Titel: IM LAND DER BLINDEN eine satirische Fanfiction im Perry-Rhodan Universum Autor: inge E-mail: lyorn@gmx.de LJ: http://lyorn.livejournal.com Web Page: http://home.foni.net/~lyorn/ Klassifizierung: Gen, FSK 12, Satire/Abenteuer/Drama Wörter: ca. 41.000 *** Disclaimer: Diese Geschichte spielt im Universum der Perry-Rhodan-Serie. Weder Setting noch Kanon-Charaktere gehören in irgendeiner Form mir, noch mache ich eine müde Mark damit. Im Verlauf der Geschichte sind einige Textfragmente zitiert, die auch alle (leider) nicht von mir sind, sondern von T.S. Elliot ("The Hollow Men", 1925), bzw. Merle Travis ("16 Tons", 1947) Nur damit das klar ist. *** Warnung: Während die Geschichte in andrer Leuts Universum spielt, ist die Hauptperson kein Kanon-Charakter. Wen so etwas stört, der wird mit dieser Story wahrscheinlich nicht glücklich werden. *** Anmerkungen: Am Ende der Geschichte. ############################ # TEIL 1: LOMATIA, DIE ERSTE ############################ ### 1. Kapitel ### Lomatia war in der zweiten Phase besiedelt worden, und war nach allem, was man hörte, ein wohlhabender, angenehmer Planet, auf dem die Kunst einen hohen Stellenwert hatte. Nicht wie Callies allerdings, wo Ästhetik eine alles durchdringende Lebensart war, und auch nicht wie Reyan, die meritokratische Künstlerkolonie, die von den meisten nicht dort Ansässigen als "exaltiert" belächelt wurde. Lomatia produzierte Gebrauchskunst, Filme, TriVids, Industriedesign, Romane, populäre Musik: gefällige, vergnügliche, clevere, interessante Sachen, die unweigerlich dem Publikum besser gefielen als der zeitgenössischen Kritikergeneration. Es blieb immer der nachwachsenden Generation überlassen, dreißig Jahre alte lomatianische Epochen als "Kunst" oder gar "Kult" zu rühmen, und in schönster Kontinuität die aktuelle Epoche zu verreißen. Lomatia hatte eine spektakulärere Landschaft als Reyan, mehr warme, sonnige Klimazonen als Callies, eine Million Anwälte, die rastlos zu klären versuchten, wer bei wem abgeschrieben hatte, zwei Millionen Starlets, drei Millionen Klatschreporter, die jeden Schritt besagter Starlets verfolgten wie ein Spielsüchtiger den Weg der Roulettekugel, und eine jener hellen, weißen Sonnen, die bei Photographen so beliebt sind, weil sie alle Farben übernatürlich klar und leuchtend erscheinen lassen. Diese Sonne war der Anlaß dafür, daß sich mein Schreibtisch zur Zeit unter Berichten, Prospekten, Daten, Artikeln und sonstigem über Lomatia bog. *** Vor vier Jahren hatte die Luna Space Cartography Foundation die 28. Auflage ihres Sonnenatlas' herausgegeben: Koordinaten, Spektrum, physikalische Daten und Photos aller Sonnen besiedelter oder bewirtschafteter Systeme des Imperiums und der wichtigsten außerimperialen Systeme. Der LSCF Atlas war ein Standardreferenzwerk, aus dem Generationen von Schülern die Astrographie des Imperiums gepaukt hatten, und der in jeder interstellaren Behörde des Imperiums stand. Vor drei Monaten hatte Pictures ltd. assoc. mit Sitz auf Lomatia die LSCF verklagt, weil sie ein Bild von Lomatias Sonne, Tunam, abgedruckt hatten. Das war ein bisher nie gehörtes Geschehen: Die Protestbriefe, die nach dem Erscheinen jeder neuen Auflage des Atlas' bei der Foundation eingingen, stammten bisher ausschließlich von den provisorischen Regierungen nagelneuer oder wilder Kolonien, die sich beschwerten, daß ihre Sonne im Atlas *nicht* berücksichtigt wurde, und daraufhin von der Foundation einen höflichen Formbrief erhielten, daß man diese Auslassung zutiefst bedauere und selbstverständlich in der nächsten Auflage korrigieren werde. Die LSCF schickte also eine ihrer Redakteurinnen, eine Eliza Montoya, nach Lomatia, um herauszubekommen, was die Leute da eigentlich wollten. Vor zehn Wochen und drei Tagen wurde Eliza Montoya beim Verlassen des Raumhafens von Lomatia von den lokalen Behörden verhaftet. Der Brief von der LSCF, der vor gut zwei Monaten sowohl beim terranischen Wissenschafts- wie auch beim Handelsministerium einging, war, wie man unter Diplomaten sagt, "scharf formuliert". Die Foundation sprach von "Geiselnahme" und "Erpressung", und drohte, in der Art empörter Kartographen und Historiker, Lomatia aus den Annalen zu streichen und dem Vergessen der Nachwelt anheimzugeben. Eine Anfrage wurde an die Rechtsabteilung der Kolonialbehörde gestellt, die sich wand und schließlich unglücklich zugab, daß Lomatia gemäß der Imperiumsrahmenverträge völlige Rechtshoheit auf seinem Territorium habe, solange nicht die in den gleichen Rahmenverträgen garantierten Menschen- und Bürgerrechte davon berührt wurden. Die Foundation war nicht amüsiert, stellte Anfragen zu grundlosen Verhaftungen, unzugänglichen Prozeßunterlagen und konsularischer Betreuung bzw. deren Fehlen, Ungereimtheiten traten auf, und vor fünf Wochen schickte die Kolonialaufsicht einen Inspektor nach Lomatia. *** Und damit wurde die ganze Sache mein Problem. Als vor hundertzwanzig Jahren der Frieden ausgebrochen war, hatte ich mich für Atlans neue "United Stars Organization" gemeldet, aber Mercant weigerte sich, mich gehen zu lassen. Ich argumentierte, was für eine Verwendung denn die Abwehr in dieser schönen neuen Zeit für eine Halbtelepathin hatte, und Mercant lächelte säuerlich und versprach mir, er werde sich schon etwas einfallen lassen. Es stellte sich bald heraus, daß einige Kolonien angesichts des derzeitigen Mangel an galaktischen Kriegen bald zu dem Schluß kamen, daß sie nicht zufrieden mit der weitgehenden Eigenständigkeit waren, die Terra etablierten Kolonien ließ, sondern lieber ihren eigenen Laden aufmachen wollten. Und für gewöhnlich waren sie dabei so inkompetent, daß Menschen, Material und Reputationen zu Schaden kamen. Also leistete die SolAb sich seit einiger Zeit den Luxus, eine lächerlich überqualifizierte Agentin (mich) hinter einen Schreibtisch der Kolonialaufsicht zu setzen. Mein Auftrag war es, ein genaues Auge auf jedes Gerücht und jede Unregelmäßigkeit zu haben, die von der Kolonialaufsicht zwar bemerkt, aber für gewöhnlich kommentarlos unter "sonstige Vorgänge" abgelegt wurden. Innerhalb von dreizehn Jahren hatte ich es bis zur Leiterin des Bereichs "Operations" gebracht, und nichts anspruchsvolleres zu tun, als Inspektoren zu beaufsichtigen, die ihrerseits lokale Wahlen überwachten, die Einhaltung von Gesundheitsstandards überprüften, und darauf achteten, daß die Korruption auf den Randwelten nicht überhand nahm. *** Der Name des Inspektors, den der zuständige Sektionschef nach Lomatia geschickt hatte, war Ramsey Jefferson, und wenn ich ihn je auf einer Büroparty oder bei einem offiziellen Anlaß getroffen hatte, erinnerte ich mich nicht daran. Auf dem Identi-Holo in seiner Akte sah man einen nervösen Zwanzigjährigen mit einem schlechten Haarschnitt und einem blassen, aufmerksamen Gesicht. Noleyn, mein Rechercheassistent, hatte ein neueres Photo von Jefferson besorgt, ein altmodisches Flachbild. "Bring' mir ein Privatbild von ihm", hatte ich gesagt, "Ich will sehen, was für einer das ist." Das Photo zeigte Jefferson im Sommerurlaub 2238, an der Hand seine kleine Tochter. Ein jungenhaftes Gesicht, hellhäutig, mit kurzen, hellbraunen Haaren und hellen Augen, blau oder grün oder grau. Etwas schlaksig, auf dem Bild trug er einen Freizeitanzug und blinzelte in die Sonne, hinter sich das Meer. Auf Nase und Wangenknochen zeigten sich leichte Spuren eines Sonnenbrandes. Das Mädchen neben ihm war fünf oder sechs Jahre alt, mit dem feierlichen Gesichtsausdruck, den manche Kinder beim photographiertwerden aufsetzen, hellblonden Zöpfen und puderweißem Sand auf den bloßen Knien. Sie hieß Viviane. Ramsey Jefferson, 32 Jahre alt. Geboren in Nordengland, Terra, in einfachen Verhältnissen, Verwaltungsfachschule, Studium auf Stipendium, Frau, Kind, Eigenheim, Lebensversicherung, Hypothekenschulden, aufstrebend, gewissenhaft, hatte zwei Wochen damit verbracht, seine Hausaufgaben in Sachen Lomatia