2056, Vancouver, Canada

Ich entschied mich schließlich dafür, die Feiertage in den Bergen zu verbringen. Immerhin war dies mein letzter Winter in Vancouver, und wo immer ich auch nächstes Jahr sein würde, es mochte dort Irische Kneipen geben, und dunkle, laute, Tanzschuppen, und mehr hübsche Jungs, als man zählen konnte (Optimistin, Solveig!), aber gewiß nicht die Berge, nicht den Schnee und nicht die Stille und die Spuren von Wölfen.

Das Wetter meinte es nicht gut mit mir dieses Mal, es war ständig windig, der Himmel war bedeckt und der Schnee, wenn er fiel, war wie feine Nadeln. Es gefiel mir, gegen den Wind und den Schnee anzukämpfen, ich fühlte mich stark und frei und lebendig und imstande, es mit allem aufzunehmen, was das kommende Jahr bringen mochte.

Zuerst brachte es Prüfungen, mit denen ich fast den ganzen Januar verbrachte, um dann festzustellen, daß es weniger Zeit auch getan hätte. OK, ich schummelte - tat etwas, was ich mir, seit ich in Vancouver war, eigentlich verkniffen hatte: Ich esperte die Prüfer aus und projizierte gleichzeitig soviel gelassene Kompetenz, wie ich nur auf die Reihe kriegte (eine ganze Menge). Man braucht kein Volltelepath zu sein, um bei Prüfungen psionisch zu schummeln, man guckt nur, was dem Prüfer gefällt und redet in die Richtung. Ich tat das weniger, um bessere Noten zu ergaunern als um mich zu vergewissern, daß ich es noch konnte. Aber im Gegensatz zu allen anderen Fähigkeiten scheint es die psionische Wahrnehmung zu schärfen, wenn man sie längere Zeit ruhen läßt. Zumindest gilt das für meine Art von Wahrnehmung. Interessant...

Dabei entgehen mir, merke ich gerade, Dinge des täglichen Lebens. Heute ist Montag, und zehn Uhr abends und ich habe gerade das dritte Mal in Reihe den Diskussionsklub verschwitzt. Warum wohl, ein Fortschritt findet nicht statt - wir alle wissen inzwischen, was schief läuft, alles was noch fehlt ist, entsprechend zu handeln, und das ist eine Lebensaufgabe oder mehr, und es wird anstrengend. Okay, ich tue Buße, letzte Woche habe ich drei Bücher von der Liste, auf die die Leute schreiben, was ihrer Ansicht nach angeschafft werden sollte, gekauft, und ich werde jetzt mal anfangen, die zu lesen.

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Später (gegen Sonnenaufgang):

AARGH! Wer hat diese bekloppten Schmöker bestellt! Das eine ist eine Steinzeitromanze mit logischen und wissenschaftlichen Löchern, durch die man locker ein Wollmammut treiben könnte, und abgesehen davon, daß, wie es bei Romanzen so geht, die Hauptperson eine Frau ist, entgeht mir die Relevanz dieses Schinkens für unsere Bibliothek völlig. Naja, dachte ich, hat sich wohl gerade eine den Schmöker ihrer Träume via Bibliothek von mir schenken lassen - gut, daß das von meiner Kohle geht und nicht vom Etat. Und griff nach dem nächsten Buch. Etwas über weibliche Spiritualität. Es las sich ganz hübsch, wenn auch etwas naiv, zivilisations- und technikkritisch, und ich war etwa halb durch, als ich an einem Satz hängenblieb, ihn dreimal las und mir aufging, WAS da stand. Ich hab's jetzt nicht mehr wörtlich im Kopf und ich WEIGERE mich, nachzuschlagen, etwas, daß Frauen Verbündete der Natur seien und ihr Instinkt darin bestünde, zu pflegen und zu nähren, und etwas von 'natürlichem' Mitleid und Einfühlungsvermögen. Den exakt gleichen SCHEISS, der in hundert Jahre alten Büchern begründet, warum die Frau ins Haus gehört, verkaufen sie den Leuten heute als Fortschritt. Gewarnt, faßte ich das dritte Buch mit spitzen Fingern an und fand eine Lobpreisung der Mutterrolle im Gegensatz zu uns identitätslosen Karrierefrauen, die jeden Kontakt zu ihren Wurzeln verloren haben. Karriere. Ha. Wahrscheinlich Lehrerin oder Sekretärin, sagte Cory. Werden alle. Wieviele von denen, mit denen zusammen ich mein Studium angefangen habe, sind noch da? Casey in meinen Gedanken, Nicht für mich, no Sir, ich hab' gearbeitet, um da rauszukommen, jeden Tag meines verdammten Lebens, ich hab' die Schule gemacht und die Uni, Nächte lang Hamburger verkauft, um die Miete und die Bücher zu bezahlen, hochintelligent, haben sie gesagt, hörst du, ich, hochintelligent, und meine Alten die High School abgebrochen, ha, ich werde etwas, ich gehe auf einen EXPLORER, nach mir werden sie einen Planeten benennen...

Oh Scheiße. Ich geh' lieber raus, mich abreagieren, ehe ich anfange zu heulen oder Gegenstände zu zertrümmern.

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später (abends):

Ich verbrachte vier Stunden in der Sporthalle und war am Ende so erschöpft, daß ich Schwierigkeiten hatte, mein Motorrad zu halten. Meine Fingerknöchel waren aufgeschürft, und ich fühlte mich immer noch wütend, aber mehr auf intellektueller Ebene. Außerdem war ich hungrig. Cory wohnte in der Gegend, und ich beschloß, mich bei ihr zum Frühstück einzuladen.

Ich hatte vergessen, daß es erst zehn war und klingelte sie aus dem Bett. Zum Glück ist sie zwar eine Langschläferin, aber kein Morgenmuffel und hatte Kaffee aufgesetzt und Eier in die Pfanne gehauen sobald ich von einem Abstecher in die Bäckerei im Erdgeschoß wiederkam. Wir quetschten uns in die Küche. Corys Bude ist Hinterhaus, Blick auf die Mülltonnen im Hof, abgesenkter Fußboden, anderthalb winzige Zimmer, und so wenig Licht daß unter allen Zimmerpflanzen nur der Efeu gedeiht. Klein, aber mein, sagt sie. Die Küche kriegt noch am meisten Licht, weswegen wir dort sitzen, wenn ich mal zu Besuch komme.

