Malenka

Zu sagen, daß mein Zusammentreffen mit Malenka merkwürdig war, wird der Sache nicht gerecht. Ich traf sie im 390. Jahr der Rechnung der Telcontar, zwei Jahre nach dem Ende des Krieges; zu einer Zeit, wo es den meisten von uns noch nicht einmal bewußt war, daß die Zeit des Bundes, die Zeit der Technik, der Berechenbarkeit, der Sicherheit geendet hatte, traf ich sie, wie ein Wesen aus einer Sage, aus einer anderen Zeit voll Zauber und Schrecken und Fremdartigkeit. Sie war alles, was sie war, und Vorbotin einer Veränderung, die heute noch andauert. Nein, 'merkwürdig' ist kaum das richtige Wort, wenn man nur zwei Jahre und tausend Kilometer vom Zeitalter der Vernunft entfernt einem Vampir begegnet.


Im Juni '88 hatte der Krieg geendet. Die Westländer waren abgezogen -- waren nach Hause gegangen in Länder, die durch ihre Abwesenheit genauso verwüstet waren wie die unseren durch ihre Anwesenheit. Im September kam Chière zurück, nach über fünf Jahren, glücklicher als vorher. Im Oktober gingen Anett und ich zum Waldhof. Wir hatten dort überwintern wollen, aber kurz vor Mittwinter gingen wir schon weiter -- auch dies ein Vorzeichen einer Zeit der Ruhelosigkeit, getrieben nicht mehr von der Sehnsucht nach Ferne, sondern von der Furcht vor dem Bleiben. Sie setzte auf die Inseln über, ich wanderte auf verschlungenen Wegen südwärts, suchte in der Bewegung die Ruhe, die mir abhanden gekommen war.

Im Sommer '89 erreichte ich das Meer. Entlang der Küste ging ich weiter nach Süden und erfuhr selbst, wovon Chière berichtet hatte: Die Sonne, die trockene Hitze, sie schmelzen die Vergangenheit aus dir heraus, sie verbrennen die Gedanken und Erinnerungen, füllen die leeren Räume mit Glut und Gegenwart, sie binden dich ein in das hitzeflirrende Land, und so, sagte Chière, heilen sie ein Herz, das durch den kalten Wind, den du so schätzt, Tanien, da er Klarheit schafft und dich auf dich selbst zurückwirft, nicht geheilt werden kann.

Chière war weise geworden in den Jahren ihrer Wanderschaft, sie war eine von uns geworden. Ich wußte nicht, ob sie zu beglückwünschen war oder zu bedauern, aber auch diese Frage zerschmolz unter der Sonne und versickerte im trockenen Boden.

Der Winter kam und der Regen. Gegen Ende des Winters traf ich in einem Dorf mitten im Irgendwo einen Mann, den ich mochte, ein Vagabund wie ich. Wir schliefen miteinander und ich ließ zu, daß ich schwanger wurde. Warum? Vielleicht um etwas Neues anzufangen. Oder nur, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich weiß es nicht. Wir reisten ein paar Wochen zusammen, bis er sich in einer Schänke eine dunkeläugige Schönheit anlachte. Am nächsten Morgen war er weg. Ebenso das Mädchen, mein Geld und mein Mantel. Ich war weder überrascht noch gekränkt, nur unpersönlich wütend. Schließlich, sagte ich mir, kannte ich die Welt und die Männer.

Ich reiste zwischen den Inseln hin und her, auf den Booten von Fischern und Händlern oder mit dem Postschiff, das einmal die Woche schwer dampfend seine Runde zog. Manche Inseln, sagte mir der Kapitän, führe er nur einmal im Monat an. Und andere habe er ganz vergessen.

Die Inseln waren Brocken von Fels, schwarzem Gestein, im blauen Ozean, Berge, bedeckt mit grüngoldenem Buschwerk und voller rieselnder Bäche in schattigen Schluchten, mit Dörfern, die sich um einen Hafen voll bemalter Fischerboote drängten, bewohnt von Männern in bunter Tracht und schwarzgekleideten Frauen. Aus Frühling wurde Sommer.

Ich war nicht vorsichtig. Ich hatte keine Ahnung, was sie gegen mich hatten auf einer dieser Inseln, die der Postschiffkapitän vergessen hatte, aber ich hatte irgendein Gesetz übertreten, irgendein Tabu gebrochen, und sie kassierten mich auf offener Straße, schlugen mich windelweich und warfen mich in einen echt mittelalterlichen Kerker unter der Ruine eines Klosters, wo ich wenig begeistert der Dinge harrte, die da kommen sollten. Die schwere Tür widerstand allen Ausbruchsversuchen. Der Kerkermeister war ein niederträchtiger, sadistischer Kerl. Zum Glück bin ich keine menschliche Frau, und mein Geist ist frei, was immer mit mir geschieht. Zum Glück bin ich Streunerin und fähig, fast alles auszuhalten. Trotzdem war ich halbtot vor Schmerz und Erschöpfung am dritten Tag. Ich tauchte in dieses Meer von Schwäche, und mein Geist wanderte auf den grünen Wiesen des Nordens, durch die gepflasterten Straßen der Regenstadt, während mein Körper stur sein bestes tat, um sich zu regenerieren.