zu machen, und hatte diese sorgfältig abgeheftet und seinem Sektionschef übergeben, ehe er den Linienflieger nach Lomatia genommen hatte um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Das Material, das derzeit meinen Schreibtisch unter sich begrub, verdankte ich größtenteils ihm. Ein vorbildlicher Mitarbeiter. Ich hätte wirklich gerne mit ihm gesprochen. Leider ging das nicht. Jefferson war am 2. März 2239 in Lomatia Space Port aus dem Linienflieger gestiegen, am 3. März, 10 Uhr vormittags lokaler Zeit, auf Lomatia verhaftet worden und am 11. März wegen terroristischer Aktivitäten zu lebenslangem Arbeitslager unter verschärften Bedingungen verurteilt worden. Am 14. März hatte der Sektionschef bei mir vor der Tür gestanden und verlangt, daß ich sofort etwas unternahm. Am 19. März wußte ich, daß es nichts gab, was die Leiterin von Operations in dieser Situation tun konnte, außer dem Vorbild der LSCF zu folgen, ein Amtshilfeersuchen ans Außenministerium zu stellen und zu hoffen, daß die Diplomaten ihren Job taten. Außerdem hatte ich in einem Anfall kleinlicher Bosheit dem gesamten mittleren Management verboten, in irgendwelchen repräsentativen Angelegenheiten nach Lomatia zu reisen, was insbesondere Duran vom der Kulturförderung schwer ankam. Aber Lomatia, unberührt von bürokratischem Mißfallen, mauerte, Terra war diplomatisch, Zeit verging, und je länger sich die Affäre hinzog, desto mehr piesackte mich der Gedanke, einen Inspektor auf einer Welt verloren zu haben, die laut Angaben des terranischen Auswärtigen Amtes weniger gefährlich war als der öffentliche Badestrand am Goshun-See in Terrania. Ich schickte meinen eigenen Stab los, um weitere Informationen zu sammeln. Auch das zog sich. Samantha, meine fleißigste Assistentin, war im Mutterschutz, und auf Noleyns Heimatplaneten war Winter, deswegen schlief er zur Zeit sechzehn Stunden am Tag. *** Inzwischen war ich eine Expertin auf dem Gebiet lomatischer Geschichte, aber neuere Infos mußte ich mühsam aus lückenhaften Klatschzeitungsarchiven herausfiltern. Interessant war ein Interview, das Jefferson mit einem Marsianer geführt hatte, der vor wenigen Monaten an einer Pauschalreise nach Lomatia mit Besichtigung der Soltar-Studios (die Hauptquelle für Actionfilme in diesem Quadranten) teilgenommen hatte. Hauptsächlich redete der Marsianer zwar von den Reizen der Gespielinnen seines Lieblings- Actionhelden, aber beiläufig erwähnte er, daß sie 'Schutzbrillen' tragen mußten, damit, so spekulierte er, sie nicht die neuesten Projekte des Studios 'ausspionierten'. Ich fragte mich, wie das funktionieren sollte und ob diese Studios keine guten, altmodischen Türen hatten, die man zumachen konnte, wenn Besuch kam. Eines stand fest, Lomatia verheimlichte etwas, und ich machte es zu meiner Aufgabe, es herauszufinden. Ich ersuchte um eine Audienz bei Mercant und wurde aufgefordert, am nächsten Morgen auf einer sicheren Leitung anzurufen. Ich konnte vielleicht einen selbstverliebten Hinterweltlerplaneten nicht dazu bringen, meine Anfragen zu beantworten, aber immerhin fand der Chef des terranischen Geheimdienstes kurzfristig Zeit, mit mir zu telefonieren. Balsam für's Ego, so etwas. Punkt acht Uhr am nächsten Morgen leuchtete der Holoschirm in meinem Büro auf. Das Signal für eine sichere Übertragung erschien und wurde kurze Zeit erschien eine Holoprojektion von Mercant im Zimmer. "Guten Morgen, Colonel Jamieson", begrüßte er mich. "Was hat die Kolonialaufsicht für ein Problem?" "Lomatia", sagte ich direkt. "Ah. Natürlich." Er wirkte amüsiert. Vermutlich wußte er genau, womit ich mir in den letzten Wochen die Laune ruiniert hatte. "Was interessiert Sie an diesem Fall so? Das ist ein Problem der Kolonialaufsicht." "Sir, ich *bin* bei der Kolonialaufsicht", betonte ich. "Natürlich. Aber vergessen Sie ihn Ihrem Eifer nicht Ihre Prioritäten. Ein wegen welcher Umtriebe auch immer verhafteter Inspektor auf einem Provinzplaneten ist keine Bedrohung für die Sicherheit des Imperiums. Lassen Sie mal die Diplomaten machen, die wollen auch etwas tun für ihr Geld. Es sei denn, Sie haben Grund zu der Annahme, daß Jefferson tatsächlich in ... umstürzlerische Aktivitäten verwickelt ist." "Ausgeschlossen", sagte ich. "Er ist nicht der Typ dafür." "Ist das Ihre professionelle Meinung?" "Ich habe keine professionelle Meinung. Ich bin Abwehragentin, keine Kriminalpsychologin." "Sie waren fünfzig Jahre lang bei der interterplanetaren Kriminalpolizei. Und vor längerer Zeit Sicherheitschefin des Imperators von Arkon -- durchaus erfolgreich, wie mir versichert wurde. Lassen Sie mich Ihre ... unprofessionelle Meinung hören." Ich hatte Wochen damit verbracht, über dieses Problem nachzudenken und mußte nicht lange überlegen. "Sir, zum Umstürzler zu werden, erfordert eine gewisse Leidenschaft, und Jefferson ist nicht der Typ Mensch, der von seinen Leidenschaften getrieben wird. Er arbeitet hart, ist stolz auf seine Kompetenz und das, was er erreicht hat, und strebt nach Sicherheit für sich und seine Familie. Wenn sein Stolz oder sein Bedürfnis nach Sicherheit enttäuscht werden, fällt er eher der Verzweiflung anheim als dem Zorn. Sein Verhalten in so einem Fall wird entweder eine internalisierte oder externalisierte selbstzerstörerische Form annehmen -- Suizid oder Drogenabhängigkeit auf der einen Seite, ein Amoklauf auf der anderen. Erst nach der Midlife-crisis, die ihn zu einer Neubewertung des Erreichten führen wird, wäre eine geänderte Ausrichtung seiner aggressiven Impulse denkbar." "Ausgezeichnet, Colonel. Es freut mich, daß das Imperium das Geld für ihre Ausbildung nicht verschwendet hat. Jetzt lassen Sie die ganze Sache mal ruhig angehen. Haben Sie nicht noch zwei Wochen Urlaub vom letzten Jahr offen?" *** "Ich denke, das war eine Aufforderung", sagte ich, als ich ein paar Stunden später bei Betty auf dem Sofa saß. "Natürlich war das eine Aufforderung", sagte Betty. Sie levitierte die Teekanne zu mir herüber und goß Tee ein. "Du kennst doch den Alten. Besser als irgend jemand anders, wahrscheinlich. Du bist schließlich diejenige, die seit zweihundert Jahren an die Abwehr ausgeliehen ist." "Ha. Und was tue ich? Schiebe Akten und schreibe Berichte, während ihr durch die Galaxis jettet und Abenteuer erlebt." Sie zuckte sie Schultern. "Nicht viel los mit Abenteuern zur Zeit. Keine großen wissenschaftlichen Entdeckungen, keine Vorstöße in neue Ecken der Galaxis, weil das unsere neuen Verbündeten nervös machen würde, keine Erstkontakte oder spannende Fremdwesen. Selbst ES verhält sich ruhig. Das spannendste, was wir im letzten Jahr hatten, war eine Millionärstochter, die ihre Jacht gegen einen instabilen Asteroiden gesetzt hatte und mit normalen Mitteln nicht rechtzeitig herauszubekommen war. Ich hätte nicht übel Lust, mich zur USO zu melden." "John würde dich nicht lassen", sagte ich. "Und Manoli würde junge Hunde kriegen." Ich überlegte und fügte hinzu, "Außerdem bist du doch die, die sich immer beklagt, wenn Leute auf sie schießen." "Es reicht ja, wenn eine von uns Commander Raymon Fango spielt und reihenweise Bösewichte verprügelt", sagte Betty. "Bestimmt hat auch die USO Jobs auf zivilisierten Schönwetterplaneten, wo es von berühmten Musikern, gutaussehenden Filmstars und reichen Produzenten nur so wimmelt." Sie seufzte versonnen. "Wen würdest du am liebsten treffen?" "Den Geist von Sean Connery". Ich trank meinen Tee aus und stand auf. "Ich geh' dann mal und reiche meinen Urlaub ein." "Bring' mir ein Autogramm von Samuel Ironstar mit, für meine Sammlung, ja?" *** Mein Urlaub wurde erwartungsgemäß genehmigt. Ich suchte mir eine Tarnidentität aus meiner Schublade, buchte für sie eine Schiffspassage mit Umsteigen und vier Tagen Aufenthalt auf Lomatia und schrieb einen Bericht an Mercant. Wenn ich auf Lomatia wegen was-auch-immer verhaftet werden sollte, würde Mercant mich schon rausholen -- und sei es nur, um mir im Detail zu