"Was ist mit deinen Händen passiert?" fragte Cory.

Ich schnaubte. "Hast du in letzter Zeit mal einen Blick in die Bestellisten unserer Bibliothek geworfen?"

"Oh. SO schlimm?"

Meine Wut löste sich auf und ich merkte, daß ich müde war. "Es ist die reine Volksverarschung. Der ganze Scheiß von Anno Dunnekeks. Ist das jetzt Mode oder was?"

Cory lehnte sich auf ihrem gefährlich quietschenden Stuhl zurück. "Ich fürchte ja", sagte sie. "Schau' mal in die Buchläden. Jedes zweite Buch glorifiziert die 'Differenz', und du und ich wissen, wo das hinführt."

Ich seufzte. "Sollten sie's nicht IRGENDWANN kapieren."

Cory begann, mit dem Marmeladenbrot in ihrer Hand zu gestikulieren. "Nein. Tatsächlich ist es unnatürlich, wenn irgendein Teil der Menschheit jemals etwas LERNT, was den gegebenen Verhältnissen zuwiderläuft. Wenn's doch mal passiert, ist das unnatürlich, mehr so eine Mutation. Und warum? Weil nur sehr wenige Leute es psychisch und mental fertigbringen, hoffnungslos erscheinende Kämpfe auszutragen. Die meisten Menschen sind vernünftig genug, um irgendwann einzusehen, daß sie keine Chance haben und suchen sich ein Schlachtfeld, auf dem sie gewinnen können - oder suchen sich eine Definition, nach der sie schon gewonnen haben. Du hast selber in all unseren Diskussionen gemerkt, wie müde man wird, wenn man zu lange nachdenkt."

"And did they get you to trade your heroes for ghosts, cold comfort for change... Und wo läßt das uns?"

"Im Goldfischglas, natürlich."

Ich mußte lachen, aber Cory sah düster aus. "Wir tun nichts anderes als im Kreis zu schwimmen. Sieh mich doch an!" Sie setzte heftig die Kaffeetasse auf den Tisch. "Ich lebe in einem Rattenloch, halte mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, sponsere hoffnungslose Aktionen und werde immer älter!"

"Älter!" sagte ich, ohne nachzudenken. "Frag' mich mal!"

Sie sah mich direkt an. "Du bist 28, und so siehst du auch aus. Ich bin 32, vergiß das nicht."

"Wo ist das Problem?" fragte ich. Die korrekte Frage hätte gelautet: "Warum jetzt?", aber das hätte nicht wirklich sinnvoll geklungen.

Cory sank etwas in sich zusammen. "Ich weiß nicht... Doch, ich werde einfach dieses nagende Gefühl nicht los, daß es Zeit ist, mit meinem Leben etwas anzufangen, daß meine biologische Uhr tickt, und ich nicht ewig jung bleibe, und all der Scheiß. Und jetzt kommst du und knallst ihn mir auf den Tisch und erinnerst mich daran, DASS es Scheiße ist... und trotzdem."

"Trotzdem was?" sagte ich.

"Ach, es ist alles so... vergeblich."

Ich beschäftigte mich angelegentlich mit meiner Kaffeetasse und merkte, daß Cory mich ansah als erwartete sie Widerspruch. Nur, so sehr ich meine Ärmel auch schüttelte, kein schlagendes Argument zum Gegenteil kam daraus hervor. Ich meine, ich rette mich vor dem Verdacht, daß das Leben keinen Sinn hat, indem ich einen Job mache, in dem mir alle Welt bis zum Erbrechen bestätigt, wie nützlich er ist, aber nützlich wozu? wenn nicht einmal Leben selber einem durchschaubaren Zweck dient. Und ohne einen Job voll von gutem Zureden, was hatte Cory, außer dem Leben selber? Und das war die Antwort.

"Leben IST vergeblich." sagte ich. "Selbstzweck. Aber gerade WEIL es Selbstzweck ist, kannst du es nicht vermasseln oder die Pointe verpassen. Und das einzige - das EINZIGE, was du in dem ganzen Spiel vermasseln kannst, ist, dich für ein höheres Ziel abzurackern, an das du nicht glaubst. Ob das Familie ist oder Karriere oder Ruhm oder Geld oder Ehre - wenn du nicht daran glaubst, es nicht das ist, was du wirklich haben willst, ist es eine jämmerliche Verschwendung von Zeit und Hoffnung und Energie, und es wäre besser für dich wenn du... ach, was weiß ich, ein heißes Bad nimmst, Schokolade ißt oder dir den Sonnenuntergang ansiehst."

"'Do As Thou Wilt, shall be the only law.'" zitierte Cory.

"Tu was du willst und schade niemandem", ergänzte ich.

"Warum die Einschränkung, wenn du jeden Sinn bestreitest?"

"Weil ich jeden Sinn für ALLE bestreite. Und wenn der einzige Wert ist, nicht unnötig unglücklich zu sein, dann gilt das für jeden. Und das heißt, Asche auf dein Haupt, wenn du jemanden unnötig unglücklich machst. Gleiches Recht für alle."

Cory schnitt ein Gesicht. "So jung und so clever."

"Ich hatte eine gute Lehrerin."

Wir wuschen das Frühstücksgeschirr ab und ich merkte, daß der Wasserhahn tropfte.

"Apropos Rattenloch", sagte ich. "Ich ziehe wieder nach Terrania, wenn ich im Sommer fertig werde, und dann brauche ich einen Nachmieter für die Hütte. Interesse?"

Ich wußte, sie hatte. "Nächster Witz", knurrte Cory. "Was kostet die Hütte? Zehn Solar? Fünfzehn?"

"Sechs inklusive. Der Eigentümer braucht was, um die Steuer zu betrügen."

"Sechs? Du verarschst mich!"

"Nicht die Bohne. Außerdem, das meiste haben wir selber renoviert, und ich habe kein Interesse daran, es irgendwelchen Fremden in den Rachen zu schmeißen, wenn es sozusagen in der Familie bleiben kann."