Am Nachmittag wurde eine andere Frau in den Kerker geworfen, ein junges Mädchen, deren Schönheit noch durch all die Verletzungen und das Elend schien. Sie sprach nicht und sie bewegte sich nicht, sie lag nur da und starrte. Ich versuchte ihr zu helfen, aber sie war jung und menschlich und wollte nicht leben. Ich konnte nur ihre Schmerzen lindern und später, als sie tot war, ihre Augen schließen. Und ich verfluchte dieses Dorf, verfluchte seine Bewohner, dieses ganze grausame, herzlose, abergläubische Pack, das nicht nur einen dahergelaufene Fremde zu seinem Opfer machte -- das konnte ich noch verstehen -- sondern auch ihre eigenen Töchter.

Der Fluch einer Hexe, sagt man heute, ruft Geister herbei, Dämonen, die ihre Worte hören, die ihre Rache ausführen, wenn sie ihren Preis zahlt. Damals wußte ich nichts davon. Meine Flüche erfüllten sich nicht öfter als die anderer Leute.

Ich wandte mich von der Toten ab, rollte mich im entferntesten Winkel zusammen und schlief ein.

Ich wachte auf, weil sich etwas verändert hatte. Ein Strahl Mondlicht fiel in die Zelle, auf die Leiche des Mädchens. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Sie war so schön. Ich erinnerte mich nicht, daß sie so schön gewesen war, eine klare, scharfe, dunkle Schönheit im Licht des Mondes, das durch ein winziges, vergittertes Loch hoch in der Decke in die Zelle drang. Während ich schaute, schlug sie die Augen auf. Für einen kurzen Moment spürte ich die Anwesenheit eines mächtigen, fremden Geistes, eines Wesens, das zwei Stimmen nach Rache hatte rufen hören und gekommen war. Ich war groggy und übersensibel und deshalb verstand und akzeptierte ich sofort, was ich wahrnahm, wie ich es nie getan hätte, wäre ich mehr mein gewöhnliches Selbst gewesen. Ich verstand die Natur des Geistes und wußte, was geschehen würde. Es begeisterte mich nicht. Die Tür war verschlossen. Niemand war da, den ich zur Hilfe hätte rufen können. Es war wie in einem der Alpträume, die ich als Kind gehabt hatte. Aber dies war wirklich. Ich spürte die aufkommende Panik und wußte gleichzeitig, daß Panik das Raubtier zum Angriff reizt. Dies ist kein Alptraum. Und ich bin keine fünfzehn. Ich bin fünfhundertfünfzig. Ich bin stark. Stärker vielleicht als ein junger Bluttrinker. Niemand kann Macht über mich gewinnen. Und, so oder so -- ich könnte hier sterben, aber das macht mir keine Angst. Ich habe keine Angst.

Ich hatte keine Angst. Ich sah zu, völlig fasziniert, wie sie sich verwirrt umsah und sich dann mit einer Bewegung, die kein bißchen menschlich war, aufsetzte.

"Es tut nicht mehr weh", sagte sie leise, verwundert über die Tatsache.

"Nein", sagte ich.

Sie sah mich geistesabwesend an. "Ich spüre gar nichts." Sie schüttelte den Kopf und fixierte dann ihren Blick auf mich. Ich sah nicht in ihre Augen, nicht direkt jedenfalls, eher durch sie hindurch, jedenfalls erkannte ich, wie ihr Blick sich veränderte, hungrig wurde. Ich kämpfte wieder einen Anflug von Panik nieder. Sollte ich jetzt angreifen? Nein, es mußte einen anderen Weg geben als einen Kampf anzufangen, den ich leicht verlieren konnte. Ich mußte ihn nur finden.

"Wer . . . wer bist du?" fragte sie zögernd.

"Tanien."

Ich versuchte nicht, ihrem Blick zu entkommen, sondern hielt stand. Das Mondlicht zeichnete ihr Gesicht, makellos, porzellanweiß, die Augen groß und dunkel. Ich sah ihre Zähne und schauderte, aber sie war der Panik näher als ich.

"Was ist geschehen? Ich dachte, ich wäre tot . . . ich wollte sterben . . . Aber es scheint so gleichgültig, jetzt . . . "

O je. (Wie sag ich's meinem Kinde?) "Du weißt es."

"Ja. Ich . . . ich--" sie wollte weinen, aber das konnte sie nicht mehr. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und wirkte so verzweifelt, daß sie mir leid tat. Ich wollte nicht mit ihr kämpfen.

Schließlich sah sie auf und sagte sehr ruhig: "Ich bin gestorben. Ich bin tot. Ich atme nicht. Mein Herz schlägt nicht. Trotzdem denke ich und spreche. Ich fühle nichts. Aber ich spüre Hunger und Kälte, Tanien. Und ich spüre dein Leben, dein warmes Blut, nach dem mich dürstet. Wir haben Legenden über solche Wesen, über Tote, die umhergehen und das Blut der Lebenden trinken, Vampire. Das ist es, was ich bin. Ich habe nicht an die Legenden geglaubt, seit ich zehn war . . . Du solltest dich fürchten, Mensch. Du solltest zittern vor Furcht . . . " Ihre Ruhe brach wie ihre Stimme und sie wandte sich ab. "Oh Gott, hilf mir!"

