.

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Am 20. Dezember erreichte ich nach etlichen Versuchen endlich Adam, nur um zu hören, daß er diese Weihnachten nicht nach Vancouver käme, da seine Mutter krank gewesen sei und deshalb die Feiertage im Kreise ihrer Lieben verbringen wollte anstatt, wie sonst, in Miami. Ich schlug vor, ich könne ja nach Toronto kommen und Adam wurde regelrecht panisch. Offenbar hatte er nicht die Absicht, mich seiner Sippschaft vorzustellen.

Allein ins Fiddler's zu gehen hatte ich keine Lust, und am Ende ließ ich mich von Jo, deren Eltern immer noch den sozialen haben, scheint's, bequasseln, sie über die Feiertage zuhause zu besuchen.

Geistige Umnachtung, Leute. Nie wieder, ich schwör's, nie wieder. Es war . . . oh Gott, ich weiß nicht. Ich erinnere mich an Weihnachten mit der Familie, aber es war nie so . . .

Also: Jos Eltern leben in Minnesota. Es ist flach dort, und kalt, und der Schnee lag bis zu den Dachfirsten, als wir aus dem Flieger stiegen. Sie holten uns mit einem leichten Gleiter ab, dem der Schnee natürlich nichts machte. Nette ältere Leute, 'älter', sage ich, die Mutter ungefähr die Hälfte meines Alters, der Vater etwas älter. Sie waren sehr herzlich und freundlich und ich hatte das Gefühl, daß ich gar nicht da war, daß sie mich gar nicht sahen. Ich hatte das Gefühl, meine Holoprogramme wissen besser, daß ich existiere.

Sie wohnen dort in irgendeiner Vorstadt, wo alle Häuser gleich aussehen, auf so eine Walt-Disney-Art. Alles war mit grellen, blinkenden Leuchten dekoriert, die Nadelbäume und Fensterrahmen unter sich begruben. In einigen Gärten standen Eisskulpturen. Ich erfuhr, daß man diese aus dem Katalog bestellen konnte. Die meisten stellten Viecher da, die so aussahen, wie Leute sich Rentiere vorstellen, die nie welche gesehen haben, oder einen dicken Santa Claus.

Nach der intensiven, messerscharfen Kälte draußen überfiel mich die Wärme im Haus wie ein Großbrand. Elektrische Kerzen. Ein elektrischer Kamin. Haufenweise Familie: Eltern, Großmutter, Geschwister, Schwäger, Nichten und Neffen - locker zwanzig Leute. Ich sah, daß eine weitere hungrige Studentin hier keinen Unterschied machte.

Ich mag Leute, glaube ich, ich mag auch viele Leute. Aber ich hörte nicht auf, mich wie ein Hologramm zu fühlen oder wie ein Opfer von Candid Camera. Es gab unglaublich viel zu essen und sehr wenig zu trinken außer Cola und Eistee. Obwohl eigentlich alle Gerätschaften da waren, um eine Fußballmannschaft zu füttern ohne sich irgendwie zu verausgaben, sammelten sich die Frauen regelmäßig vor und nach den Mahlzeiten in der Küche, angeblich um zu arbeiten, tatsächlich aber um über Kinder, Verwandte und Bekannte zu tratschen, während die Männer im Wohnzimmer zurückblieben und über Gleiter, Sport, Politik (oder was sie dafür hielten) und ihre Arbeit redeten. Vermutlich redeten sie auch über Frauen, wenn ich nicht in der Nähe war, und machen damit das Klischee vollständig. Alle möglichen Leute machten Konversation mit mir, erkundigten sich nach Vancouver, nach Terrania, nach meinem Studium und meinen Zukunftsplänen. Letzteres machte mich nervös, und es interessierte sie nicht wirklich, so faßte ich mich kurz und gab ihnen bald die Möglichkeit, selber etwas zu erzählen, was mir schnell einen Ruf als eine vorzügliche Konversationspartnerin einbrachte.

Mit einem Wort, ich fühlte mich fehl am Platze und langweilte mich entsetzlich. Es gab nur wenige Bücher in dem Haus, und die meisten interessierten mich nicht, selbst wenn ich Zeit zum Lesen gefunden hätte. Dafür lief die ganze Zeit im Hintergrund das TriVid-Gerät, entweder Sport oder irgendwelche Familienserien, wo lauter nette, herzliche, frisch gewaschene Leute einander zwischen der Reklame in Schwierigkeiten oder Herzschmerz brachten, mit einem gelegentlichen Bösewicht dazwischen, der das Ganze mit Absicht machte. Nicht, daß sich irgendjemand darum scherte. Es war zum an-den-Tapeten-nagen. Aus Höflichkeit nagte ich lieber an zu süßen Plätzchen und war bald froh, im Herbst so viel abgenommen zu haben, sonst wäre ich nach zwei Tagen aus meiner Hose geplatzt.