erklären, was er von derlei Dummheiten hielt, und mich für die nächsten hundert Jahre ins Archiv auf Ultima Thule zu verbannen. ### 2. Kapitel ### Am 16. April trottelte Flora Lebowski, plophosische Studentin der Antropologie, auf das Linienschiff 'Andromeda'. Flora zeichnet sich durch einen wunderbaren Gleichmut gegenüber Marginalien wie Mode, Geld oder Fristen aus. Sie hat Geld, reist aber Touristenklasse. Sie sähe nett aus, wenn sie sich mal die Haare schneiden ließe und sich neue Klamotten kaufen würde. Sie ist inzwischen im 17. Semester. Ich sollte die Persona langsam mal stillegen, aber ich hänge an ihr. Die dreitägige Reise verbrachte Flora damit, das all-you-can-eat-Buffet zu plündern, ihre mitgebrachten Bücher zu lesen, und mit allen möglichen Leuten ins Gespräch zu kommen. Zwei junge Männer und ein älteres Ehepaar, Mr und Mrs Kahawi, würden ebenfalls in Lomatia umsteigen. Die Frau seufzte, daß Lomatia der langweiligste Planet war, den Gott geschaffen hatte. Ihr Ehemann sagte, sie brauchten ja diesmal den Raumhafen nicht zu verlassen. Die jungen Männer träumten davon, auf der Straße einsame Supermodels zu treffen. Um 21:15 Normzeit am 19. April sagte die freundliche Stimme des Schiffsinterkoms, daß wir uns jetzt im Anflug auf Lomatia befänden. Ich trottelte auf das Panoramadeck, um mir mal einen Überblick über den Planeten zu verschaffen, aber die Scheiben waren polarisiert. Zwei Stunden später stand ich in der Schlange zum Aussteigen, direkt hinter mir Mrs. Kahawi. Ich erwähnte die mangelnde Aussicht, und sie zuckte die Achseln. "Das ist schon seit Jahren so, Schätzchen. Wahrscheinlich verstecken sie in ihrem System eine extragalaktische Invasionsflotte." Sie lachte schrill über ihren eigenen Witz. Mir war diese Idee auch schon gekommen, aber nachdem ich tagelang die Navigationsschreiber aller Schiffe, die Lomatia anflogen, ausgewertet hatte, konnte ich sagen, daß sich die Invasionsflotte, falls vorhanden, verdammt gut versteckte. Trotzdem hatte ich noch nicht ganz Abschied von dieser Idee genommen. Sie hatte so etwas Vertrautes. Es war erst 19:00 lokale Zeit, als wir ausstiegen -- unser Schiff war zu spät dran. Wir wurden mit Shuttlebussen vom Schiff in die Ankunftshalle des Raumhafens transportiert: nicht ungewöhnlich. Aber diese verdammten Shuttles hatten keine Fenster. Die Halle des Raumhafens hatte keine Fenster. Das 'Pangalactica'-Schnellrestaurant hatte keine Fenster. Und die Fenster des Holiday Inn gingen auf die Arcologie des Raumhafens. Jedes für sich war nicht so ungewöhnlich. Aber als Ganzes genommen machte mich dieser Mangel an Fenstern äußerst nervös und fest entschlossen, bei der erstbesten Gelegenheit auf Erkundung zu gehen. Unglücklicherweise war meine Individualzeit nach Mitternacht, und bis ich die Zollformalitäten hinter mich gebracht hätte, wäre ich zu müde, um mich auf feindlichem Territorium zu bewegen. Wenn sie mich schon beim Verlassen des Raumhafens verhafteten, wollte ich wenigstens fit genug sein, ihnen davonzulaufen. Also nahm ich einen Schlafsarg im Budget-12 Hostel, notierte meine Beobachtungen und versuchte dann, telepathisch irgend etwas herauszubekommen. Aber das Hintergrundrauschen des Planeten erschien völlig normal: kein Krieg, keine Invasion, nur der Typ im Nachbarsarg hatte Liebeskummer. Ich schlief ein. *** Am nächsten Morgen stand Flora, fest entschlossen, das beste aus dem viertägigen Aufenthalt zu machen, mit ihrem Seesack, ihrer Lektüre, einer Kamera zum Anklipsen und einem unternehmunglustigen Grinsen an der Schlange beim Zoll. Große Schilder verkündeten, daß es verboten war, Aufzeichnungsgeräte auf den Planeten zu bringen. Was meinten die mit 'Aufzeichnungsgeräten'? "Tut mir leid, aber die Kamera können Sie nicht mitnehmen." Der Zollbeamte lächelte freundlich. "Aufzeichnungsgeräte sind auf Lomatia verboten." Flora war offenbar vor der zweiten Tasse Kaffee noch kein Homo Sapiens. "Aber das ist doch nur eine Kamera." "Jegliches Gerät, das zur Aufzeichnung von Bildern, Tönen oder Symbolen dient, darf nicht nach Lomatia eingeführt werden. Sind Sie das erste Mal auf unserem Planeten?" "Ja", sagte ich. "Ich warte auf mein Anschlußschiff, und wollte die Zeit nutzen, um die Studios besichtigen, ein bißchen Sightseeing und so..." Er lächelte immer noch. Vielleicht hatte er Krämpfe. "Für eine Besichtigung der Studios wenden Sie sich am besten an das Reisebüro am Raumhafen, oder an die Touristeninformation. Sehen Sie, wenn Sie sich noch nicht auskennen, dann gehen Sie erst mal da durch die linke Tür. Dort wird man Sie über sämtliche Vorschriften informieren. Sie können ihre Aufzeichungsgeräte aufbewahren lassen und sich ihr Schutzsensorium konfigurieren lassen." Er lächelte mich in Richtung der linken Tür und ich ging, schließlich warteten hinter mir Leute. Etwas nervös ging ich durch die Tür und erwartete halbwegs, dahinter ein schwer bewaffnetes Einsatzkommando zu sehen, das mich wegen offenen Tragens einer Kamera verhaften würde. Statt dessen kam ich in einen großen, hellen (fensterlosen) Wartesaal, wo man eine Nummer ziehen mußte und, bis diese aufgerufen wurde, durch hirnlose Illustrierte scrollen konnte. Ich fragte mich, ob Jefferson eine Kamera dabeigehabt hatte, und ob er sie verdeckt oder offen getragen hatte. Und was zum Teufel hieß 'Schutzsensorium konfigurieren'? Es dauerte nicht lange, bis meine Nummer aufgerufen wurde -- ich hatte die Illustrierte gerade eben erst zwei Mal durch. (Es stand nicht viel drin.) Ich ging durch eine weitere Tür in ein helles, fensterloses Büro, wo eine junge, gutaussehende Frau mit dem gleichen Zahnpastalächeln mich fröhlich begrüßte. "Willkommen, Frau Lebowski!" "Äh", sagte ich, von soviel Eifer leicht überwältigt. "Guten Tag." Das Namensschild am Revers wies die Frau als 'Mrs. Wu' aus. "Sie sind das erste Mal auf unseren einzigartigen Planeten", sagte Frau Wu enthusiastisch. "Ich freue mich, daß ich Ihnen dabei helfen kann, sich zurechtzufinden." Flora grinste fröhlich. "Vielen Dank!" Ich war pikiert. Frollein, wollte ich sagen, ich habe mich schon ohne Hilfe auf fremden Planeten zurechtgefunden, da hatten Ihre Großeltern sich noch nicht kennengelernt. "Also, was muß ich denn wissen?" "Nun, zum ersten", sagte Frau Wu, "ist der Gebrauch jeglicher unlizensierten und -zertifizierten Aufzeichnungsgeräte auf Lomatia verboten. Da wir Ihnen aber nicht ständig über die Schulter sehen wollen, verbieten wir die EINFUHR solcher Geräte -- wir wollen ja nicht, daß unsere Gäste sich durch Unachtsamkeit in Schwierigkeiten bringen." Ich nickte und guckte vermutlich kariert. "All ihre Aufzeichnungsgeräte können Sie hier abgeben", fuhr Frau Wu fort. "Wenn sie das Raumhafengelände wieder betreten, erhalten Sie sie selbstverständlich zurück. Wenn Sie es wünschen, können wir sie auch an eine Adresse innerhalb des Raumhafens schicken." Ich klammerte die Kamera von meinem Hemdkragen ab. "Nee, lagern Sie die nur ein." Frau Wu nahm die Kamera in Empfang. "Ist das alles?" Das hätte ich auch gerne gewußt. Ich sah sie fragend an. "Video- oder Holovidkamera?" Ich schüttelte den Kopf. "Musikband- oder -kristallabspielgerät?" Ich kramte meinen Miniplayer hervor. "Der hat aber keine Aufzeichnungsfunktion..." Sie musterte ihn. "Besser, Sie lassen ihn hier, es gibt da Modifikationen..." Ich kriegte den beunruhigenden Eindruck, daß baalol'sche Mysterienkulte mehr Sinn machten als lomatische Einfuhrbeschränkungen. "Wissen Sie was", sagte ich. "Ich packe einfach mal meine Taschen aus, und Sie kramen raus, was ich nicht mitnehmen darf." Gesagt, getan, und ich leerte meinen Krempel auf Frau Wus ordentlichen Schreibtisch. Sie unterzog alles einer genauen Inspektion, und behielt nicht nur meinen Miniplayer und meine Kamera, sondern auch meine Bücher, meine Musikkristalle, mein Tagebuch, meinen Notizblock, meinen Portacomp und meine gottverdammten Bleistifte. Ich wußte nicht, ob ich lachen oder eiligst