Gott antwortete nicht. Aber in meinem Gehirn regte sich eine verrückte Idee.

"Warum fürchtest du dich nicht?" fragte sie nach einer Weile, abgelenkt durch mein Verhalten. "Ich würde -- ich hätte mich zu Tode gefürchtet, wenn ich einem Vampir begegnet wäre. Ich hatte Alpträume davon."

"Ich auch. Aber das ist lange her. Ich bin sehr alt und habe gelernt, Furcht nicht an mich heranzulassen."

Sie musterte meine abgerissene Gestalt. "Du siehst nicht alt aus. Bist du . . . "

"Ich bin eine Hexe."

"Was?" Sie sah mich hoffnungsvoll an. Die Großmuttergeschichten wurden alle auf einmal wahr. "Weißt du Rat?"

Ich schüttelte den Kopf. Sie sackte zusammen und kämpfte um ihre Fassung. "Ich will so nicht sein! Ich will nicht töten -- jedenfalls dich nicht und niemanden auf diese Art! Aber ich bin hungrig und es wird immer schlimmer. Und ich . . . halte das nicht mehr lange aus."

Ich schätzte ihre Stärke ab. Es war nicht ausgeschlossen, daß ich sie würde vernichten können. Es war wahrscheinlicher, daß ich bei dem Versuch sterben würde. Oder ich ließ mich auf meine Idee ein . . .

"Mußt du töten?" fragte ich.

"Ich brauche das Blut!" sagte sie verzweifelt.

"Ich weiß. Aber ein Mensch hat fünf bis sechs Liter Blut -- das ist eine ganze Menge. Ein gesunder Mensch verkraftet den Verlust von einem halben Liter ohne Probleme, wenn keine anderen Schwierigkeiten -- Schock zum Beispiel -- dazukommen. Ein Liter wird schwieriger, aber die meisten Menschen überleben das. Du weißt wieviel ein Liter ist? Kannst du weniger trinken als das?"

"Ich weiß es nicht . . . " Sie dachte nach. Hoffentlich würde sie in sich selbst die Antworten finden, die sich brauchte.

Ich hatte auch über einiges nachzudenken. Was hatte ich vor? Wenn sie jetzt 'nein' sagte, mußten wir sehen, daß wir hier irgendwie rauskamen. Vielleicht würde ihr etwas einfallen. Wenn das unmöglich war, mußte ich angreifen -- und zwar schnell, ehe sie es tat, wenn ich die Nacht überleben wollte. Welchen Wert das Überleben auch haben mochte in diesem verdammten Loch.

Und wenn sie ja sagte? Würde ich dann . . . Würde ich es zulassen? Es ihr erlauben -- es ihr vorschlagen? Mir lief es kalt den Rücken runter. Das war der Kern des Alptraums, all der Alpträume: Zu vertrauen und verraten zu werden. Zu hoffen und zu verlieren. Und zu allem Überfluß wie ein Trottel dazustehen, wie einer, der die offensichtliche Gefahr nicht erkannt hat. Wie konnte ich wissen, ob sie nicht log? Oder sich einfach irrte? Ich konnte es nicht wissen. Trotzdem mußte ich eine Entscheidung treffen. Vielleicht hatte ich sie schon getroffen, als ich fragte. Vielleicht traf ich sie in diesem Moment, wo ich nicht angriff. Vielleicht war ich nicht ganz bei Trost, aber ich war nicht Streunerin, Hexe und über fünfhundert Jahre alt geworden, indem ich vernünftig gehandelt hatte. Wäre ich vernünftig gewesen, wäre ich längst tot. Hätte nie wirklich gelebt.

Als sie wieder sprach, hatte ich meinen Entschluß gefaßt.

"Ich kann es", sagte sie. "Aber es wird nicht einfach sein. Ich . . . ich weiß, ich kann Männer verführen und von ihrem Blut trinken, ohne sie zu töten, und sie werden süchtig nach meinem Kuß . . . Aber ein Mensch, der weiß, was mit ihm geschieht, wird sich fürchten, und wenn die Furcht ganz von ihm Besitz ergreift, ist sein Blut wie zu starker Wein für mich und ich verliere die Kontrolle . . . " Sie schüttelte den Kopf. "Woher weiß ich das?"

Ich dachte an den Geist, den ich gespürt hatte. "Du bist eine alte Legende geworden, und die Legende erinnert sich an die Regeln", sagte ich.

Sie brütete darüber.

"Wie heißt du?" fragte ich.

"Die Toten haben keinen Namen", sagte sie.

"Alles, was spricht, sollte einen Namen haben."

"Mein Name ist gestorben. Ich werde ihn nicht mehr tragen."

"Dann gib dir einen neuen Namen."

"Das kann ich nicht."

"Ich gehöre zu einer Gruppe von Leuten", erzählte ich, "wo es üblich ist, daß jeder sich den Namen gibt, mit dem er genannt werden möchte."

Sie dachte darüber nach. Dann sagte sie: "Ich nenne mich Malenka."

Ich nickte anerkennend. "Ja. Ich habe inzwischen überlegt, was wir tun können. Kannst du die Tür aufbrechen? Oder dich in eine Fledermaus verwandeln und aus dem Fenster flattern?"

