2055, Vancouver, Canada

Das neue Jahr begann mit einem Katerfrühstück, umlagert von fünf Katzen (keine Ahnung, wo die fünfte herkam), die gierig den Hering und die Eier anstarrten. Dann verabschiedete sich Jo, und ich ging wieder ins Bett. Der Nebel war in Regen übergegangen. Ich hörte dem Regen zu, bis wieder Nacht war und dachte an Jo. Ich gehe nicht zurück. Ich fragte mich, ob ich zurückgehen würde.

Am Morgen des 2. fiel Schnee, der sich in der Stadt schnell in grauen Matsch verwandelte. Ich verbrachte die Tage bis zum nächsten Montag mit Büchern, Katzen und Tee. Ich gehe nicht zurück.

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Ich schaffte es, bis zum Ende des Semesters keine Eskapaden zu machen, alle Hausarbeiten termingerecht abzugeben und den drittbesten Semesterschnitt meines Jahrgangs zu machen. Die Erinnerung an den letzten Herbst hielt mich vom Losfahren ab. Wie schwer es gewesen war, zurückzukommen. Adam kam zum St.Patricks Day, aber er war seltsam unsicher und distanziert. An einem Abend im Fiddler's fragte ich ihn, was los sei und ließ nicht zu, daß er ablenkte.

"Solveig", sagte er, "ich werde heiraten."

"Beileid", sagte ich. "Wen?"

Er erzählte mir viel über Sarahs Vorzüge. Es klang, als wollte er hauptsächlich die Luft mit Worten füllen. "Nimm's mir nicht übel", sagte er, "aber du bist nicht die Art von Mädchen, die man heiratet."

"Das hoffe ich", sagte ich aus tiefstem Herzen.

Wir lachten, aber die Leichtigkeit war weg. Ich frage mich, wie viele Leute, die ich kenne, noch durch ihre Evil Twins ersetzt werden.

Nicht Cory jedenfalls. Sie schmiß mir eine 'Noch-mal-davongekommen'-Party, vermutlich, um mich aufzuheitern. Ich hatte nicht das Gefühl, Aufheiterung zu brauchen.

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Mein Leben lief solide, angenehm und gut eingerichtet vor sich hin. Auch ich schien irgendwie die Leichtigkeit verloren zu haben und dachte darüber nach, warum sie wichtig gewesen war und was sie ausmachte. Im April kam ich zu dem Schluß, daß ich mich lediglich vor einer einer Entscheidung drückte. Ich fuhr in die Berge, lief über die Ostertage umher. Die Welt kam mir so klar und scharf und voll von Details vor wie sie einem eigentlich nur erscheint, wenn man glaubt, die Party bald verlassen zu müssen. Ich konnte stundenlang eine Blume oder die Veränderungen in der Gestalt einer Wolke bewundern, aber ich kam nicht ein bißchen weiter. In einer Nacht träumte ich von einer grünen Weite, ich träumte hineinzugehen und für alle Zeit zu verschwinden, und in diesem Traum war ich so glücklich, daß ich es mit der Angst bekam, als ich aufwachte, und als ich überrascht in die grünen Augen meines Spiegelbilds starrte als sähe ich das Gesicht einer Fremden, hetzte ich in die Stadt zurück als sei die Wilde Jagd hinter mir her.

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Sich zu entscheiden, dachte ich, während ich in einem Straßencafé Cappuchino trank, hieß, tausend Türen zu schließen. Sich nicht zu entscheiden hieß, durch keine zu hindurch zu gehen, während die Welt sich weiterdrehte. Ich konnte tun, was ich wollte, ich hatte das Geld, um noch 60 Jahre hier an der Uni herumzuhängen und mir interessantes Zeug anzuhören, und warum eigentlich nicht, wenn es mir so gefiel? Aber, verstand ich irgendwann, was mir gefiel, war nicht das Unileben, sondern das Gefühl einer Zwischenstation, eines Provisoriums. Es lief auf das gleiche hinaus wie 1996: sich festzulegen hieß, Sterblichkeit zu akzeptieren. Und mehr als alles andere wollte ich unsterblich sein. Selbst wenn es mich einen Teil meiner Freiheit kostete. Selbst wenn es Kämpfe bedeutete, die ich niemals gewinnen konnte, wenn es hieß, meinen Kopf für Dinge zu riskieren, von denen ich nicht mal überzeugt war. Keine Tür schließen. Ich fragte mich, ob ich Provisorien liebte, weil sie Sterblichkeit verleugneten oder ob ich unsterblich sein wollte, weil ich Provisorien liebte, ob ich feige, großartig oder trivial war. Ich fand keine Antwort und schrieb die Fragen in den Wind. Es war Mai.