in den Raumhafen zurückrennen sollte. Frau Wu interpretierte meinen Ausdruck von Panik falsch. "Machen Sie sich keine Sorgen. Mittels Ihres konfigurierbaren Sensoriums steht Ihnen rund um die Uhr, jeden Tag der Woche, ein individuelles multimediales Informations- und Unterhaltungsprogramm zur Verfügung. Die Gebühren werden auf der Stelle von Ihrem Kredit abgebucht, Sie haben keinerlei Umstände damit." Das verstand Flora. "Äh, ich wollte eigentlich nicht so viel Geld ausgeben..." Frau Wu litt unter dem gleichen Lächelkrampf wie der Zollmensch. "Es gibt eine kostenlose Version, die sich durch Einblendung von Werbung finanziert. Die Bildqualität ist ausreichend, allerdings haben Sie keinerlei Zugang zu geschütztem Material. Ich würde Ihnen die Version für zehn Soli am Tag empfehlen, die wird von Urlaubern gerne genommen. Sie gibt Ihnen Zugriff auf die meisten planetaren Sehenswürdigkeiten und eine beschränkte Auswahl an Musik und Videos." Interessant, wie schnell aus 'individuell' 'beschränkt' geworden war. "Dann gibt es natürlich", fuhr Frau Wu, die meinen Gesichtsausdruck entweder nicht bemerkt oder höflich übersehen hatte, fort, "noch die Möglichkeit einer persönlichen Abrechnung, bei der Sie das Sensorium flexibel konfigurieren können und für genau das bezahlen, was Sie tatsächlich konsumieren." Mir schwirrte der Kopf. Baalol'sche Mysterienkulte. "Sie können auch gerne eine Broschüre bekommen, die die Optionen erläutert", sagte Frau Wu. Ich nickte hoffnungsvoll. Sie holte einen kleinen Dataflash hervor. "Sie können es drüben an der Konsole lesen. Macht einen Soli." Ich schob einen Soli über die Theke, bekam den Datenflash und ging damit in den Warteraum zurück, wo die Konsole stand. Der Flash empfing mich mit einem Haufen farbiger, bewegter Hologramme und dramatischer Muzak. Die Lautstärke der Kopfhörer ließ sich nicht regeln. Grimmig konzentrierte ich mich und versuchte, mich durch das Affentheater nicht irritieren zu lassen. Der Haupttext war den üblichen kranken Gehirnen von Public Relations Abteilungen entsprungen, das Kleingedruckte den nicht weniger, aber anders kranken lomatischer Anwälte. Der Haupttext war aussagelos. Das Kleingedruckte war länglich. Ich hatte den Text gerade erst überflogen und versuchte jetzt, den zweiten von 23 Absätzen zu verstehen, als die Konsole schwarz wurde. Irritiert drückte ich auf ein paar Schalter. Eine Illustrierte erschien. Ich gab der Konsole einen Tritt, ergebnislos. Ich nahm den Chip heraus und setzte ihn wieder ein. Die Konsole begann zu piepen. Ich gab ihr noch einen Tritt. Eine schwere Hand fiel auf meine Schulter. Wenn ich eine Coverpersönlichkeit annehme, tue ich das richtig. Das ist nicht ganz frei von Risiken, wenn in manchen Situationen meine Reflexe nicht sind, wie sie sein sollten, aber generell ist es von Vorteil, wenn meine Reflexe nicht so sind, wie sie *nicht* sein sollten. Solveig hätte den Besitzer der Hand an die Wand geklebt. Flora fuhr erschreckt herum. Besagter Besitzer war ein Meter neunzig, breitschultrig, stiernackig, rotgesichtig und trug die Uniform eines lomatischen Sicherheitsdienstes. "Das Ding funktioniert nicht!" beschwerte sich Flora defensiv. "Ich hab' überhaupt nichts gemacht, es ist einfach schwarz geworden!" Der Gorilla war nicht ganz so blöd wie er aussah. Vielleicht hatte er auch Erfahrung mit solchen Fällen. "Dann müssen sie die Mietdauer für den Chip verlängern", sagte er. "Aber versuchen Sie nicht, die Zeitsperre zu umgehen, das sehen wir hier gar nicht gerne." Mysterienkulte. "Ich hatte es sowieso fast durch", sagte ich. Es war das, was Flora sagen würde. In meinen Gedanken schrieb ich "Dumme Touris abzocken, möglicherweise Korruption?" auf meine Liste der Dinge, die man Lomatia vorwerfen konnte. Wie es da so stand, wirkte es vertrauenerweckend normal, so als hätte man versucht, mir auf einem Basar eine noch nicht ganz durchgetrocknete Tonstatuette als präimperial zu verkaufen. Ich zog eine neue Nummer. Nach zehn Minuten kam ein Mann mittleren Alters in legerer terranischer Kleidung aus Frau Wus Büro gewankt. Er guckte wie ein Bedouine, der beinahe einen Sack Sand gekauft hätte, und ging in einem Tempo, das gerade eben noch nicht nach einer Flucht aussah, auf die Tür zum Raumhafen zu. Ich behielt ihn im Auge, bis er die Tür sicher hinter sich gebracht hatte. Frau Wu nahm den Dataflash entgegen. "Vielleicht ist er kaputt", sagte ich, "er ist mittendrin ausgefallen..." "Sie haben nur für eine Sichtungszeit von zehn Minuten bezahlt", sagte Frau Wu. "Es ist aber kein Problem, das zu verlängern." Flora sah sie mit großen Augen an. "Äh -- ich dachte, ich hätte die Broschüre gekauft", sagte sie. "Oh nein", sagte Frau Wu, und wie immer, wenn sie etwas besser wußte, wurde ihr Lächeln breiter. "Nein, sie haben den Chip gekauft -- der ist aber nichts wert -- und das Recht, die darauf befindlichen Daten für zehn Minuten zu konsumieren. Sehen sie, sie wollen doch auch, daß die Menschen, die Zeit und Arbeit darin investiert haben, diese Broschüre zu erstellen, dafür angemessen kompensiert werden." Wieder war ich erleichtert, Flora wie eine schützende Hülle um meine eigenen Gedanken zu tragen und mir nicht anmerken zu lassen, daß meiner Ansicht nach die angemessene Kompensation für die Leute, die dieses Machwerk verbrochen hatten, sieben Tage Einzelhaft bei Flottenverpflegung waren. "Äh, ja", sagte Flora. "Also, ich nehme den persönlichen Zugang." "Gerne. Wie wollen Sie bezahlen?" "Ach, machen wir das doch über Kreditkarte." Frau Wus Gesicht erhellte sich, als hätte sie mir gerade einen gebrauchten Gleiter ohne Garantie verkauft. "Selbstverständlich." Sie zog meine Karte durch, guckte eine Weile skeptisch auf ihr Terminal, nickte dann und drückte eine Taste. Ein frisch gebrannter Controlchip kullerte aus dem Ausgabegerät. "Kommen Sie bitte mit." Im Nebenzimmer sah ich das erste Mal das vielbeschworene "konfigurierbare Sensorium". Es sah aus wie eine Mischung aus einer Wollmütze und einer Taucherbrille. "Die Startkonfiguration ist kostenfrei", erklärt Frau Wu während sie den Chip an den vorgesehenen Platz einfügte. Eine Kontrolldiode begann grün zu glimmen. "Sie können ihr Konto an jedem öffentlichen und privaten Datenterminal aufrufen und die Konfiguration modifizieren." "Aha. Äh. Was ist, wenn ich es verliere?" Flora verlor oft Sachen. Frau Wu Ausdruck verdüsterte sich. "Das kann nicht passieren. Dieses Gerät ist aus einem hochentwickelten synthetischen Material, Sie können es Tag und Nacht tragen." "Was ist, wenn ich mir die Haare waschen will?" "Nun, Sie können das Gerät ablegen, wann immer sie sich in einer neutralen Zone befinden. Dazu zählen alle privaten Baderäume. Das Sensorium zeigt an, wenn Sie in einer neutralen Zone sind. Die Türschlösser der Zonen sind so kodiert, daß Sie Ihr Sensorium beim Verlassen nicht vergessen können." Das Lächeln nahm wieder seine ursprüngliche Form an. "Es ist furchtbar viel Arbeit für die Abrechnungsabteilung, nachzuvollziehen, welche Inhalte Sie konsumiert haben, wenn das Sensorium diese Aufgabe nicht übernimmt." "Selbstverständlich", sagte ich. Ich verstand gar nichts. Und setzte die mutierte Wollmütze auf. *** Jefferson mußte keine Kamera dabeigehabt haben, um in Schwierigkeiten zu geraten, fand ich heraus. Er hätte nur ein kleines bißchen mehr Hemmungen als Flora haben müssen, wie ein Idiot auszusehen, und ein bißchen weniger Selbstbeherrschung als ich, und er hätte sich dieses verfluchte Ding vom Kopf gerissen, kaum daß er aus der Schleuse, die den Raumhafen vom eigentlichen lomatischen Territorium trennte, hinausgetreten war. Das Affentheater, mit dem der Dataflash überladen gewesen war, war NICHTS gegen das Chaos, das mich jetzt empfing. Irgend jemand oder -etwas wußte, daß ich neu hier war, und das Sensorium umgab mich mit Reklame für Hotels, Restaurants, Taxiunternehmen, Schönheitsoperationen, Studiobesichtigungen, Anwaltskanzleien