Sie warf einen Blick auf die Tür. "Ich habe keine Ahnung, wie man sich in eine Fledermaus verwandelt. Und die Tür da . . . Ich bin zu schwach dafür. Zu hungrig."

"Das habe ich gefürchtet. Zweitens, Malenka: Du hast gesagt, du wolltest kein Vampir sein. Nun, wie gesagt, ich bin eine Hexe. Ich kann deine Existenz beenden -- wenn du es wünschst."

Sie konnte nicht noch blasser werden, aber in ihrem Gesicht malte sich Erschrecken.

"Wie?"

"Keine von den scheußlichen Methoden aus den Geschichten. Ich würde deine Energie, das, was deinen jetzigen Zustand vom Totsein unterscheidet, nehmen und verstreut in die Leere projizieren. Das tut nicht weh. Es ist nur das Nichts."

Sie sah immer noch erschrocken aus. "Das . . . sollte ich wollen, nicht wahr?"

"Ich kann es nur tun, wenn du es willst. Warum solltest du wollen?"

"Weil ich ein Ungeheuer bin, eine Ausgeburt der Hölle! Mich darf es nach den Gesetzen Gottes und der Menschen nicht geben! Ich muß doch . . . ich meine, wenn ich mich nicht ganz dem Bösen ergeben will, muß ich doch ein Ende meiner . . . Existenz anstreben!"

"Willst du es?"

"Nein. Aber ich muß doch! Sonst töte ich dich und, und . . . "

"Malenka, ich kann es nicht tun, wenn du es nur mußt und nicht willst. Dafür bist du zu stark. Außerdem bin ich nicht deiner Meinung."

"Wieso?"

"'Ausgeburt der Hölle', also wirklich! Die uralte Nacht sei uns gnädig, Mädchen, es gibt keine Hölle bis auf die, die wir uns selbst erschaffen. In dieser Hölle magst du dich finden nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden eines nicht endenden, sonnenlosen Lebens. Aber es ist keine Hölle jenseits des Tores."

"Die Priester sagen . . . "

"Die Priester würden erheblich schlechtere Geschäfte machen, wenn sie nicht Angst verkauften. Aber ich bin weit gereist, ich habe viele Geister auf ihrem letzten Weg begleitet, und ich habe nichts gefunden, was es zu fürchten gäbe. Nichts als Dunkelheit, Stille und Vergessen."

Sie sah mich eine Weile unsicher an. Ich wartete. Ich mußte verrückt sein. Hätte ich ihr eine Hölle glaubhaft gemacht, hätte ich sie wahrscheinlich überreden können, sich widerstandslos ins Nirgendwo schicken zu lassen. Aber es war nicht mein Stil, Leute abzulinken. Abgesehen davon gab es sogar sachliche Gründe, das nicht zu tun.

Sie sagte: "Ich will nicht, daß du mich -- daß du meine Existenz beendest." Ihre Stimme klang aggressiver als vorher. Die Zeit lief ab.

Ich war so ruhig, daß es mich selbst wunderte. Denn jetzt mußte ich etwas sagen, was möglicherweise die größte und die letzte Dummheit meines Lebens sein würde. Es war zu spät, darüber nachzudenken. "Malenka. Du kannst trinken, ohne zu töten, sagst du. Dann trinke von mir."

Ich rechnete mit einem Angriff. Sie griff nicht an. Sie zögerte, überlegte. Verlangen kämpfte in ihren Augen mit Skrupel. Sie schüttelte den Kopf. "Dich würde ich töten."

"Warum?"

"Hast du nicht verstanden? Du bist kein Mann. Du würdest wissen, was mit dir geschieht, und Angst haben und dann . . . könnte ich mich nicht mehr beherrschen."

"Ich bin kein Mann, ja. Aber ich bin eine sehr zähe und sehr alte Hexe. Ich gerate nicht einmal in Panik, wenn ich aufwache und feststelle, daß ich mit einem hungrigen Vampir allein bin."

"Ich könnte mich irren. Ich kann dir nichts versprechen."

"Das erwarte ich nicht."

"Du weißt nicht, was du tust!"

"Kann sein. Aber ich weiß, daß ich aus diesem Kerker raus will. Und du bist im Moment meine beste Chance."

"Warum vertraust du mir?"

Der Kern des Alptraums! Was konnte ich sagen, damit ich wenigstens nicht wie ein Trottel dastand, wenn . . . Lächerlich, Tanien.

"Ich könnte jetzt sagen, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Selbst wenn ich es auf einen Kampf mit dir ankommen lasse und gewinne, sitze ich immer noch in diesem Loch, aus dem ich mich nicht raushexen kann.

Oder weil ich auf deine Einsicht vertraue. Lebend nütze ich dir mehr als tot. Du kannst mich nicht in deinesgleichen verwandeln, weil ich eine Hexe bin und nicht gegen meinen Willen verwandelt werden kann, aber ich werde da sein, um mit dir zu reden, wenn du jemanden brauchst, so lange ich lebe, sei es in hundert oder tausend Jahren. Ich werde dir helfen, weil ich weiß, wie es ist, fremd in der Welt der Menschen zu sein.

All das stimmt und spielt auch eine Rolle. Aber der entscheidende Grund ist: Ich mag dich. Ich will, daß du existierst -- als Person, und als Legende.