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Die Welt war immer noch voll von unglaublich scharfen Details um mich herum. Ich schlief wenig und fühlte mich nie müde. Den größten Teil meiner Pflichtscheine hatte ich, ich begann, über meine Abschlußarbeit nachzudenken. Meinen plötzlich so leeren Stundenplan füllte ich mit Forensik und Basisseminaren in Jura und Medizin, so daß Cory verblüfft meinte, ich würde wohl ernst machen mit der Privatdetektivin. Die Montage wurden von Woche zu Woche besser. In den Diskussionen mit Cory, Laura, Jo und den anderen aus unserem Kreis sickerte bei mir langsam ein wo die Probleme lagen und was falsch lief. Wir sprachen über Erwartungen, Rollenverhalten und selektive Wahrnehmung, und wenn wir auch keine Idee hatten, wie sich die Welt denn ändern ließe, teilten wir eine Entschlossenheit, nicht aufzugeben und nie mit dem Strom zu schwimmen. Hehre Ziele, aber ich brachte keinen Zynismus dafür auf.

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Im Juni lud Luke mich ein. Ich besuchte ihn für ein paar Tage in denen er begeistert von seiner Arbeit erzählte und ich versuchte, jedes Sicherheitskonzept, das er sich ausdachte, zu unterminieren. Ich glaube, er war sehr stolz auf mich. Wir besichtigten den Kaiserpalast in Peking und aßen unglaublich scharf gewürztes Zeug, wobei Luke offenbar erwartete, daß ich kneifen würde, aber da hatte er sich geschnitten - er mag der bessere Hacker sein, aber in reinem Machotum nehme ich es jeden Tag mit ihm auf.

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Zurück in Vancouver kam mir meine Wohnung leer und verrümpelt vor. Aus dem Sofa hing die Füllung und die Matratze war durchgelegen. Der Küchentisch humpelte auf drei Beinen vor sich hin. Die Fenster waren trüb. Wann war das passiert? Ich blies zu einem Entrümpeln und Großreinemachen. Cory kam, hauptsächlich um gute Ratschläge zu geben und Kaffee zu kochen, und, natürlich, Jo. Suzanne kam nicht. Jetzt fiel mir auf, daß ich seit - wann? Silvester? vorher? - Jo fast nur noch allein gesehen hatte. "Wohin ist eigentlich Suzanne versumpft?" fragte ich Jo, aber die schwang nur mit einer Todesverachtung die Farbrolle und dekorierte mich mit fast-weißen Farbspritzern. Wir verputzten und strichen die Wände, wienerten den Boden, entfernten alle Spinnweben und jagten den Katzen eine Mordsschrecken ein. Anschließend möblierte ich neu, mit viel Metall, einem japanischen Bett und spanischen Wänden aus Papier.

Wir werkten eine Woche und am Ende saßen wir auf dem Dach, tranken Bier und sahen zu, wie die Sonne staubrot im Meer unterging.

"Wie sieht's mit der Einweihungsparty aus?" fragte Cory

"Für uns paar Hanseles?" fragte ich. "Lohnt nicht. Laß' uns lieber gediegen Essen gehen."

"'Where have all the young girls gone...'", sang Cory, die unmusikalisch ist.

"'...gotten married everyone...'", sang Jo mit Opernpathos. "When will they ever learn. Anyway, da ist dies neue Fischlokal auf dem GeoTower. Ich zahle."

"Studienabchlußgroßzügigkeit?"