und Erotikshows, so daß ich mir vorkam wie bei einer Katastrophensimulation im Holotrainingsraum. Zum Glück habe ich solche Simulationen gemacht. Ich riß mir also nicht das Ding vom Kopf und begann nicht, mich in epileptischen Anfällen auf der Straße zu wälzen, sondern blieb erst mal nur stehen. Etwas -- oder eher, dem Gefühl beim Aufprall nach, jemand -- rannte in mich hinein. Eine mechanisch klingende Stimme sagte "Scheiß-Touris", und ein grünes Icon entfernte sich raschen Schrittes von mir. Jetzt, wo ich mich konzentrierte, sah ich mehrere grüne Icons, die sich flott bewegten. Irgendwo zu meiner linken waren rote Icons, dazwischen eine gelbe Linie. Ein Stück vor mir, nahe der gelben Linie, aber auf meiner Seite davon war ein kleiner, blauweiß leuchtender Fleck. Ich fokussierte darauf, und ein blauweißes Textband lief über den unteren Rand meines Blickfeldes, "öffentliches Datenterminal", gefolgt von dem terranischen Piktogramm für eine derartige Einrichtung. Da wollte ich hingehen, beschloß ich. Wenn ich nur wüßte, wie. Mein Gleichgewichtssinn war komplett zum Teufel, es war eine Anstrengung, mich auf den Beinen zu halten. Die holographischen Werbebilder huschten umher, drehten sich, wackelten und machten in Relation zu sich selber die Bewegungen der grünen Icons, die anscheinend Fußgänger darstellten, vollkommen erratisch. Ich schloß die Augen. Besser. Mir fiel auf, daß es bis auf die schmeichelnden und hysterischen Werbestimmen und das Gefluche der Passanten, weil ich im Weg herumstand, und das leise Summen von Elektrowagen (aha: die roten Icons!) völlig still war. Das Sensorium beinhaltete offenbar ein fortgeschrittenes Schallabsorptionsfeld, wie es Schiffstechniker tragen: Es erlaubt, mit dem Kollegen über die Sportergebnisse zu reden, während nebenan ein Hyperdrive warmläuft. Der Mangel an Raumklang war zum großen Teil für meine Desorientierung verantwortlich. Trotzdem, wenn ich einen Weg fand, den Ton abzudrehen, sollten Schwerkraft und Luftbewegungen mir eine hinreichend gute Vorstellung davon geben, wo oben und unten war. Nur ließ sich leider der Ton nicht abstellen. Ich fokussierte auf die gelbe Linie. Ein Lauftext erschien: "Begrenzung des Bürgersteiges. Nicht überschreiten." Zu meiner Rechten war ein weißes Raster, aus dem mich Werbung anblinkte, als ich es direkt ansah. Der Lauftext informierte mich, daß es sich um Souvenirläden handelte. Ich spielte mit dem Gedanken, Noleyn eine Postkarte voller Icons und bunter Symbole zu schicken: "Ansichten aus Lomatia", aber ich hatte keine Ahnung, wie ich mir die Auslagen der Läden ansehen sollte. Mit einer bewußten Anstrengung blendete ich alles aus, was kein Icon war, und steuerte auf das Datenterminal zu. Ein grünes Icon stand davor, als ich ankam. "Sergej Alai, Techniker, 35" sagte der Lauftext. Wurde das Terminal gerade gewartet? Ich stellte mich irgendwie hinter-neben ihn. Er fuhr herum. "Lassen Sie mich in Ruhe!" Das Sensorium löste seine Gestalt in einen grünen Rasterhumanoiden auf. "Verzeihung", sagte ich, "ich bin neu hier. Ich wollte Ihnen nicht zu dicht auf die Pelle rücken. Funktioniert dieses Terminal?" "Natürlich funktioniert dieses Scheiß-Terminal." Er marschierte ab. Ich schüttelte den Kopf, was meinen Dateninput in hektischen Aufruhr versetzte, und befaßte mich mit dem Terminal. "Geben Sie bitte Ihre Kreditkarte ein", blinkte es mich an. Ich tat das. "Drücken Sie Ihren Daumen auf die rote Fläche." Ich tat auch das. Die rote Fläche wurde grün. "Identität bestätigt." Ein Auswahlmenü erschien, umgebenden von blinkenden, tanzenden Werbeeinlagen. Ich korrigierte meine Einschätzung von Jeffersons Schicksal erneut. Wahrscheinlich hatte er einfach nur die Nerven verloren und hatte versucht, die Werbebilder zu erschießen. Nein, konnte nicht sein. Inspektoren trugen keine Waffen bei sich. "Dauert das noch lange?" maulte mich jemand hinter mir an. Ich drehte mich um. "Carol Stephenson, Verkäuferin, 23". "Kümmer' dich um deinen eigenen Scheiß", sagte ich. Ich lerne ja schnell. Die Menüführung war tatsächlich nahezu idiotensicher. Innerhalb von Minuten hatte ich eine Liste von günstigen Hotels im Umkreis von zwei Kilometern ausfindig gemacht und einen "Wegweiser" bestellt: ein kleines, blauweiß blinkendes Irrlicht, das mir den Weg zu den Hotels zeigen würde. Interessehalber checkte ich meine Kreditkarte und fand, daß das Checken selber zwei Soli gekostet hatte, die Hotelauswahl und der Wegweiser dagegen kostenlos waren. Ich fragte mich, ob der Wegweiser Provision von den Hotels bekam, und was ein Irrlicht mit der Provision tun würde. Ins Sonnenstudio gehen? *** Das erste Hotel auf meiner Liste roch nach Moder und alten Socken. Ich ignorierte die farbenfrohe Werbung, die mich aus dem Eingang anblinkte und beauftragte das Irrlicht, mich zum nächsten Hotel zu führen. Dort roch es nach Backsteinen und Zigarettenrauch. Flora Lebowski nahm ein Zimmer mit Bad für vierzig Soli die Nacht. "Es gibt kein Frühstück", sagte der Portier ("Herbert Briggs, Hotelportier, 65"), "aber zwei Blocks die Straße runter ist eine Kaffeebar, da kriegt man bis elf Uhr vormittags zwei Spiegeleier mit Speck, drei Pfannkuchen mit Sirup und soviel Kaffee wie man trinken kann für nur sechs Soli. Sind Sie das erste Mal auf Lomatia?" Ich bestätigte das, und er gab mir ein paar Tips darüber, wie man herumkam und was man alles angucken konnte. Ich stieg fünf Treppen hinauf (der Aufzug war kaputt), erfreulich unbelästigt von weiteren Werbebotschaften, nur die feuerpolizeilichen Bestimmungen blinkten mich auf jedem Treppenabsatz an. Einige der Stufen knarrten leise: Holz. Ich scharrte mit den Füßen: Teppichboden. Bückte mich und betastete ihn: Fadenscheinig in der Mitte, einige klebrige Stellen, vielleicht festgetretenes Kaugummi. Ich rieb meine Finger auf einer nicht- klebrigen Stelle und schnupperte daran. Billiges Reinigungsmittel, leichter Mief nach Alter, der allgegenwärtige Zigarettengeruch. Soweit gar nicht schlecht. Die Schlüsselkarte zu meinem Zimmer hatte einen gestanzten Code, den ich abtastete wie Blindenschrift und mir einprägte. Die Zimmernummer war 613. Oberste Etage, hatte der Portier gesagt. Auch die Zimmertür war aus Holz. Hatte Lomatia große Wälder, so daß Holz ein billigerer Baustoff war als Kunststoff? Ich hatte keine Ahnung. Es gab ja keine verdammten Luftbilder. Deswegen, unter anderem, war ich ja hier. Entfernungen abzuschätzen fiel mir immer noch schwer, also schloß ich die Augen, als ich im Zimmer war, und begann, den Raum auszumessen. Drei Meter auf knapp vier Meter. Das Badezimmer anderthalb Meter auf einen. Sobald ich die Badezimmertür hinter mir zugemacht hatte, leuchtete vor meinen Augen grün die Botschaft auf: "Neutrale Zone". Ich riß mir das Gerät vom Kopf ehe ich zu einer bewußten Entscheidung kommen konnte, es zu tun. Keine Fenster -- die Beleuchtung kam von einer Lichtplatte in der Decke, die ein bißchen flackerte. Linoleumboden, gesprungene, beige Kacheln an den Wänden, ein billiger Spiegel, ein metallenes Waschbecken, ein einfaches Klo und eine Sonardusche. Es war das Schönste, was ich in den letzten Stunden gesehen hatte. Ich probierte alle Armaturen aus. Das Wasser aus dem Hahn war schal, ich ließ es etwas laufen und es wurde besser, aber nicht gut. Ob es den imperialen Standard erfüllte? Ich hatte nichts mitgenommen, um Wasser für eine Analyse im heimischen Labor abzufüllen -- ich war ja kein Gesundheitsinspektor. Mein Magen knurrte. Das Chrono sagte mir, daß es kurz nach 12 Uhr mittags war. Lomatias Tag war um dreizehn Minuten länger als der irdische, was man handhabte, indem es zwischen 24 und 0 Uhr dreizehn "Schaltminuten" gab. Derlei kleine Unregelmäßigkeiten mal ignorierend, war ich jetzt seit 17 Stunden auf Lomatia. Wenn ich noch drei Stunden und 18 Minuten durchstand, ohne verhaftet zu werden, hatte ich Jeffersons Rekord geschlagen. Eliza hatte nur fünf Stunden geschafft. Der