Und: wenn ich mich irre -- wenn du mich töten willst oder mußt -- ist es mir lieber, du tust es jetzt, wo ich mich nicht fürchte, als nach Stunden stetig wachsender Angst." Ich grinste schief. "Außerdem bin ich neugierig."

Malenka nickte. "Ich verstehe. Ich verstehe jetzt so viel mehr als früher. Als wäre ich klüger geworden. Und ich sehe . . . "

Vor ihrem Blick schloß ich die Augen. "Warn' mich bitte vor."

Eine kalte Hand berührte meinen Hals. Die Berührung schickte Schauder durch meinen Körper. Nicht unbedingt Ekel oder Schrecken . . .

"Was ist das? Diese Ader?"

"Die Jugularvene. Drosselvene. Transportiert Blut vom Gehirn zum Herzen."

"Und das?"

Ich spürte das Pochen unter ihren kalten Fingern. "Die Halsschlagader. Wenn du die erwischst, gibt's hier eine große Schweinerei."

Und auf einmal fühlte ich, was sie fühlte: wie der Hunger in ihr ausbrach wie ein großes Tier, wie ein Wirbelsturm, der alles fortreißt, eine dunkle Flutwelle von Hunger. Ich wappnete mich und versuchte, mich zu entspannen. Ich hatte es ja so gewollt.

Sie stürzte sich auf mich, riß mich aus meiner kauernden Stellung zu Boden. Ich kämpfte den Impuls nieder, mich zu wehren. Sie wog fast nichts, aber sie war stark. Ich drehte den Kopf zur Seite und erreichte endlich den Ort völligen Friedens. Dann spürte ich ihren Kuß, und dann kam der Schmerz, mit dem ich nicht gerechnet hatte, mehr als Schmerz, ich glaubte, sie hätte mir die Kehle rausgerissen, bis ich merkte, daß ich noch atmen konnte, und der Schmerz wurde größer und größer, bis er zu etwas anderem wurde . . .

In einem klugen Buch zu lesen, daß Vampirismus eine sexuelle Metapher ist, ist eine Sache. Das hier war eine ziemlich andere.

Ich wußte nicht mehr, was ich fühlte. Vor meinen Augen war rot und schwarz und ich merkte, wie das Leben mich verließ, wie ich schwächer und schwächer wurde. Sie beherrscht sich nicht, dachte ich, sie bringt mich um. Es bedeutete mir nichts. Ich glitt hinüber in die Dunkelheit.


Eine Stimme rief mich, eine fremde, angenehme Stimme. Ich war noch nicht halb wieder da und merkte schon, daß es mir außerordentlich mies ging. Ich war in kaltem Schweiß gebadet und klapperte, mir war übel und alles tat mir weh.

"Lebst du?" fragte die Stimme.

Mit Mühe brachte ich die Worte hervor. "Ja. Leider."

"Es tut mir leid", sagte die Stimme. Malenka? Sie klang anders. "Jetzt komm, alte Hexe, wir müssen hier verschwinden."

So groggy konnte ich gar nicht sein, daß mir ein Vorschlag, sich abzusetzen, nicht eingeleuchtet hätte. Ich wollte die Augen öffnen und merkte, daß ich sie schon offen hatte. Hm. Nicht gut. "Ganz meiner Meinung", sagte ich und war überrascht wie normal meine Stimme klang. "Nur eine Minute oder zwei, damit ich mich wieder zusammensammeln kann, ja?"

"Ja. Es tut mir wirklich leid. Ich wußte nicht -- ich hatte keine Ahnung, wie es sein würde."

Willkommen im Club. Ihre Stimme schien von weit her zu kommen. Ich nahm meine ganze Willenskraft zusammen, ertastete die Wand und stellte meine Beine dran hoch. Mein Blick klärte sich. Ich sah Malenka. Wenn sie vorher eine Schönheit gewesen war, war sie jetzt umwerfend. Sie strahlte vor dunkler Glorie und sah fast lebendig aus -- lebendiger als ich wahrscheinlich. Ich schätzte meinen Zustand ab. Katastrophal. Ich würde diese Nacht nirgendwo mehr hingehen. Und morgen auch nicht.

"Ich kann dich tragen", sagte Malenka. "Aber erst werde ich mich um dieses Schwein von einem Kerkermeister kümmern." Sie öffnete die schwere, verriegelte Tür ohne sichtbare Anstrengung. Ich versuchte, den Kopf zu drehen, um etwas zu sehen. Der reißende Schmerz in meinem Hals schob meiner Neugierde einen Riegel vor. Reflexartig hob ich die Hand zu der Stelle und spürte, wie klebriges Blut durch meine Finger sickerte. Panik fiel mich an wie ein wildes Tier. Es dürfte nicht mehr bluten. Ich preßte die Hand auf die Wunde, aber mein Arm war zu schwach. Die Panik überwältigte mich. Ich sah mich auf dem Boden dieses miesen Kerkers liegen und verbluten. Ich wollte schreien, aber dazu hatte ich nicht die Kraft.