"Hm. Muß ich drüber nachdenken."

"Sag einfach ja. Das hier IST ein Rattenloch."

Sie überlegte. "Zum Teufel", sagte sie dann. "Ja."

Wir verbrachten den Rest des Tages auf dem Rummel am Strand, fuhren Karussell und Tretboot und alberten herum wie zwei Teenager.

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Es ist Anfang Juni. Ich habe meine Prüfungen bestanden, und in zwei Wochen droht die Abschlußfeier. Der Kostümverleih hatte nichts in meiner Größe, also habe ich mir ein Kostüm angeschafft: rot, mit einem sehr kurzen Rock. So richtig schick und verboten. Vor der Party werde ich mich allerdings drücken.

Gerade als ich damit vor dem Spiegel stand und rumkasperte, plöppte es und Gucky stand im Raum. Ich war weniger als begeistert davon, daß Terrania ungefragt und unangekündigt wieder in meinem Leben - in meiner verdammten WOHNUNG - erschien, als gehörte es dahin, aber andererseits freute ich mich, Gucky zu sehen.

"Hallo Plüschohr", sagte ich, als hätte ich ihn erwartet. "Gemüse ist im Kühlschrank. Bedien' dich." Nicht, daß ich ihn daran hätte hindern können. "Und lang' mir ein Bier rüber."

Das Bier landete mit einem 'Tschock' vor mir, bereits geöffnet. Ich behandelte auch das als 'Business as usual'.

"Wie stehen die Aktien?" fragte ich, als er sich nach einer langen, insgesamt mißbilligenden Kühlschrankinspektion mit zwei Äpfeln auf die Küchenzeile gesetzt hatte.

"Ich bin in geheimer Mission hier", erklärte er.

"Soll ich die Abhörablage abschalten?"

"Du könntest den Kühlschrank auffüllen."

"Nächstes Jahrhundert." Ich beschäftigte mich mit meinem Bier. Gucky spuckte Apfelkerne in die Spüle. Wenn er nicht traf, half er telekinetisch nach.

"Allan denkt, du würdest vielleicht für ihn arbeiten. John glaubt, du willst nicht. Der Chef glaubt, du willst kündigen." Er las aus meinem Gesicht, was ich dazu zu sagen hatte und grinste breit. "Damit ist meine Mohrrübenversorgung für den Rest des Jahrhunderts gesichert, also laß' deinen Kühlschrank nur in diesem traurigen Zustand. Und Betty wird sich über ihren neuen Gleiter freuen..."

"Ihr habt auf mich GEWETTET?"

"Logisch. Wir haben volles Vertrauen in dich. Anders als André, der Arme..."

"Sein Porsche?"

"Mhm." Der nächste Apfelkern flog.

Ich mußte lachen. "Glückwunsch."

"Sie fragt, ob sie dich abholen soll."

"Wenn Mercant es nicht tut."

Ein rotes Kreuz im Kalender: Gucky war überrascht.

"Du willst wirklich zur Abwehr?!"

Ich nickte. In dem Moment war es entschieden.

"Schade. Es ist interessanter, wenn du da bist."

"So?"

"Klar. Einer weniger, der Dummköpfen den Schädel zurechtrückt. Jetzt bleibt alles an mir hängen."

Er ließ die Ohren hängen. Ich mußte lachen. "In der Abwehr gibt's bestimmt auch Dummköpfe."

Wir verbrachten den Rest des Tages mit Tratsch. Terrania wurde wieder vertraut in Anekdoten und Gerüchten, als sei ich nie fortgewesen. So wie man Schwimmen nicht verlernt. Es ärgerte mich, wie schnell ich Teil von etwas wurde, von dem ich nicht überzeugt war.

War ich nicht? Vor fünf Jahren klang das noch anderes. Habe ich mir damals etwas vorgemacht oder tue ich es heute? Oder habe ich mich einfach verändert? Irgendwann die nächsten Tage werde ich darüber nachdenken. Man sollte seine eigenen Gründe kennen. Im Moment bin ich etwas zu sehr in Hektik für solche Sachen: Die Abschußfeier dräut, Cory zieht um, ich suche nach Leuten, die meine Jobs am Frauenzentrum übernehmen (natürlich will keine, das ist mal wieder typisch), ich muß entscheiden, was von meinem Zeug ich behalte, was ich Cory überlasse und was ich verkaufe, den Verkauf organisieren... dieses Leben ist sehr viel aufwendiger aufzulösen als das vor fünf Jahren. Vielleicht, weil ich weiß, daß ich nicht zurückkomme.

Gucky entplöppte irgendwann um Mitternacht.

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Morgen ist die Feier. Ich werde in meinem roten Killerkostüm mit hohen Absätzen auftauchen und ausreißen, sobald der offizielle Teil der Veranstaltung vorbei ist. Cory und ich wollen die Stadt unsicher machen. Das haben wir uns verdient.

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Erstens kommt es anders...

Ich sitze also bei dieser Abschlußfeier, der Dekan hält eine Rede, der Beauftragte der Fachbereichsvorstände hält eine Rede, der Vorsitzende des Fördervereins hält eine Rede, der Studentenvertreter hält eine Rede, und ich werde das Gefühl nicht los, daß ich beobachtet werde, und nicht nur meiner schicken Plünnen wegen. Als ich also vorstake, um mein Blatt Papier abzuholen, werfe ich ein paar mißtrauische Blicke ins Publikum - und in der vorletzten Reihe, bescheiden in seinem schlecht geschnittenen Anzug wie irgend jemands Großonkel (MEIN Großonkel, um genau zu sein) sitzt Allen D. Mercant himself, und hol's der Geier, da geht mein Abend mit Cory, nehme ich an, aber ich freue mich, ihn zu sehen.

Nach den Reden gibt es ein Büfett. Ich stopfe mir ein paar Kleinigkeiten in die vorausschauend mitgebrachte Frühstücksdose in meiner Handtasche und ein trockenes Brötchen in die Jacke, rufe Cory an, daß mein werter Großonkel unerwartet aufgetaucht ist, und ich deswegen etwas später kommen werde, nein, ich weiß noch nicht genau wann, spät am Nachmittag wahrscheinlich, und verschwinde durch die Hintertür. Draußen ziehe ich die Pömps aus und spaziere gemütlich über das Gras bis zu dem Ententeich in einer abgelegenen Ecke des Geländes und beginne, die Enten mit kleinen Stücken des trockenen Brötchens zu füttern.