Wirklich interessant war Jos Verhalten. Sie war kontrovers, oft anderer Ansicht als der Rest, rührte auf und schluckte mit zähnefletschendem Lächeln die herablassenden Bemerkungen, die die familiäre Ordnung wieder herstellten. Sie machte auf mich den Eindruck, einen Balanceakt durchzuführen, und sich darauf zu verlassen, daß sie vor Zeugen niemand schubsen würde. Ich hatte langsam den Verdacht, daß ich ihre Hauptzeugin war, daß meine Anwesenheit sie vor einem gewaltigen Familienkrach schützte. Interessant . . .

Am 28. flogen wir zurück, während hinter uns ein Schneesturm aufzog. In Vancouver war dicker Nebel, der sich bis Silvester nicht lichtete, drei Tage, die ich bei offenem Fenster in meiner Bude saß, literweise schwarzen Tee trank und Hard Rock hörte. Am Silvesterabend gaben die wohlhabenden Hohlköpfe unter mir eine Party. Unterhaltungsmusik und schrilles Gelächter von Frauenstimmen, bis ich mich aufs Dach flüchtete. Da fand Jo mich zwei Stunden vor Mitternacht.

Sie hockte sich neben mich, zog eine Flasche schottischen Whisky aus ihrer Jacke und prostete mir zu. Eine Weile tranken wir schweigend, während von unten der Lärm der lebhafter werdenden Party heraufdrang und eine Gruppe angeheiterter Leute auf der Straße laut und falsch Que Sera sangen. Whatever will be, will be. Fröhlicher Fatalismus in Dreivierteltakt.

"Es tut mir leid", sagte sie schließlich.

"Was?"

"Weihnachten. Daß ich dich mitgeschleppt habe."

"Schon OK."

Jo seufzte. "Sei nicht so verdammt verständnisvoll."

Ich zuckte die Schultern. "Sah so aus als bräuchtest du 'n Bodyguard."

Sie lachte kurz und ohne Heiterkeit. "Ja, so kann man das nennen."

"Was war eigentlich los?" fragte ich.

Sie dachte lange nach, bevor sie antwortete. Auf der Straße unten wurde es voller. Der Alkohol begann zu wirken, ich fühlte mich warm und entspannt und war mir der Stille hinter den Stimmen der Leute und der gelegentlichen verfrühten Kracher sehr bewußt.

"Über mir hängt ein schwebender Familienkrach", meinte sie schließlich ominös. "Solange 'Außenstehende' da sind, kommt er nicht runter."

Ich nickte als verstünde ich was. "Erzählst du mir mehr drüber?"

Sie beäugte zweifelnd die Whiskyflasche. Ziemlich leer. "Nein."

Ich drängte sie nicht. Schlechter Stil, das. Statt dessen brütete ich einige Zeit über dem, was sie gesagt hatte und versuchte, es selber rauszukriegen. Natürlich erfolglos.

"Wie lange kannst du damit weitermachen?" fragte ich. "Was machst du nächstes Jahr?"

Im dem Moment begannen die Kirchenglocken zu läuten. Die Menge auf der Straße johlte. Zwischen den Häusern stiegen die ersten Silvesterraketen auf, schrieben funkensprühend ihre Neujahrsbotschaften auf den Nachthimmel.

Wir sahen schweigend zu.

Als es wieder ruhiger wurde, eine halbe Stunde später, sagte Jo: "In DIESEM Jahr mache ich meinen Abschluß. Und ich gehe nicht zurück."

Sie klang düster und entschlossen und sah aus als bräuchte sie jemand, der sie festhielt. Also tat ich es. Ich merkte, daß sie durchgefroren war und etwas später, daß sie weinte. Die Whiskeyflasche war leer.

In dieser Nacht schlief Jo in meinem Bett und ich im Schlafsack auf dem Sofa, oder eigentlich schlief ich nicht viel, während auch unter mir die Party langsam erstarb und ich mir die Art von tiefgreifenden Gedanken über die Menschen und die Welt machte, die man sich macht, wenn man vage betrunken, vage müde und vage unglücklich ist. Als ich endlich einschlief, war es schon still auf den Straßen.

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© inge 1998