Jo schüttelte sich. Während wir zusammen arbeiteten, hatte sie uns einen detaillierten Bericht über die Zeremonie ihrer Studienabschlußfeier gegeben, ein Unterfangen voller gestärkter Kleider, frischer Dauerwellen, komischer Hüte, langer Reden und stolzer Eltern. Genug, daß Cory schwor, sie würde es auch in den nächsten zehn Jahren sorgsam vermeiden, einen Abschluß zu machen. Aus dem, was sie NICHT erzählt hatte, konnte ich schließen, daß der erwartete Krach schließlich heruntergekommen war - und daraus, daß sie am Abend der Feier nach Mitternacht bei mir aufgetaucht war, voll wie eine Strandhaubitze und über Dinge weinend, über die sie selbst in diesem Zustand nicht sprach.

"Nein", sagte sie jetzt. "Ich habe einen Job. Bei einer Zeitung in Adelaide. Australien." ergänzte sie.

So weit weg von Minnesota wie möglich, dachte ich mir. "Was für eine Zeitung?"

"'The Galactic View'. Ein politisches Monatsblatt. Ziemlich ambitioniert."

"Ambitioniert?" Cory runzelte die Stirn. "Und du glaubst, sie zahlen dir genug um uns ALLE zum Essen einzuladen? Du weißt was Solveig wegfuttert wenn's sie nichts kostet!"

Jo machte eine wegwerfende Geste. "So viel seid ihr mir wert."

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Am 29. Juni gingen wir essen, und dann tanzen, und als der Morgen graute, begleiteten wir Jo zum Flughafen. Wir verabschiedeten uns und irgendwie realisierte ich erst da, daß sie weg sein würde, daß sie dreieinhalb Jahre lang meine Freundin gewesen war und wie viel ich nicht über sie wußte - und sie nicht über mich.

Jo schickte mir eine Karte mit Känguruhs. Australien gefiel ihr. Sie schrieb, daß sie tauchen lernte. Ihr Job bestand zu großen Teilen aus Recherche und Assistenzarbeit, 'wenn ich brav bin', schrieb sie, 'darf ich vielleicht auch mal was schreiben'. Es klang, als sei sie zufrieden.

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Das Semester endete. Ich gönnte mir wieder einen Urlaub in den Bergen, diesmal lernte ich reiten, oder versuchte es. Der Reitlehrer meinte, ich wäre ein Naturtalent, aber das sagt er vermutlich jedem. Ich mochte die Pferde und sie mochten mich, und die Art der Fortbewegung erschien mir bald so natürlich wie laufen.

Meine Band löste sich in einem Streit um Stilrichtungen auf, ich tingelte noch eine Weile mit Jesse rum, aber er wurde mir zu 'traditionell', wie die anderen uns zu 'modern' geworden waren, und wir gaben es auf, ehe der Herbst begann.

Irgendwie habe ich das Gefühl, daß die Welt um mich herum abbröckelt, während mein Studium sich dem Ende nähert. Ich kann nicht halten, was war, Adam, Luke, Jo, die Zeit treibt sie davon, ohne daß irgendetwas geklärt oder verstanden oder vollständig wäre. Und es lohnt nicht, etwas Neues zu beginnen, nicht jetzt, nicht mit weniger als einem Jahr an diesem Ort. Das ist, scheint's, der Preis der Provisorien, die ich in meinem Leben haben will, sie gleiten davon, ob ich bereit bin, sie loszulassen oder nicht. Und es gibt keine Alternative.

Draußen fallen die Blätter in grauem Nieselregen. Kein Goldherbst dieser, und wahrscheinlich bin ich nur des Wetters wegen deprimiert, nicht der Zeit wegen, die fällt wie Blätter.

Ja, Solveig, erzähle dir das nur weiter.