Eine Viertelstunde später taucht Mercant mit zwei Muskelmännern auf, die sich dezent im Hintergrund halten. Sie sind gut, erst jetzt fällt mir auf, daß sie auch im Festsaal waren. Mercant fragt höflich, ob diese Bank frei ist, ehe er sich setzt.

"Sie haben zu viele Agentenromane gelesen", sagt er.

Ich schüttele den Kopf. "Solo für O.N.K.E.L." sage ich. "Außerdem war ich ein großer Fan von Sean Connery."

"Gott steh mir bei", murmelt er. "Eine Agentenromantikerin."

"Was erwarten Sie von einer Literaturstudentin? Wollen Sie ein Schnittchen?" Ich packe meine Frühstücksbox aus.

"Nein, danke. Warum treffen Sie mich nicht um 1300 im Sheraton zum Mittagessen? Danach können wir übers Geschäft reden."

"Sie zahlen."

"Selbstverständlich, Miss Jamieson."

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Es war ein heißer Tag, wie sie in Vancouver selten sind. Ich saß noch eine Weile am Teich und guckte den Enten zu, dann machte ich mich auf den Rückweg zum Unihauptgebäude, um ein Taxi zu rufen.

Es wimmelte von Leuten in feinen Klamotten. Fotographen, Blumen, stolze Eltern. Einige Leute hatten genug Sekt erwischt um laut zu sein. Ich schnappte Gesprächsfetzen auf. Anwaltskanzlei, Bank, Industrie, Heiraten, Häuslebauen. Ich fühlte mich sehr alt und fremd und allein, als ich mir einen Weg zum öffentlichen Telefon bahnte. Einer der Jungen aus meinem Semester rief mir etwas nach, das ich nicht verstand.

Wie jedes anständige Hotel war das Sheraton viel zu kalt klimatisiert. Ich war fünf Minuten zu früh da und wollte den Tisch nicht aussuchen, also setzte ich mich an die Bar und bestellte einen Espresso. Schlag eins erschien Mercant.

Das Essen war auf die typische charakterlose Art gut, die in Nobelhotels gepflegt wird. Wir sprachen über Wein, Immobilienpreise und die Unterschiede zwischen einem Universitätsstudium vor hundert Jahren und heute.

Als ich beim Cognac war und Mercant beim dritten Eistee, fragte er: "Wollen Sie für mich arbeiten?"

Ich machte ein verblüfftes Gesicht. "Haben Sie's denn noch nicht über die Grapevine erfahren?"

"Ich dachte, es sei höflicher, Sie persönlich zu fragen", sagte er ungerührt.

"Zu welche Konditionen?" fragte ich knapp.

Er zog eine Mappe aus seinem Aktenkoffer und reichte sie mir. Ich nickte zufrieden, bestellte mir noch einen Cognac und fing an zu lesen.

Ein Jahr Schulung an der Abwehrakademie in Moskau zu den Bedingungen eines Offiziersanwärters, plus 'Ausgleich' in Geld und bunten Bändern, um mein empfindliches buntebändergewöhntes Ego nicht zu kränken. Ich grinste mir eins. Dann Einstieg im Rang eines Lieutenant Commander. (Die Flotte verwendet die Rangbezeichnungen der Infanterie, die Abwehr die der Marine. Ich find's auch komisch.) Ich rechnete um. Ich war Oberst gewesen, das machte einen effektiven Verlust von zwei Rängen. Es war mir scheißegal. ZbV/Feldeinsatz. Ich nickte zufrieden. DAS hatte ich sehen wollen. Formal blieb ich Mitglied des Mutantenkorps, nicht aber der Raumflotte. Sold... Ich sah Mercant an. "Entschuldigung, aber das hier ist lächerlich. Ich BIN bereits steinreich. Sie brauchen mir keine 800 im Jahr PLUS Dienstwohnung PLUS Spesen zu bezahlen. Wann soll ich das ganze Geld denn ausgeben?"

"Machen Sie's wie ich", schlug er vor. "Spenden Sie's dem Tierschutzverein. Oder gründen Sie eine Stiftung. Aber arbeiten Sie NIE unter Preis."

Eine Stiftung. Das wär's noch. Vom Sold eines Spions. Meine Güte. Von dem, was ich unterm Strich im Monat kriege, leben andere ein Jahr. Ist es so viel mehr wert, sein Fell zu riskieren als, sagen wir, Straßen zu fegen oder Kinder zu unterrichten? Oder schwieriger? Als Straßenkehren bestimmt. Bei den Kindern bin ich mir nicht so sicher.

Ich las weiter. Volle medizinische Absicherung. Hinterbliebenenversorgung im Todesfall. Jetzt mußte es kommen. Ich merkte, daß ich sehr ruhig atmete und meine Schilde hochgezogen hatte. Wen versuchte ich zu täuschen, fragte ich mich. Ich blätterte um. Altersversorgung gemäß... es folgte eine Aktennummer. Ich atmete sehr ruhig aus. Ich kannte diese Nummer. Wir alle kannten sie. Wanderer. Ein Blatt noch - Auflösung des Dienstverhältnisses? Sie hatten gelernt. Abfindung gemäß, und wieder die Aktennummer. Sollte ich kündigen (oder sie) würden sie mir den Rest des Lebens auszahlen, den ich mit achtzehn vor mir gehabt hatte. Ich grinste Mercant an. "Sehr vorausschauend", sagte ich. "Schreiben Sie das jetzt bei jedem rein?"

"Nur bei denen, die es so genau wissen wollen", sagte er. "Können wir mit Ihnen rechnen?"

Ich klappte die Mappe zu und widmete mich meinem vernachlässigten Cognac. "Eine Frage noch", sagte ich. "Warum?"