Gedanke hielt mich davon ab, mein Glück zu strapazieren, indem ich guckte, ob die Badezimmertür wirklich verschlossen blieb, solange ich meine Wollmütze nicht aufhatte. Statt dessen klappte ich den Klodeckel runter, setzte mich drauf und ließ das Kleingedruckte des Prospektes vor meinem inneren Auge passieren. Wenn ich mich recht erinnerte (manchmal käme eine Ark Sumnia extrem nützlich!) war in dem Ganzen zwar von einer Menge seltsam benamster Gesetze die Rede gewesen, nicht jedoch von konkreten Strafandrohungen fürs Gucken ohne Mütze. Gucken ohne Mütze. Ich begriff das nicht. Mein Magen knurrte wieder. Ich ignorierte ihn und dachte an dieses und jenes, bis mir auffiel, daß ich mich drückte, weil es angenehmer war in diesem Kabuff zu hocken, als das ikonographische Mützendrama zu verfolgen. Schluß mit dem Geiz, beschloß ich. Wie sollte ich etwas über die Lage herausfinden, wenn ich nichts sah. Ehe ich einhändig und ungeschickt meine Mütze wieder aufpfriemelte, legte ich die andere Hand über das Schloß der Badezimmertür. Der Lauftext sagte, "Verbindung wird hergestellt", dann leuchtete das "neutrale Zone"-Licht auf und ich spürte ein leichtes Klacken in der Tür. Selbst bei billigen Hotels funktionierten anscheinend die Sicherheitsmaßnahmen. Sicherheit wofür? Oder wovor? Das Datenterminal des Zimmers war auf dem Nachttisch. Ich setzte mich aufs Bett, und begann, mich durch die Menüs zu wühlen. Die angebotenen Sensoriumseinstellungen waren Free View, Economy, Standard, Super, DeLuxe und DeLuxe Maximun. "Standard" kostete zehn Soli und wurde als "naturalistisch" beworben. Das Hotelzimmer nahm Form um mich an. Es hatte ein Fenster. Ich stürzte dahin wie ein Verhungernder zu einem Imbißstand. Himmel. Sonne. Die Stadt, Lomatia Prima, erstreckte sich, gerastert von Straßen, durchschnitten von weit geschwungenen Hochbahnlinien, bis zu einer grün-goldenen Hügelkette am Horizont. Wasserflächen funkelten in smaragdgrünen Parks. Kunterbunte kleine Elektromobile sausten auf Straßen hin und her, die von niedrigen, weiß gestrichenen Holz- und Backsteinhäusern gesäumt wurden. Weiter weg brach sich das Sonnenlicht auf Kuppelbauten aus Glas und Stahl. Alles in allem war es locker zehn Soli am Tag wert. Nur, dachte ich: Auf anderen Planeten gab es das für lau. Hm. Flora leerte ihren Seesack aufs Bett, stopfte den Inhalt grob sortiert in den Wandschrank und schnitt ein Gesicht, als sie an ihre zurückgebliebenen Bücher dachte. Immerhin hatte das Zimmer, billig wie es war, ein Fernsehpanel. Ich zappte mich durch ein paar Kanäle. Es gab davon mehr als in Terrania City, Kanäle mit Filmen, mit Nachrichten, Talkshows, Serien, Dokumentationen, Seifenopern, Realityshows, Komödien, Musik... Keine große Überraschung, immerhin saß man hier an der Quelle. In erheblich besserer Laune stieg ich fünf Treppen hinunter, stellte fest, daß meine Einschätzung des Bodenbelages der Realität entsprochen hatte, grüßte den Pförtner (einen kleinen, rundlichen, grauhaarigen Mann der ausgeblichene Jeanshosen, ein kariertes Hemd und eine grüne Weste mit vielen Taschen trug) und trat auf die Straße. Vor dem Hotel standen vier kleine Elektroroller. Zwei davon trugen den Aufdruck eines Verleihs. Nachdem ich in einem Bistro ein Sandwich gegessen hatte, ließ ich mich von dem Irrlicht zu dem Verleih führen und von einer freundlichen Verkäuferin das hiesige Verkehrssystem erklären. Anscheinend konnte man sich auch zum Rollern ein Irrlicht geben lassen, so daß das Fahren nahezu idiotensicher war. Roller waren populär, weil die Stadt weitläufig war und das Wetter fast immer mild, trocken und sonnig -- Lomatia eben. Ich mietete einen Roller (18 Soli am Tag, ein Solar pro Woche) und verbrachte die nächsten Stunden damit, durch die Stadt zu fahren. Am Nachmittag machte ich Pause in einem kleinen Park, saß im Schatten von Hecken mit weichen, grünen Blättern und aß Eiscreme. Hier kann man leben, dachte ich. Und dann dachte ich, daß ich vor 36 Minuten Jeffersons Rekord geschlagen hatte. Das verdarb mir gründlich die Laune. ### 3. Kapitel ### Ich versuchte, mich mit Shoppen wieder aufzumuntern, aber ich fand keinen Laden, wo man Bücher, Papier, Bleistifte, Musichips, Spiele, Landkarten oder Vids kaufen konnte. Die Dämmerung fiel gegen sieben und dauerte nicht lange. Vermutlich waren wir ein wenig polwärts von einem Wendekreis und ein wenig sommerwärts von einem Equinox. Den Abend ging ich in eine Kneipe, aß Pommes Frites und trank ein Bier. Eine Band spielte. Ich konnte sie nicht hören. Ein paar Leute tanzten. Ein paar wippten mit. Alles in allem war ich mir bei nur zwanzig Prozent der Anwesenden sicher, daß sie die Musik hörten. Wenn ich da oben auf der Bühne gestanden hätte, hätte mich das angekotzt. Nachdenklich trödelte ich zu meinem Hotel zurück, schaltete, einmal dort, einen Musiksender ein, legte mich aufs Bett und dachte nach. Ich visualisierte mir all meine Notizen und Vermutungen und merkte, daß ich mich in letzter Zeit zu sehr auf meinen Notizblock verließ, um meine Gedanken zu ordnen. Lomatia, Trainingsplanet für Imperiumsagenten, die bei Undercoveraktionen ohne Notizblock auskommen müssen. Es hieß ja, daß Leute in schriftlosen Kulturen phänomenale Gedächtnisleistungen erbrachten. Qualifizierte Lomatia als eine schriftlose Kultur? Wie war es mit der Gedächtnisleistung seiner Bewohner bestellt? Flora hätte sofort einen Forschungsantrag geschrieben. So sie Schreibzeug gehabt hätte. Irgend etwas, das war sicher, wurde hier mit einem ungeheuren Aufwand geheimgehalten. Die Sensorien benötigten Schallfilter, wahrscheinlich Kurzstreckensender, Gottweißwas noch alles, anscheinend hoch entwickelt, jedenfalls über dem Imperiumsstandard für Serienfertigung, vielleicht sogar über Arkon-Standard. Außerirdischer Einfluß? Mußte nicht sein, entschied ich. Mit hinreichend Eifer und Finanzkraft ließ sich ein solches System durch konsequente Anwendung und Anpassung vorhandener Technologie erreichen. Aber wo kam der Eifer her? Wo die Finanzkraft? Und, das war die Kernfrage: Wem nützte es? Die Musik, fiel mir auf, war Scheiße. Ich schaltete sie ab und schlief ein. *** Flora bequemte sich um neun aus dem Bett. Der Portier saß hinter seinem Tresen, als sie herunterkam, hielt einen billigen Bilderrahmen in den Händen und sah das Bild an, das ich von meiner Position aus nicht sehen konnte. Mir fiel auf, daß er ein halbes Dutzend Bilder auf seiner Arbeitsfläche stehen hatte. Ich mußte lächeln, weil das so normal war, und weil es mich freute, daß dieser kleine, ältliche Mann Familie hatte. Wir machten ein wenig Small Talk. Ich erwähnte, daß ich heute die Studios besichtigen wollte, und er gab mir den Tipp, gleich eine Gesamtkarte zu kaufen, anstatt für jedes Studio eine einzelne. Dann spazierte ich zu dem Frühstücksschuppen, den er mir empfohlen hatte. Drinnen war wenig Betrieb. Es roch sehr lecker, die Kellnerin ("Sonia Ebbs, Kellnerin, 18") war freundlich und niedlich, nur die permanent an den Wänden flackernde Werbung nervte und erklärte, warum der Laden so billig war. Ich fokussierte ganz und gar auf mein Frühstück. "He -- sind Sie OK?" Ich sah auf. Sonia Ebbs schaute besorgt auf mich runter. "Ganz und gar", sagte ich. "Warum?" "Ach... Sie guckten so trübe auf Ihren Teller." Ich lachte. "Kein bißchen trübe. Ich schenkte nur diesen exzellenten Pfannkuchen meine volle Aufmerksamkeit. Es wäre respektlos, das nicht zu tun." Auch sie lachte. "Sie sind nicht von hier, nicht wahr?" "Nein", sagte ich. "Ich bin von Plophos. Eigentlich muß ich hier nur umsteigen, aber das Schiff kommt erst übermorgen, da habe ich einen Kurzurlaub eingeschoben." "Ach", sagte Sonia, "Sie müssen unbedingt die Studios besichtigen." "Das habe ich heute vor", sagte ich. "Wissen Sie", sagte sie verschwörerisch, "Das, was ich hier mache, das ist ja nur'n Job, bis ich ein richtiges Engagement kriege. Ich bin eigentlich Schauspielerin." Sie redete ein bißchen davon, wen sie alles schon getroffen hätte, auf welchen Parties sie schon gewesen war, in welchen Werbespots sie schon gespielt hatte und welche Nebenrolle in welcher Serie ihr nur knapp durch die Lappen gegangen war. Auch das war so normal, so vollkommen das, was man von Lomatia erwartete, daß ich wieder grinsen mußte. Und fragte, "Wie kommen eigentlich die Berufsbezeichnungen zustande, die die Sensorien anzeigen?" "Was?" fragte sie, "Oh. Meines sagt 'Kellnerin', nicht wahr? Sie zeigen das an, wofür man Steuern zahlt." Ich nickte. "Was sagt meins?" fragte ich. "Oh, äh... 