Jemand anders schrie, ein Mann, in Grauen und Todesangst. Den Kerkermeister hatte sein Schicksal ereilt. Sein Schrei durchbrach meine Panik. Ich konzentrierte mich darauf, meinen Kreislauf zu stabilisieren und das Adrenalin runterzufahren. Die Wunde blutete weniger. Immer noch gefährlich, aber ich schätzte, daß ich noch zehn Minuten bei Bewußtsein bleiben würde. Ich brauchte einen Verband, irgendetwas. Infektionen waren für mich kein Problem. Aber es gab nichts. Dreckiges Stroh taugte nichts, und ich war zu schwach, um Fetzen aus meinen Klamotten zu reißen.

Malenka würde wiederkommen. Aber es war wichtig, mir selbst zu helfen. Malenka war eine Verbündete, keine Freundin. Sie war gefährlich, und gefährlichen Wesen gegenüber sollte man sich nicht schwach zeigen.

Das entschied die Sache, Ich gab den Versuch auf, meine Muskeln zur Aktivität zu zwingen, sondern versenkte mich in meinen Körper, meinen Herzschlag, das Kreisen des Blutes in den unverletzten Adern. Ich ließ das Bewußtsein der Wunde am Rand meines Fühlens zu und machte dann den Sprung: Visualisierte meinen Hals heil und unversehrt, übertrug das Bild, das ich sah, auf mein Fühlen. So war es richtig. So war es seit über fünfhundert Jahren gewesen. So sollte es sein.

Chières Magie beruht darauf, daß sie weiß, wie und warum Dinge funktionieren. Meine Magie klappt am besten, wenn ich weiß, wie Dinge sein sollen. Elorie, die einzige, mit der ich darüber sprach, meinte, es sei völlig absurd und völlig vernünftig, daß ausgerechnet ich, die ich so große Schwierigkeiten habe, an etwas zu glauben, nur mittels fest-dran-glauben zaubern kann.

In dieser Nacht war es leicht, zu glauben. Das Blut hatte aufgehört zu fließen. Die Haut über der Drosselvene war weich und glatt und heil.

Malenka kam zurück. Das Blut an ihren Lippen sah im Mondlicht schwarz aus.

"Nimm eine Serviette", sagte ich. "Was hast du mit ihm gemacht?"

"Nicht viel mehr als mit dir. Ich wußte nicht, daß Leben so zerbrechlich ist. Ich hatte nicht vor, ihn so schnell zu töten, und . . . ", sie schüttelte den Kopf und sah verwirrt aus.

"Wie war das mit abhauen?" fragte ich.

"Ja. Kannst du gehen?"

Ich nahm die Beine von der Wand. Langsam, Tanien, langsam. Als mir nur noch mäßig schwindlig war, hockte ich mich auf die Knie. Gleichmäßig atmen. Mir war übel. Ich würde es nicht schaffen. Malenka schaute mir fasziniert zu. Ich schaffte es in eine knieende Position, suchte mit den Fingern Halt in den Mauerritzen. Ein Fuß auf den Boden. Aufstehen. Ich würde es nicht schaffen. Aufstehen hieß, fliegen, wie Ikarus. Malenka sah mir zu wie ein gelangweiltes Kind dem verzweifelten Strampeln eines auf den Rücken gefallenen Käfers. Sie hatte mich nicht getötet, aber ich glaubte nicht mehr, daß sie mir helfen würde. Ich zog mich mit beiden Händen an der Wand hoch. Mein Magen drehte sich um. Mein Kopf wurde leicht. Ich spuckte Galle, ich hatte nichts im Magen, um es auszuspucken. Aber schließlich stand ich. Graue Schlieren waberten über Malenkas perfektes Bild. Der Raum war ein Schiff im Sturm. Atmen. Gleichmäßig atmen. Ich merkte, daß ich immer noch an die Wand gelehnt stand. Vorsichtig ließ ich sie los. Malenka sah mich an. Ich schenkte ihr ein zähnefletschendes Grinsen und machte einen Schritt auf sie zu. Und fiel. Der Raum zog sich unter mir weg, der Boden stürzte auf mich zu.

Ehe er mich traf, spürte ich, daß ich aufgefangen und gehalten wurde. Malenkas Gesicht war über meinem. "Heilige Mutter Gottes", flüsterte sie, "kannst du nicht um Hilfe bitten, alte Hexe?"

"Nein", sagte ich und blendete wieder aus.


Teile dieser Nacht flackern noch wie Alptraumfetzen durch meine Erinnerung. Die Hütten in der Dunkelheit. Mondbeschienene Berge, die Gipfel schwarz gegen den Nachthimmel. Der Schrei eines Mannes. Feuer. Kaltes Lachen.


Die Sonne weckte mich. Sie stand schon hoch, hatte den Morgennebel weggebrannt und heizte die Berge auf. Ich war auf einem Berghang. Weit unten sah ich das Dorf liegen. Die Sonne brannte auf meiner Haut und ich war unglaublich durstig. In der Nähe rieselte Wasser zwischen Steinen. Ich wollte mich bewegen und konnte es nicht. Die Erinnerung an den vergangenen Abend kam wieder. Erst hielt ich es für die Erinnerung an einen Traum und suchte nach wachen Erinnerungen. Ich fand welche. Und sie wiesen darauf hin, daß es kein Traum gewesen war.