Er wirkte nicht überrascht. "Es hat Diskussionen gegeben", sagte er. "Mr. Marshall ließ Sie nur ungern gehen - und Mr. Rhodan ebenfalls. Aber es gelang mir, beide zu überzeugen, daß Ihre Unabhängigkeit, Ihre Entschlossenheit und Ihre ...Einsicht in die Notwendigkeiten Terra in meinem ...Geschäftsbereich von größerem Nutzen sind als in dem des Mr. Marshall."

Ich ließ mir diese Ausdrucksweise auf der Zunge zergehen. Einsicht in die Notwendigkeit. "Vollkommen Ihrer Meinung", sagte ich. "Wann fange ich an?"

Er gab mir eine Adresse in Moskau. "Seien Sie am 15. September da. 0800 lokaler Zeit." Er sah meinen Ausdruck. "Machen Sie nicht so ein Gesicht! Zufällig weiß ich, daß Sie nicht der Morgenmuffel sind, den Sie ihrer momentanen Rolle schuldig zu sein meinen!"

Erwischt. "Ich bin beeindruckt. Was wissen Sie noch über meine schlechten Angewohnheiten?"

Mercant lehnte sich vor und sah mir ins Gesicht. Ich erwiderte seinen Blick ein klein wenig besorgt, was das jetzt werden würde. "Miss Jamieson", sagte er. "Ich habe eine sehr hohe Meinung von Ihnen. Ich bin überzeugt, daß Sie gute Arbeit leisten werden. Welche Gerüchte auch immer über Ihr Privatleben im Umlauf sind, interessiert mich nicht im geringsten. Was immer Sie privat TUN, interessiert mich nicht im geringsten. Sollte jemals jemand versuchen, Sie mit diesen Dingen zu erpressen, erinnern Sie sich bitte daran."

Er hatte seine Schilde heruntergefahren und ich konnte lesen, daß er es ernst meinte. "Danke, Sir", sagte ich, und dachte, was für eine schöne Idee, um irgendwelchen Erpressern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

"Werden Sie nicht überenthusiastisch", sagte er. "Wenn Sie anfangen, zu Ihrem persönlichen Vergnügen Banken zu überfallen, liegt das NICHT mehr in meinem Einflußbereich."

"Bei dem, was Sie mir zahlen, überfallen die Banken eher mich."

Wir tranken aus, Mercant zahlte und verabschiedete sich, unauffällig begleitet von den Muskelmännern. Ich lehnte mich im Sitz zurück und spielte mit der Serviette. Solveig Jamieson, angehende Spionin. Das hier war real. Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Ich würde nicht in das Mutantenkorps zurückkehren, in große Raumschiffe und Stabsbesprechungen, zu Security Checks und zu Kommandounternehmen mit wichtigen Leuten. Statt dessen fremde Planeten und Hotelzimmer, Masken und Lügen und niemand zwischen mir und der Welt, was immer sie bringen mochte. Ich schauderte. Die Klimaanlage war zu kalt eingestellt, und für einen Moment wußte ich nicht, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

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Es war fünf, als ich das Sheraton verließ, und immer noch heiß. Es würde eine von diesen Sommernächten werden, wo man nicht schlafen wollte - oder konnte. Ich lief nach Hause und ließ mir Zeit damit, mich fertig zu machen, stand eine Stunde vor dem Kleiderschrank und entschied mich schließlich für eine Clochardhose, zwei Nummern zu weit und eine zu kurz, so daß ich die Hosenbeine aufgekrempelt trug, eine Anzugweste (ohne etwas darunter), ich nahm einen Tattoostift und malte Schlangenmuster auf meine Arme und Beine, schminkte mir die Augen und überredete meine (im Moment kurzen) Haare, stachelig in alle Richtungen abzustehen. Meine alten Laufschuhe und fast meine gesamte Kollektion an Silberschmuck (nicht SO beeindruckend, ich gebe es ja zu) rundeten das Bild ab. Wenn es irgend etwas in meinem Kleiderschrank gab, das weiter von der hoffnungsvollen Jungakademikerin entfernt war, die ich den Tag über dargestellt hatte, war es mir entgangen.

Cory pfiff durch die Zähne, als sie mich sah, ehe sie sich auf ihre Verpflichtungen als Lästermaul besann und erklärte, sie gäbe nichts, ich würde es ja doch nur für Drogen ausgeben.

"Wie lief das Gespräch mit deinem Großonkel?" fragte sie dann. "Hat er dich enterbt?"

"Er hat mir angedroht, seine Beziehungen spielen zu lassen und mir einen gutbezahlten Job in Terrania zu verschaffen."

"Und? Nimmst du an?"

"Ich denke, ja. DIE Chance, NICHT Lehrerin oder Sekretärin zu werden."

"Sondern?"

"Systemanalytikerin. Ich wußte immer, daß mich das Rechnerzeug mal ernähren würde... Könnten wir das Thema wechseln?"

"Klar. Sach mal, kann ich das anziehen?" Sie trug ein buntes Indienkleid mit Spiegeln und Stickereien und strategischen Löchern, Rings on her Fingers, Bells on her Toes (oder so) und hatte bunte Perlen in ihre Haare geflochten. "Umwerfend", sagte ich wahrheitsgemäß.

Normalerweise haben Aktionen, von denen man besonders viel erwartet, eine Tendenz, hinter den Erwartungen zurückzubleiben. Dieser Abend war anders. Wir drifteten durch einige Kneipen, alberten herum, Cory bestand darauf, daß ich zahlte, da ich schließlich die Hosen anhätte (ich tat es, weil ich schließlich eine reiche Frau bin). Um elf, als die anständigen Kneipen schlossen, drifteten wir am Ufer von einem Straßenmusikanten zum nächsten, kauften Shit und rauchten, während wir der auflaufenden Flut zusahen. Irgendwann nach Mitternacht landeten wir bei Danny's. Der Laden war genauso heruntergekommen und voll und laut und heiß wie vor fünf Jahren - genau richtig also. Das einzige, was die gediegene Atmosphäre ein wenig störte, waren ein paar besoffene Frat Boys, die die Frauen beglotzten. Wir stolperten in Derek und ein paar seiner biertrinkenden Kumpels, die dabei waren, blonde Tussis aufzureißen, mich wiedererkannten und darauf bestanden, mir und Cory Bier zu spendieren. Tanzen taten sie nicht, dazu waren sie zu, äh, beschäftigt.