'Studentin'." Pause. "Ich hätt' auch gern studiert, nach der Schule, aber ich konnt' mir nicht mal'n Jahr leisten. Also jobb' ich seit drei Jahren." Seit drei Jahren? "Du bist mit 15 aus der Schule?" "Ja, klar. Wieso?" Die Imperiumsrahmenverträge verlangten eine kostenlose Schulbildung für Kinder mindestens bis zum 15. Lebensjahr. Ein weiterer Punkt, wo Lomatia die Imperiumsstandards so gerade eben erfüllte. Und doch galt es als wohlhabender Planet? "Oh, ich wunder' mich nur. Auf Plophos lassen sie einen erst mit achtzehn raus." "Achtzehn." Sie schüttelte sich. "Da hat man ja alle Gelegenheiten schon verpaßt." Ich sagte dazu nichts, gab ihr ein reichliches Trinkgeld und ging meiner Wege. Mit achtzehn war ich ins Solare Mutantenkorps eingetreten. Hach. Wenn ich eine ernstzunehmende Mutantenfähigkeit hätte, hätte ich schon lange herausbekommen, was hier los war. Aber wenn ich eine ernstzunehmende Mutantenfähigkeit hätte, wäre ich viel zu beschäftigt damit, das Universum Wie Wir Es Kennen zu retten, als daß ich mich auf einem unbedeutenden Planeten herumtreiben und mit Kellnerinnen, die eigentlich Schauspielerinnen waren, unterhalten könnte. *** Wie mir geraten worden war, kaufte ich die Viererkarte, um alle vier großen Studios besichtigen zu können: Soltar, Yamanaki, Triumph und Film Noir. 66 Soli, und die Studios waren jeden Viertel davon wert, wurden ihrem Ruf nicht nur gerecht, sondern stellten ihn in den Schatten, waren das, wofür der Tourismus erfunden worden war, eine Mischung aus Kirmes, Zirkus, Geisterbahn und Heiligenschrein. Wer kann sich nicht an die Jagdszene aus "Undertow" erinnern? Hier kann man sie erleben, in all ihrer atemberaubenden Geschwindigkeit, in Bild und Ton, und in der Luft, die einem an den Ohren vorbeirauscht, der Beschleunigung, die einem den Magen rotieren läßt, und man hat die Szene hundertmal gesehen und man weiß, daß die Helden/man selber davonkommt, aber in dem Moment ist es, wie als man das erste Mal im Kino saß und jede Sekunde mitfieberte. Man geht durch die surrealen, gemalten Landschaften der "Salt Flats", wo Heather und Chris ihre Abschiedszene haben, und die Kraguls schreien vor purpurgrauem Himmel, bis man durch eine unsichtbare Tür in einen Hinterraum tritt, wo man mit Heather (an manchen Tagen statt dessen mit Chris) darüber reden kann, ob DIE Szene echt oder gedoubelt war. Die Roboterszene in "L17" wird einem vor den Augen nachgestellt, die Roboter filigrane Gebilde in pseudomassiv wirkenden Panzerplatten, die in Wahrheit, erklärt der kurzbeinige, bärtige Tricktechniker, der für diese Szene einen Oscar gekriegt hat, so leicht sind wie Blätter im Wind. In der Kostümhalle schwirren flinke Assistentinnen um einen herum und helfen einem in sein Lieblingskostüm, ein Erinnerungsfoto gibt es umsonst, für eine Sequenz von zwanzig Sekunden zahlt man extra. Und schließlich, in der Lounge, lungern gut aussehende Nebenrollendarsteller herum, die Sorte, die bei fast jedem Film, den man gesehen hat, dabei war, und erzählen Anekdoten, während man Kaffee und Wein zu Strandbadpreisen trinkt, und an manchen Tagen ist einer der großen Stars da -- morgen wird es Samuel Ironstar sein, der in "Galactic Frontier" achtundneunzig Folgen lang den furchtlosen Kapitän gespielt hat -- gibt Autogramme, schüttelt Hände und läßt sich mit kleinen Kindern auf den Knien fotographieren. Und da waren auch die Läden, die ich vermißt hatte, wo es alles gab, was mir fehlte (bis auf Bleistifte): Stories, Vids, stationäre Holofiguren, Spielzeug, bedruckte T-Shirts, bewegte Poster, Musichips, Kitsch und Kunst, Devotionalien, Mementos und Blödsinn. Ich deckte mich ein, schrieb Postkarten an Noleyn und Samantha (ob das Kind inzwischen da war?) und war ganz verwirrt, daß es draußen schon dunkel war, als ich aus dem Labyrinth der leuchtenden Scheinwelten trat. Morgen... ich checkte meine Karte: Der Rundflug über die Freilandlocations, das Premierenkino und "Film Noir", das letzte Studio auf meiner Liste. Ich war völlig erledigt, mein Kopf schwirrte, und ich tuckerte langsam in Richtung meines Hotels. Der Gedanke an mein Kämmerlein unterm Dach machte mich klaustrophobisch, und so fuhr ich einfach auf gut Glück weiter herum. Städtebaulich ließ Lomatia Prima die Imperiumsnormen weit hinter sich im Staub zurück. Die Straßen waren wie geleckt, die Häuser modern, mit großem Fenstern, polierten Verzierungen und Treppengeländern. Es gab keine Slums, nicht einmal arme Gegenden, nicht einmal einzelne Häuser mit geschlossenen Türen, vernagelten Fenstern und verwilderten Gärten. In den Einkaufsstraßen gab es kein "Wegen Krankheit geschlossen" oder "Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe". Alles war modern und sauber, handlich und proper und immer am rechten Platz, wie ein Traum-Terrania, eine Mischung aus Terrania und "Zu Hause", wo immer zuhause mal gewesen sein mochte. Und plötzlich spürte ich Heimweh, so scharf und hell, daß es mir Tränen in die Augen trieb, ich wollte einen hohen, kalten nördlichen Himmel sehen und enge Straßen mit bunten Häusern und die betongrauen, graffitibunten Wände der Universität, Seen und Kanäle und kleine Inseln und Boote, und Männer, die von den Brücken der Stadt aus angelten, den Autoverkehr im Rücken, seine blauen Benzinabgase fortgeweht im Wind vom Meer. Es war nicht nur Heimweh, es war mehr als das, es war *Verlust*. Denn all das hatte ich zuletzt vor zweihundert Jahren gesehen, und schon da war es im Begriff gewesen zu verschwinden, es war fort fort fort fort fort. Ich hielt den Roller vor einem Bretterzaun an. Ein Park lag in der Nähe, durchzogen von einem Muster von Bächen und Teichen, überspannt von kleinen Brücken. Um diese Uhrzeit war er verlassen. Ich setzte mich auf ein paar Steine am Rand eines Teiches. Und überlegte. Anfälle von Nostalgie waren mir schon immer unheimlich. Nostalgie ist eine Illusion eines "Früher", das uns besser erscheint, weil wir damals jünger waren, weniger desillusioniert, weniger abgebrüht, weniger gebeugt unter der Last des Lebens. Aber ich bin unsterblich. Ich werde nicht älter, ich zähle nur mehr Jahre. Ich sollte immun gegen Nostalgie sein, und es irritiert mich, daß ich es nicht bin. Nostalgie, Illusion, auf diesem Planeten, der vom Handel mit Illusion lebte. War es nur die Überflutung mit Eindrücken, das emotionale Auf und Ab gewesen, das mich so außer Fassung gebracht hatte, oder taten die hier etwas ins Wasser? Wir sollten wirklich einen Gesundheitsinspektor hierher schicken. Sobald ich herausgefunden hatte, wieso die hier Inspektoren verhafteten. In den Sträuchern neben mir raschelte es und plötzlich fühlte ich ein denkendes Wesen in meiner Nähe. Ich fuhr herum. Da war nichts zu sehen. Die Sträucher bewegten keinen Zweig und kein Blatt. In der weichen Erde waren keine Fußabdrücke. Trotzdem spürte ich, daß mich etwas beobachtete. Ich drehte mich in die vermutete Richtung und krallte meine Hände in die Seitennähte meiner Hose: Nicht das Sensorium abnehmen, nicht... Meine Phantasie machte mir vor, daß der Unsichtbare eine Waffe auf mich richtete, während ich blind umhertappte. Blödsinn, Solveig, da ist Neugier, Verwunderung, keinerlei Feindseligkeit. "Zeig dich!" sagte ich. Schritte entfernten sich, ein schnelles, leises Trappeln wie von Katzen, die hinter den Frachtkisten Wollmäuse jagen. Die Präsenz