Pegasus


Ich kannte den Namen des Pferdes nicht. Bei mir nannte ich es Pegasus. Es zog den Karren des Lumpensammlers, der ein böser alter Mann war. Unsere Mütter sagten uns, er nehme die unartigen Kinder mit, und in der Papiermühle am Ende der Straße würden ihre Knochen zusammen mit den Lumpen zu feinem, weißen Papier gemahlen.

Pegasus war ein blaues Pferd, so blau wie der Himmel, den man an manchen Tagen hoch und fern über den Straßenschluchten sah. Den Leuten war seine Farbe egal. Er war nur das Pferd, das den Karren des Lumpensammlers zog.

Eines Morgens rannte ich über den Hof der Papiermühle. Es war eine Abkürzung zur Schule, und ich hatte es sehr eilig, denn ich hatte verschlafen. Vom Kirchturm schlug es gerade acht, als ich Pegasus dort stehen sah. Er sah grau und unglücklich aus. Ich ging zu ihm. "Armer Pegasus", sagte ich, "armer blauer Pegasus." Ich umarmte ihn und streichelte seine Nase. Dann sprach er. Zuerst war ich überrascht, aber natürlich konnte ein blaues Pferd auch sprechen. "Mädchen", sagte er, "kannst du mir helfen? Ich habe mich verlaufen und der Lumpensammler hat mich gefangen und vor seinen Karren gespannt. Ich komme aus dem Land der Roten Berge, weit, weit fort von hier, wo meine Herde über die weiten roten Wiesen galoppiert. Ich möchte so gerne nach Hause. Kannst du mir helfen?"

"Was muß ich tun?" fragte ich.

"Mache mich los von diesem Karren", sagte Pegasus, "und öffne das Tor!"

Ich tat das, und wir beide gingen auf die Straße hinaus.

"Und nun?" sagte ich.

"Wir müssen zur Hexe des Nordwinds gehen", sagte Pegasus. "Sie ist die älteste aller Hexen, und nur sie kann mir den Weg nach Hause zeigen."

Viele Tage und Nächte wanderten wir durch die Straßen der Stadt, bis wir in eine Gegend kamen, wo die Häuser aus schwarzem Eis bestanden. Auf dem Dach des größten Hauses wohnte die Hexe des Nordwinds. Es war bitterkalt dort oben. Die Hexe hatte das Gesicht eines Kindes und trug ein Kleid aus Rauhreif.

"Was willst du?" fragte sie mich.

"Das hier ist Pegasus", sagte ich. "Er ist mein Freund und er hat sich verlaufen. Kannst du ihm sagen, wie er nach Hause zu den Roten Bergen kommt?"

Die Hexe sah Pegasus an. "Blaues Pferd", sagte sie, "was gibst du mir, wenn ich dir den Weg zeige?"

"Oh Hexe des Nordwinds", sagte Pegasus, "ich habe nichts, was ich dir geben könnte. Aber meine Mutter ist Königin im Land der Blauen Pferde, und wenn du mir hilfst, wird sie dich belohnen."

Die Hexe lachte. "Ach, blaues Pferd", sagte sie, "weißt du denn nicht, wie viele Jahre vergangen sind, seit mein Wind dich in diese Stadt trug? Tausend und mehr Jahre sind es gewesen, und noch einmal so lange wirst du hierbleiben, wenn du meinen Preis nicht bezahlen kannst!"

Pegasus weinte blaue Tränen. "Aber ich habe doch nichts", sagte er.

Die Hexe lächelte böse. "Dann gib mir das Mädchen, das mit dir gekommen ist."

"Nein", sagte Pegasus. "Sie ist meine Freundin."

"Dann wirst du nie wieder nach Hause kommen", sagte die Hexe.

Pegasus senkte den Kopf. Sein Tränen gefroren auf dem Boden zu blauen Eisedelsteinen, die im Licht funkelten. Da fiel mir etwas ein.

"Alles wird gut", flüsterte ich Pegasus ins Ohr. Dann sammelte ich die gefrorenen Tränen auf und trat vor die Hexe. "Hexe, böse Hexe des Nordwinds!" rief ich. "Pegasus gibt dir diese Edelsteine, wenn du uns nach Hause bringst!"

Die Hexe sah die Juwelen und ihre Augen leuchteten. "Für diesen Schatz, blaues Pferd", rief sie, "sollst du bekommen, was du dir wünschst! Folge nur meinem Wind, er wird dich nach Hause tragen!"

Pegasus reckte und streckte sich, und aus seinem Rücken brachen Flügel hervor. Sie waren gewaltig und schimmerten in hunderterlei Blau und Silber, als er sie ausbreitete und über das Dach galoppierte bis zum Rand und weiter. Der Wind fing ihn auf, und mit wenigen Schlägen seiner mächtigen Flügel stieg Pegasus höher und höher, der Sonne zu, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte.

"Und du, Kind", sagte die Hexe des Nordwinds, "du solltest schlafen."

Ich erwachte in meinem Bett. Draußen heulte der Nordwind und blies den Winter in die Stadt. Am Morgen fiel Schnee. Ein Falbe zog den Karren des Lumpensammlers. Pegasus sah ich nie wieder.

 
 
 

© inge, 1994
 
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