Ich drehte ein paar Runden mit einem Jungen, der Haare wie ein Indianer hatte und Lederhosen trug, die polizeilich verboten gehören und auf der Musik zu treiben schien. Cory hielt sich an einen großen Blonden in Jeans. Der Diskjockey ging zu langsamen Stücken über und der Lederhosenjunge verschwand mit dem großen Blonden, was Cory und ich in unserem momentanen Zustand unglaublich komisch fanden, wir lagen auf dem Boden vor Lachen und vermachten uns dann zu Derek und seiner Bande, um uns noch ein Bier spendieren zu lassen. Der Diskjockey legte 'Black Night' auf, diesen absoluten Weltschmerz-ooohweh-sie hat mich verlassen-Song und Corys All-time-favorite. Sie versuchte, Petey, einen der Kumpels von Derek, dessen Mädchen vom Bier schon unter den Tisch gerutscht war, auf die Tanzfläche zu schleifen, aber Petey hielt sich am Tisch fest und WEIGERTE sich, aufzustehen. Ich lachte wie eine Hyäne, (mir kam inzwischen alles ziemlich komisch vor) und sie warf mir einen düsteren Blick zu und zog kurzerhand mich auf die Tanzfläche. Ich kriegte noch mit, daß die Bande Bemerkungen machte, fletschte die Zähne in ihre Richtung und dachte, jetzt erst recht. Nach 'Black Night' kam 'Under The Rainbow' und wir kamen langsam so richtig in Schwung, als irgendjemand eine Pratze auf Corys Schulter legte. Ich blinzelte und sah einen Typen in den Farben einer Verbindung. "Na Hübsche", lallte er, "So allein hier?"

Ich schob mich zwischen ihn und Cory. "Behalt' deine ungewaschenen Pfoten bei dir, du Pfeife. Die Dame ist in meiner Begleitung hier!"

Cory lachte. Der Frat Boy glotzte. "Ich red' nicht mit dir, du Schnepfe, sondern mit deiner Freundin hier."

"Sie redet aber nicht mit dir, Pappnase. Zieh' Leine."

Er wollte nach Corys Arm greifen. "He, komm, Süße, ich spendier' dir einen..."

Ich fing seine Hand in der Bewegung ab. Er sah mich an wie ein außerirdisches Spezimen, fing an, nicht druckbare Beleidigungen zu spucken und wollte mich wegschieben. Ich klebte ihm eine. Nicht mit Kraft, nur eine ziemlich damenhafte Ohrfeige. Von hinten hörte ich Applaus - Dereks Clique. Petey rief etwas von 'Zugabe'. Die Kollegen des Frat Boys feixten. Einer von ihnen rief etwas in dem Sinne, daß Herb (so hieß der Hohlkopf offenbar) mal die Zahnpasta wechseln sollte. Herb rastete aus.

Es ergab sich eine kleine Rangelei, in deren Verlauf Herb ein paar Meter rückwärts flog und auf Peteys Schoß landete, der Rest der Frat Boys mischte sich ein, ebenso Dereks Clique, soweit sie noch stehen konnten, ein paar der Stammkunden stürzten sich begeistert in die unerwartete Abendunterhaltung, und binnen kurzem hatten wir die schönste Saloonschlägerei. Der Diskjockey nahm es philosophisch und legte einen Squaredance auf.

Irgendwann später standen Cory und ich Rücken an Rücken, sie verwendete einen Stuhl effizient als Stoßwaffe, um sich Leute vom Leibe zu halten, ich rangelte mit einem Kerl, der aussah, als sei sein Großvater ein Orang-Utan gewesen, Verbindungsfarben trug und versuchte, einen zerbrochenen Bierkrug als Angriffswaffe einzusetzen, während ich versuchte, ihm das Teil abzunehmen, ehe jemand verletzt wurde, als ich Cory etwas rufen hörte. Ich schob den Orang-Utan weg. "Was ist?"

"Sind das Sirenen?"

Es WAREN Sirenen. Cory und ich machten einen Rückzug aufs Damenklo, wo einige Frauen sich hingeflüchtet hatten. Als ich durch die Tür wischte und einem Typen, der mich zurückzerren wollte, noch einen Tritt verpaßte, sah ich die ersten Blauen durch den Eingang kommen.

"Keine Panik", sagte Cory zu den Versammelten, "keine Panik, die Polizei wird gleich hier sein... Solveig, hilfst du mir mal mit dem Fenster?"

Ich stieß das klemmende Fenster auf, half ihr hindurch und kletterte selbst hinaus. Wir landeten in einem Haufen Mülltonnen in einer Gasse. Von der Hauptstraße her sah man Blaulicht flackern. Wir rannten in die andere Richtung davon. Als wir die Sirenen nicht mehr hörten, brachen wir lachend auf dem Pflaster zusammen.

"Oh mann", japste Cory. "Du verstehst es wirklich, einer Lady einen schönen Abend zu machen!"

Neuer Lachanfall. Ein paar bürgerlich aussehende Typen machten einen großen Bogen um uns. Ich kriegte mich langsam unter Kontrolle und setzte mich auf. "Scheiße. Ich könnte eine Cola brauchen."

Cory wischte sich die Augen und musterte mich kritisch. "Ich glaube nicht, daß sie dich in deinem Zustand in ein Lokal lassen..."

"Was-" ich sah an mir herunter. "Oh. Scheiße."

"Taxi", sagten Cory und ich wie aus einem Mund.

Cory rief ein Taxi. Auf der Heimfahrt versuchte ich, nicht auf die Sitze zu bluten und gleichzeitig meine Weste zuzuhalten. Ich fand es immer noch komisch. Cory zahlte dem Fahrer das Doppelte des Fahrpreises.