Das Rieseln des Wassers machte mich wahnsinnig. Wenn ich vergangene Nacht hatte stehen können, sollte ich jetzt fähig sein zu kriechen.

Es waren vielleicht zwei Meter bis zu dem winzigen Bach. Ich glaube, ich brauchte eine halbe Stunde um hinzukommen. Das Wasser war eiskalt. Ich trank vorsichtig, ließ mir das Wasser über die Hände laufen und kühlte mein Gesicht. Ich fühlte mich fiebrig, aber meine Beine waren so kalt als gehörten sie nicht zu mir.

Wenigstens mein Verstand funktionierte. Ich sah, daß ich im Schatten eines Busches unter einer Decke gelegen hatte. Erst als die Sonne weitergewandert war, hatte sie meine Arme und Schultern und mein Gesicht voll getroffen. Vermutlich hatte ich einen Sonnenbrand. Auch das noch. Ich beeilte mich, wieder in den Schatten zu kommen.

Jetzt, wo ich etwas getrunken hatte und mir den Kopf gekühlt, konnte ich mich schon besser bewegen. Ich erholte mich schnell. Natürlich tat ich das.

Ich holte mir die Wolldecke und wickelte mich ein. Schatten hin oder her, ich brauchte einen hohen Lichtschutzfaktor, und die Wärme war willkommen. Unter dem Busch fand ich einen zugedeckten Korb. Er enthielt weißes Brot, Früchte, Käse und einen Schlauch mit verdünntem Wein. Daneben lag eine einfaches schwarzes Kleid. Ich aß ein wenig, war aber nicht in der Lage, mich umzuziehen, und hielt Wein für keine gute Idee.

Ich richtete es mir gemütlich ein und machte dann eine Bestandsaufnahme. Tanien Telcontie, weiblich, weiß (hm -- eher rötlich), fünfhundertfünfundvierzig Jahre, hunderteinundsiebzig Zentimeter, fünfzig Kilo (hoffentlich noch), schwanger im vierten Monat mit einer (gottseidank immer noch) gesunden Tochter. Mit Kratzern, blauen Flecken und Striemen gemustert, zwei angebrochene Rippen rechts (wo kamen die her?), sonnenverbrannt, fiebrig, mit einem Blutdruck irgendwo bei scheintot.

Schlimm genug, aber nicht lebensgefährlich. Inzwischen war es Nachmittag. Ich beobachtete das Dorf. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Malenka in der Nacht mindestens zwei Männer getötet. Sie mußte ganz schön hungrig gewesen sein. Oder wütend. Ich an ihrer Stelle wäre wütend.

Erst jetzt dämmerte mir langsam, was für Glück ich gehabt hatte. Ich hatte die Mißhandlungen, die das Mädchen, das Malenka gewesen war, getötet hatten, mit nur relativ leichten Verletzungen überstanden, hatte Malenka getroffen, ohne deren Hilfe ich immer noch in den Klauen dieser sadistischen Ungeheuer wäre, und das Treffen überlebt. Das war wohl die Art von unverschämtem Glück, das man braucht, um eine wirklich alte Hexe zu werden.

Über dem Dorf lag eine bedrückte Stimmung. Grüppchen bildeten sich und lösten sich bald wieder auf. Nur wenige Boote waren ausgefahren. Suchtrupps wurden keine ausgeschickt.

Ich verdöste den langen, langen Nachmittag. Mies ging es mir immer noch, und das Fieber zeigte mir seltsame Bilder.

Der Abend kam und mit ihm die Kälte. Noch strahlte der Stein Hitze ab. Wie lange? Der Mond ging auf. Konnte ich hierbleiben? Konnte ich gehen? Ich spürte meine Beine wieder, aber hieß das, daß sie mich tragen würden?


Malenka war da, ohne daß ich sie kommen hörte. "Gott sei gepriesen, du lebst", sagte sie. "Ich hatte Angst, dich hier zurückzulassen, aber es wurde Tag. Wie geht es dir?"

"Gut genug um zu verstehen, was für ein Glück ich hatte. Im Moment kann ich klar denken, aber am Nachmittag hatte ich Fieberanfälle. Mir ist kalt, aber ich spüre meine Beine wieder."

"Kannst du laufen?"

"Ich weiß nicht."

"Du wirst es müssen. Diese Nacht wird keiner sein Haus verlassen, aber wenn sie morgen früh sehen, was ich angerichtet habe, werden sie suchen. Mich werden sie nicht finden, aber du mußt fort sein, ehe die Sonne aufgeht."

Na wunderbar.

"Noch nicht", sagte Malenka. Sie begann, trockene Zweige zu sammeln.

"Wie geht es dir?" fragte ich.

Malenka beschäftigte sich damit, ein Feuer anzuzünden und gab keine Antwort. Ich wartete. Schließlich sagte sie: "Ich fühle mich sehr stark. Ich fühle mich wie die Nacht selbst. Wie ein Tiger. Ich bin hungrig nach Blut -- und nach Rache. Ich versuche, meine Möglichkeiten zu begreifen und sehe keine Grenze bis auf den Sonnenaufgang. Ich habe ein Leben ohne jede Wahl gelebt. Ich gehörte nie mir. Und jetzt bin ich tot und gesetzlos, und es ist mir egal, was die Nachbarn denken, und niemand kann mich halten." Die Flammen loderten auf und beleuchteten ihr Gesicht. "Und", sagte sie, leiser, "mir wird übel, wenn ich töte. Ich hasse mich dafür, mit so einer Freude Leben zu vernichten. Mir wird schlecht vom Geschmack des Blutes, wie zu süßer, geronnener Wein, es steigt mir zu Kopfe und macht mich fiebrig und krank. Endlose Jahre der Dunkelheit liegen vor mir, und irgendetwas in mir weint und will die Sonne sehen."