Es gibt die Möglichkeit zu bleiben. Als Privatdetektivin. Als Jiu-Jitsu-Trainerin. Als reiche Erbin ohne Verpflichtungen. Zeit, etwas neues anzufangen, etwas dauerhaftes einzurichten, etwas, daß ich meins nennen kann. Zeit genug, um Festhalten der Mühe wert zu machen. Heißer Kakao im Herbstnebel, Stille und Bücher und die Berge gleich hinter der Stadt, solange ich lebe. Ich denke daran und es verlockt - aber ich denke weiter und es ist nichts wert. Nichts ist etwas wert, nicht wirklich, nicht vor der Zeit und der Ewigkeit und dem endlosen Raum, es bedeutet nichts, ob ich lebe oder sterbe.

Aber mir bedeutet es etwas. Das Leben. Der Moment, der nach Nebel und Meer und Herbst riecht. Der Schlag meines Herzens. Die Wärme eines Kakaobechers in meinen Händen, Süße auf der Zunge. (Der Sinn des Lebens in einem Becher Kakao.) Das nächste Musikband, auf dem vielleicht Lieder sind, neu und stark wie unentdeckte Träume. Der nächste Frühling und der nächste Herbst und der nächste Tag. Was gibt es mehr als das? Nichts. Und deshalb gibt es nie genug davon, nie genug Jetzt, nie genug Zukunft.

Ach, Solveig, was für eine Falle. Was für ein Witz. Montags in den Diskussionsrunden, beim Unterricht, beschwöre ich den Wert der Freiheit, und dabei weiß ich, daß ich sie verrate für Hoffnung. Bin ich feige? Ich weiß es immer noch nicht.

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November. Das Wetter hat sich wieder eingekriegt und die Sonne scheint. Ich bin im Moment Jahrgangsviertbeste und habe gerade das Thema meiner Abschlußarbeit bekommen. Darstellung und Aufarbeitung des britischen Kolonialismus in viktorianischer Zeit in der Literatur - Eine Rezeptionsanalyse.

Ich bin zu lange an der Uni. Bis ich das Thema gerade aufgeschrieben habe kam mir der Titel ganz normal und logisch vor.

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Gerade fällt mir auf, daß es in diesem Jahr NICHT durchs Dach des Frauenzentrums geregnet hat. Dafür mußte ich den Selbstverteidigungskurs verlegen, weil der Müttertreff unbedingt Montags stattfinden muß (keine Ahnung warum) und sich durch das Geschrei und Gepolter gestört fühlte. Ich maulte, die unerwartete Umlegung kostete mich ein Drittel meiner Schülerinnen, und Cory, die mein Gemoser hörte, hob nur resigniert die Hände zum Himmel: Das Plenum hat's gegeben, das Plenum hat's genommen.

So halte ich jetzt Donnerstags die Kurse und habe Montags den Diskussionskreis, Cory hat mir die Verantwortung für die kleine Bibliothek angehängt, seit sie einen Schreibjob hat, der sie zusätzlich beschäftigt hält, sie aber zum erstenmal, seit ich sie kenne, in neue Klamotten gebracht hat. Ich halte es so, daß ich von meinem eigenen Geld Bücher kaufe, die mich interessieren, und sie dann gelesen in die Bibliothek stelle - der Etat ist ansonsten lächerlich. Außerden habe ich das Karteisystem überarbeitet. Zweimal die Woche (und gelegentlich auf Zuruf) jobbe ich im Rechenzentrum der Uni als Hackerjäger, äh, Rechnersicherheitsbeauftragtenassistentin - der gleiche Job, den Luke in China macht nur für weniger Bezahle. In meinem Uni-Stundenplan befinden sich noch ein Oberseminar über Staatsrecht, ein technischer Laborkurs, der eigentlich für Erstsemester der Medizin gedacht ist, und ein Seminar über Kryptographie. Ansonsten bereite ich meine Abschlußarbeit vor, lerne auf den ersten Prüfungsblock, der im Januar droht (nicht, daß ich mir Sorgen mache) und gehe allmorgendlich meiner sportlichen Betätigung nach - das einzige, was sich in vier Jahren nicht geändert hat. Weihnachten rückt näher und erinnert mich daran, daß sich auch die Frage, was ich mit den Feiertagen tun soll, nicht im geringsten geändert hat.

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© inge 1998