Erst als ich unter der Dusche stand, verließ mich das Adrenalin langsam. Das Blut kam hauptsächlich von einem langen, flachen Schnitt am Unterarm und aus meiner Nase. Ich verarztete mich, so gut ich konnte. Das und die blauen Flecken, die auf meiner hellen Haut immer so richtig dramatisch werden, hieß wohl, lange Klamotten und Sonnenbrille für die nächsten Tage. Cory hatte ein verstauchtes Handgelenk, ein paar blaue Flecken und ein neues Minikleid, war aber alles in allem besser davongekommen als ich. Als ich aus der Dusche kam, hatte sie einen Eisbeutel und ('wo ich gerade am Eishacken war', sagte sie) zwei Frozen Margaritas gemacht.

Ich setzte mich aufs Sofa und streckte die Beine aus. "Aua. Oh mann."

Sie machte ein mitfühlendes Gesicht und schüttelte gleichzeitig den Kopf. "Davon werde ich noch meinen Urenkeln erzählen, und sie werden mir kein Wort glauben."

Ich grinste.

"Apropos Sippschaft", sagte sie, "was wird dein Großonkel sagen, wenn ihm das zu Ohren kommt?"

Ich mußte wieder lachen. "Meinem Großonkel ist mein Privatleben bewundernswert egal."

Wir saßen noch eine Weile schweigend zusammen, bis der erste Vogel sich draußen vernehmlich bemerkbar machte. Cory stand auf. "Jetzt kommt die Stelle, wo ich mich für den wunderbaren Abend bedanke, oder?" sagte sie.

Ich muß sie etwas schuldbewußt angeguckt haben. Sie lachte. "Ich sage NICHT, 'laß uns das bald mal wieder machen'. Aber ich HABE seit Jahren nicht mehr so viel Spaß gehabt. Und dieser Typ WAR ein Reptil."

"Bleib'", sagte ich, und auf ihren fragenden Blick, "Wer weiß, was um diese Zeit für komische Gestalten unterwegs sind."

"Schläger", sagte sie todernst.

"Betrunkene Frat Boys", ergänzte ich.

"Ich will nur weg sein, bevor die Polizei auftaucht."

Ich schnaubte. "Derek wird ihnen erzählen, sie hätten nur zwei Damsels in Distress geholfen. Und ich glaube nicht, daß sonst irgendjemand von Danny's irgend etwas gesehen oder gemerkt oder mitbekommen haben wird."

"Guter Kumpel, Derek." Sie sah sich um. "Kannst du mir noch ein T-Shirt leihen?"

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Am nächsten Tag war es immer noch heiß. Cory meldete sich für eine Woche krank, wir packten unsere Zahnbürsten und ein paar andere Sachen und fuhren in die Berge. Irgendwo in den Cascade Mountains fanden wir einen See, schlugen unser Zelt auf und waren eine Woche faul.

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August

Meine Sachen sind gepackt. Die Wohnung auf- und leergeräumt von meinem Zeug, sie beginnt, wie Corys auszusehen. Das Motorrad ist verkauft. Ich lebe jetzt schon nicht mehr hier, ich spuke durch die Plätze, die wichtig waren, wie mein eigenes Gespenst, und auf einmal bin ich ungeduldig zu gehen.

Gestern habe ich einen Flug nach Moskau gebucht, mit Zwischenstopp in Terrania. Ich war noch nie in Moskau, könnte interessant werden.

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In Terrania erwartete mich Betty. Die Stadt war in meiner Abwesenheit schon wieder gewachsen, ein neues Wohn- und Geschäftsviertel mit Parks und Brunnen war entstanden, wo vor fünf Jahren noch Wüste gewesen war. Downtown zierte sich mit zwei neuen Hochhäusern. Der Raumhafen hatte seine Fläche fast verdoppelt. Weiter konnte er nicht wachsen, und schon war die Rede davon, einen neuen anzulegen, irgendwo weiter 'draußen', und den jetzigen als Testfeld und Stehplatz für die Werften zu verwenden.

Die Gleiterschienen waren weiter ausgebaut worden, nicht, daß Betty sie benutzt hätte. Sie steuerte ihren neuen Porsche wie ein Rallyefahrerin. Einmal stoppte uns ein Verkehrspolizist und setzte zu einer Tirade an. Betty winkte mit ihrem Ausweis und das war's. Ich schüttelte den Kopf. "Schamloser Mißbrauch von Privilegien."

"Klar", meinte Betty vergnügt. "Steht auf der gleichen Seite im Vertrag wie das kostenlose Kantinenessen."

"Du willst mir doch nicht erzählen, das DAS Kantinenessen es wert ist?"

Wir tourten durch die Orte, wo man Bettys Meinung nach gewesen sein muß, ich bequatschte Bully, mir eine Führung über den Raumhafen zu geben und mir die neuen Schiffsmodelle zu zeigen, und verbrachte einen Vormittag in der Staatsbibliothek, um mir die interessanten neuen Titel zu notieren.

Fünf Tage in Terrania, im geschmolzenen Glas der Sommerhitze, dann der Flug nach Moskau, nichts als eine Handtasche im Gepäck - alles andere, was ich aus Vancouver mitgebracht habe ist in meinem Zimmer im HQ. Noch so eine kleine Vergünstigung: eine 14 mē Zelle mit Wohnrecht auf Lebenszeit - oder darüber hinaus. Ellerts Zimmer steht heute noch unberührt, sein Name an der Tür, und er ist 1972 gestorben. Manchmal, wenn ich den Gang dort hinunter gehe, stelle ich mir vor, wie es in tausend Jahren dort aussehen wird, eine Galerie der Toten.

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Fünf Tage in Terrania, dann stieg ich wieder in den Flieger, und zwei Stunden später war ich in Moskau. Die Hitze schlug mir ins Gesicht wie eine nasse Decke. Man vergißt, was man an Terranias Wüstenklima hat. Ich quartierte mich erst mal im Flughafenhotel ein und machte mich dann ans Erkunden.

Moskau ist eine merkwürdige Stadt. Als 1982 die Weltregierung gegründet wurde, reagierten die USA mit allem zwischen Fahnenschwenken und wüsten Beschimpfungen, die Chinesen bemühten sich, undurchschaubar zu sein und verloren dabei vermutlich selber den Überblick, die Blockfreien stritten sich übers Protokoll und Westeuropa reagierte mit der gemächlichen Abgeklärtheit einer gut erhaltenen Urgroßtante. Es gab endloses Gekakel und Rhodan zog alle Register, um zumindest formelle Zustimmung zu erhalten. Nur die Sowjets kakelten nicht. Der Generalsekretär selber kam, voll von, wie Bully sagte, Wodka und großen Worten, in der einen Hand den Füller, um den Vertrag zu unterschreiben, in der anderen die Bedingungen. Er wußte, daß Rhodan keine Wahl hatte, als auf die Bedingungen einzugehen, und Rhodan tat es.