Ich hatte meine eigenen Erinnerungen daran, wie ich die Jagd gehaßt und geliebt und gebraucht hatte. Ich nickte. "Ich kenne diese Widersprüche . . . aus der Zeit, wo ich anfing zu werden, was ich heute bin."

"Hört es auf?"

Ich überlegte. "Man lernt, damit zu leben. Aber -- nein. Es hört nie auf. Nicht wirklich."

"Gut", sagte sie. "Denn wenn es aufhören würde, wehzutun, wäre ich ganz und gar ein Ungeheuer."

Sie stellte einen Topf auf das Feuer. Ich döste wieder ein.

Als ich aufwachte, roch ich Suppe. "Du solltest das essen", sagte Malenka.

Nichts lieber als das! Ich schaffte es, mich ohne Hilfe aufzusetzen. Vorsichtig probierte ich einen Löffel Suppe. Gut.

"Ich hab' ja schon 'ne Menge erlebt", sagte ich, "aber ein Vampir als Krankenschwester, das haut den stärksten Eskimo vom Schlitten."

"Ich möchte, das du lebst, daß du entkommst, und daß es dir gutgeht", sagte sie.

Ich glaube, daß ich verwundert guckte.

"Du sagtest", fuhr Malenka fort, "du wolltest, daß ich existiere. Ich habe das nicht verstanden . . . Aber jetzt möchte ich, daß du existierst, daß du lebst, du alte Hexe, deren Blut nicht wie geronnene Süße schmeckt sondern wie der Frühling, wie der Tag, an den man am liebsten zurückdenkt . . . "

Ich war überrascht und gleichzeitig verstand ich. Vampire trinken nicht nur Blut. Sie trinken Leben. Und das Leben eines Streuners, einer uralten Hexe, einer Unsterblichen -- mein Leben: es erschöpft sich nicht, und es mochte so schmecken, wie es sich anfühlte, wenn ich darüber nachdachte, wild und groß, und etwas Besseres gibt es nicht.

"Hätte ich dich -- oder jemanden deiner Art -- eher getroffen . . . Vielleicht hätte ich ein bißchen von dem gesehen, was ich jetzt sehe. Vielleicht hätte ich angefangen, mein Leben zu leben."

Sie schwieg, während ich die Suppe verschlang.

"Vielleicht werde ich eines Tages mehr von meiner Art machen. Ich glaube, ich weiß, wie. Aber wenn du zustimmst, Tanien, dann soll Frieden sein zwischen deiner Art und meiner."

"So soll es sein", sagte ich und hob die Hand. Sie schlug ein und ihr Griff war sehr vorsichtig.

"Und", sagte sie, "wenn du Hilfe brauchst . . . Ich werde da sein. Wenn ich kann."

Ich mußte lachen. Das hier war großartig. Abgefahren. Gut.

Malenka löschte das Feuer. "Es ist nach Mitternacht. Die Flut erreicht bald ihren höchsten Stand. Du mußt gehen."

Ich schaffte es auf meinen eigenen Beinen bis zum Hafen.

"Kannst du segeln?" fragte Malenka.

"Ein wenig. Es muß reichen."

"Wir haben Ostwind. Bleib' vor dem Wind bis zum Festland."

Mit ihrer Hilfe wählte ich eine Nußschale aus, gut gebaut und leicht zu segeln. Malenka warf mir ein umfangreiches Bündel ins Boot. Wasser. Nahrung. Eine Plane gegen die Sonne und eine Decke gegen die Kälte. Ein paar Silbermünzen.

Während ich das Bündel sichtete, fiel mir noch etwas ein. "Eine Frage noch, Malenka."

"Ja?" Sie klang beunruhigt.

"Ich frage mich die ganze Zeit . . . was, bei der uralten Nacht, haben sie mir eigentlich vorgeworfen, als sie mich verknackten?"

Malenka starrte mich überrascht an. "Das weißt du nicht?"

"Ich habe keine Ahnung!"

"Es hieß, du hättest die Tochter des Bürgermeisters durch Zauberei und unflätige Lieder zu ungebührlichem Verhalten verführt."

"Was?" Ich schüttelte den Kopf. "So ein Blödsinn! Ich kenne die Tochter des Bürgermeisters nicht einmal! Wer soll denn das sein?"

Malenka lächelte traurig. "Ich."

Die Flut stand hoch. Ich konnte fahren. "Viel Glück", sagte ich. "Mach's gut."

Sie nickte. "Lebewohl, Tanien."

Und ich ruderte hinaus, und das Boot trug mich auf die weite freie See unter dem Mond. Ein stetiger Ostwind blähte die Segel, als ich meine Heimreise begann.

ENDE


      © inge, 1995


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