So nennt sich der 'Ostblock' heute noch sozialistisch. Die alten Machtstrukturen existieren noch, wenn auch nicht der Mangel und die Geheimpolizei, und Hauptexportgüter sind Apparatschiks, Kosmonauten, Kunst und, zumindest meinen ersten Eindrücken von der Stadt her, Architekten. Und zwar nach Terrania. Im Vergleich zu Vancouver, das überwiegend mit Holz und Ziegeln auf die Hänge geschlunzt wurde, wirkt Moskau sehr 'terranisch', ausladende Bauten und Straßen, Denkmäler, nichts älter als 100, maximal 150 Jahre, Beton und Glas wie für die Ewigkeit. Aber nicht so glänzend wie Terrania, bewohnter oder verwohnter, polierte Fassaden und Prachtbauten vorne, Wasserflecken und unebene Straßen dahinter. Gespenstisch. Ist das, wie Terrania in hundert Jahren aussehen wird, oder in zweihundert, oder nach schlechten Zeiten?

Ich erwog, in eines der berühmten Hotels umzuziehen, Jugendstilbauten, wo die Übernachtung 5 Solar kostet und man im restaurierten Luxus einer vergangenen Zeit schwelgen kann. Mir war nach Luxus, nach warmen, chaotischen, lebendigen Überbleibseln einer Zeit, wo Paläste nicht wie Mietskasernen aussahen. Statt dessen nahm ich ein Zimmer in einem vernünftigen, neutralen, modernen Hotel, die Art von Hotel, wo Firmen ihre Mitarbeiter unterbringen, wenn es für länger als eine Woche ist. Es ist das, was eine junge Akademikerin mit bequemen, aber nicht extravagantem Finanzpolster aussuchen würde, und ich beginne schon, wie eine Spionin zu denken.

Ich sehe mir die Sehenswürdigkeiten an, gehe viel aus, Ballett, Theater, Oper, Konzerte und Kabarett, lerne Russisch (ich habe mir einen billigen Semi-Hypno-Kurs für die Grundlagen gekauft, den Rest lerne ich lieber auf die klassische Methode, davon kriege ich weniger Kopfschmerzen)und sehe viel fern (teil meines Klassische-Methode-Russischlernens). Außerdem habe ich mir eine neue Garderobe zugelegt und dabei entdeckt, daß Moskau ein guter Ort ist um Bücher zu kaufen, daß man aber in Sachen Klamotten keinen aufwendigen Geschmack haben sollte. Am Ende kaufte ich zwei von den weiten Hosen, die gerade so ungefähr modern sind, drei enge Pullover und vier T-Shirts, ein Jackett, neutrale Halbschuhe, alles in vernünftigen, gedeckten Farben, schilf und schlamm und nicht-ganz-weiß. Und ein leuchtend blaues Kleid für feierliche Anlässe.

Mir fehlen Leute. Um genau zu sein, mir fehlt Cory. Und Jo. Mir fehlt Vancouver, die Berge und das Meer. Moskau hat schöne Badeanstalten und ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen eine Stunde zu schwimmen. Das Stillsitzen vertrage ich nicht.

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Oktober

OK, daß ich zuviel zum Stillsitzen käme, ist im Moment nicht mein Problem. Die Ausbilder hier scheinen entschlossen zu sein, uns bis zum Umfallen zu scheuchen, wie sich das für gute Schleifer gehört. Gut, daß ich so'n hibbeliger Typ bin - hätte ich in Vancouver ein bequemes akademisches Leben geführt, hätte ich jetzt ein Problem. Sechs Tage die Woche, vierzehn Stunden am Tag Ausbildung und Unterricht. Uff. Und Sonntags sitze ich meistens über meinen Unterlagen zwecks Nachbereitung. Wenn ich denke, daß das ein Jahr so weitergeht, fühle ich mich ziemlich müde...

Die Abwehrakademie ist in einer ehemaligen KGB-Kaserne, ein gutes Stück von Moskau entfernt in der Pampa. In den nicht renovierten Ecken sind noch die alten Etiketten, was irgendwie skurril ist. Die Einrichtung ist ziemlich spartanisch. Wir sind 20 Leute, 16 Männer und 4 Frauen. Gute Quote. Meine Zimmergenossin ist eine Chinesin, Xiao Hong. Die anderen beiden sind Schwarzafrikanerinnen, Ktia und Félice. Sie sprechen untereinander Französisch. Ktia kommt aus dem diplomatischen Dienst, Félice hat sich tatsächlich bei der Abwehr beworben. Dinge gibt's. Hong ist Jahrgangsbeste in Kybernetik an der Universität Terrania gewesen. Was sie von Nebenfächlern einer Provinzuni hält, läßt sie mich merken. Außerdem kann sie besser schießen als ich und glaubt, daß Frauen, die sich benachteiligt fühlen, selber schuld sind. Ich sollte angeätzt sein, aber meine Einstellung zu ihr ist eher ein erschöpftes: Werd' erwachsen.

Die Männer sind, bis auf zwei, die frisch von der Uni sind, von der Raumfahrtakademie oder angehende Space Marines. Am dritten Tag hier riß einer blöde Witze über die, hm, 'besondere Qualifikation' von Frauen als Spioninnen, worauf ich mit Unschuldsmiene den alten Schnack brachte, daß auf Arkon nur schöne Jünglinge als Spione eingesetzt würden, und ein anderer lallte eine Woche später davon rum, daß Frauen im Einsatz ein Sicherheitsrisiko wären, da man immer jemanden abstellen müßte, um sie zu beschützen. Ich forderte ihn zu einem Duell (na gut, einem Wettstreit) und ließ ihm die Wahl der Waffen. Er drückte sich. Seither ist es ruhig...

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© inge 1998