war verschwunden. Frustriert ballte ich die Fäuste. Ich mußte mehr sehen. Unbedingt. Flora hatte eine reiche Tante und ich hatte ein Spesenkonto. Ich lokalisierte das nächste Datenterminal und schaltete mein Sensorium auf 'Maximum'. Es war, als sei ich wieder in den Studios. Die Welt nahm eine neue Form an. Auf dem Wasser schimmerten Lichter. Alberne Statuetten standen auf Inselchen. Es war ein bißchen kitschig und ein bißchen übertrieben auf eine Art, die sich selber nie ganz ernst nahm. Die Häuser, die auf den Park schauten und eben noch nett, willkommenheischend und gewöhnlich gewesen waren, waren jetzt Paläste und architektonische Abenteuer. Ich wünschte, ich könnte sie fotografieren oder zeichnen. Zu denken, daß all das die ganze Zeit dagewesen war... Nur von dem seltsamen Besucher war keine Spur zu entdecken. Der Bretterzaun, vor dem mein Roller stand, war nicht mehr einfach und schmucklos, sondern mit wilden Graffitis bemalt. Auf den Straßen trugen nur wenige Leute die stinknormalen, unauffälligen Jeans und T-Shirts, mit vernünftige Haarschnitten und Schuhen, die ich vorher gesehen und nicht für bemerkenswert befunden hatte, statt dessen sah ich Jugendliche in Designerklamotten, Frauen mit hüftlangem Haar in nachtschwarz, kupferrot und golden, Männer in eleganten Anzügen. Die Schilder der Kneipen und Lokale glitzerten. Aus offenen Türen drang Musik. War all das die ganze Zeit dagewesen? Ich fühlte mich wie Alice hinter den Spiegeln und kehrte in mein Hotel zurück. Der Portier empfing mich freundlich. Ich sah, daß in einem der Bilderrahmen das Bild einer jungen Frau war. Sie trug ein geblümtes Kleid, stand auf einem grünen Hügel vor einem blauen Himmel und lachte. Ihre Haare waren dunkelbraun und lockig, mit einer silbernen Spange darin. "Ihre Tochter?" fragte ich. Er hielt inne, und es dauerte eine lange Sekunde, bis er antwortete. "Ja." "Sie ist sehr hübsch." "Das ist sie." Er putzte sich die Nase und murmelte etwas vom "verdammten Heuschnupfen". Ich straffte die Schultern gegen das plötzliche Gefühl von Zorn und Verlust, das mich aus seiner Richtung überrollte. War seine Tochter tot? Ich stapfte zu meinem Zimmer hinauf, stellte das Sensorium auf die kostenlose Konfiguration zurück und ließ mich für eine Stunde auf dem Klo einschließen. Dabei vergaß ich leider meine Einkäufe auf dem Bett, so daß ich nicht einmal lesen konnte. Aber ich war nicht in der Stimmung, hinauszugehen, und sie zu holen. *** Am nächsten Morgen war ich um sieben auf den Beinen. Meine Träume waren nicht schlecht gewesen, aber voll von Verwirrung, Verrat und Masken, die sich von lebendem Fleisch pellten wie Lagen verbrannten Papiers. Ich war zu aufgekratzt, um noch zu schlafen und flüchtete wieder in die nüchterne Gewißheit des Badezimmers, las dort hundert Seiten in dem "Galactic Frontier"-Roman, den ich gekauft hatte, und lachte über den gutaussehenden grünäugigen rothaarigen halbtelepathischen weiblichen Fähnrich, der das Herz des rauhbeinigen Kapitäns im Sturm eroberte, obwohl es bestimmt noch hundert weitere Seiten dauern würde, bis letzterer das vor sich selber zugeben würde. Eine der angenehmsten Seiten lomatischen Kulturschaffens ist seine Vorhersagbarkeit, die es erlaubt, seine Produkte in einer tranceähnlichen Geisteshaltung, wo einen kein neuer Gedanke und keine neue Einsicht bedroht, zu konsumieren. Reyan fordert das Bestehende heraus bis zur Lächerlichkeit, Callies leugnet es, Lomatia spiegelt es in sich selber zurück. Und in diesem Labyrinth von Spiegeln, die jedem nur das vertraute Gesicht zeigen sollten, lag der Planet selber, ein Strudel des Unerwarteten, wo jeder Schritt zu einem Seiltanz im Dunklen wird. Der Schleier der Maya. Das Bild ist nicht das Ding. Kurz vor neun verließ ich mein Zimmer. Die blinkenden feuerpolizeilichen Warnungen erinnerten mich daran, das Sensorium wieder auf "Standard" zu stellen. Die Warnungen wurden zu Schildern an den Wänden. Ich betastete sie. Glatter Kunststoff, die Schrift mußte auf der Innenseite sein. Der Portier war nicht da. Ich hörte ihn in einem Hinterzimmer telefonieren. Kurz entschlossen lehnte ich mich über die Theke und schnappte mir das Bild der Frau. Der Bilderrahmen war leer. Ich hängte mich noch weiter über die Theke. Alle Bilderrahmen waren leer. Maya. Der Himmel war beruhigend blau, mein Roller vertrauenerweckend rot. Die Gleichgewichtsstörungen waren wieder da, es zog mich zum Boden, um mit den Fingern zu gucken, ob die grauen Pflastersteine real waren. Statt dessen schloß ich die Augen und drehte das Gesicht zur Sonne. Tunam, du bist an all dem schuld. Warum willst du auch dein Photo nicht veröffentlicht haben. Nach zwei Tassen Kaffee und einem guten Frühstück war ich in einer deutlich weniger mystischen Stimmung. Die Lomatier nahmen Touris aus, wo sie konnten, das war ja kein Verbrechen. Daß sie sich dabei selber ein Bein stellten, weil sie Leute mit schlecht gemachter Werbung in die Flucht trieben und die wirklich leckeren Sachen (ich dachte an den Straßenzug, den die Maximaleinstellung mir gestern gezeigt hatte) nur jenen unter die Nase hielten, die dafür zahlten, war das nicht mein Problem. Ich hatte herauszufinden, was sie hier versteckten. Vielleicht, dachte ich plötzlich und mußte ob dieser Einsicht lachen, weil sie so klar und logisch war, versteckten sie gar nichts. Oder höchstens sich selber, und zwar vor den Touris. Die Touris (außer denen, die wild entschlossen waren, mehr Geld auszugeben als nötig) blieben im virtuellen Ghetto ihres Sensoriums und ließen die Einheimischen in Ruhe, weil sie sie nicht in ihrer wahren Gestalt sahen. Nicht dumm. Ganz und gar nicht dumm. Fast zu subtil für Lomatia, so etwas hätte man eher von Callies erwartet. Ich grinste mir eins. Callies war sich nicht zu fein, gute Ideen zu übernehmen. Die lomatischen Techniker, die das hier entwickelt hatten, würden sich bald über profitable callies'sche Verträge freuen können. Das Lokal leerte sich, als die Leute mit dem Frühstücken fertig wurden. Ich entdeckte Sonia, die am anderen Ende des Raumes Tische abwischte und winkte ihr zu. "Hallo. Kann ich noch'n Kaffee kriegen?" "Klar, sofort." Sie kam mit der Kanne in der Hand wieder und schenkte ein. "Danke für den Tipp mit den Studios", sagte ich. "Ich habe viel davon gehört, aber ich hätte nicht gedacht, daß sie wirklich so toll sind. Diese ganze Stadt ist wunderschön." In ihrem Gesichtsausdruck war etwas Merkwürdiges. Ich wünschte, ich hätte das Sensorium auf 'maximal' gelassen. Vielleicht hätte sie dann ausgesehen wie eine Feenprinzessin, und ich hätte ihren Ausdruck verstanden. "Ja, das ist sie schon", sagte sie. "Deswegen kommen die Leute ja her." "Sag' mal", sagte ich leise, "ich frag mich die ganze Zeit eins... dies Sensorium hat so verflixt viele Konfigurationen und ich bin echt schlecht in Technik, Computer fallen aus, wenn ich sie bloß berühre und so..." ich grinste schief, wie die Konvention des umgekehrten Prahlens es verlangt, "was ist eigentlich die beste Einstellung für das Ding? Auf was stellt man das, wenn man hier lebt?" Sie sah verwirrt aus. Was hatte ich gesagt? "Also, ich glaube am besten ist es, wenn du einfach Maximum einstellst. Das ist natürlich sehr teuer." "Hast du das eingestellt?" In dem Kichern, das ihre Verwirrung überdecken sollte, war ein Schatten von Bitterkeit. "Haha, du nimmst mich hoch. Ich stelle es auf 'Standard', wenn ich arbeite, sonst finde ich ja nichts. Wenn ich Schluß habe, drehe ich es auf 'gratis' runter. Wenn ich nicht gerade fernsehen will oder so." Ich war sicher, daß sie log. Ich wollte, daß sie log. Wenn sie nicht log, machte immer noch alles keinen Sinn. "Wenn ich mal reich und berühmt bin", sagte sie, "stelle ich es auf Maximum -- Tag und Nacht! Und ich sehe alle die berühmten Filme, und höre alle Platten der Rolling Stones!" "Hey", sagte ich, "ich drück' dir die Daumen!" Ich gab viel Trinkgeld und verließ das Lokal genau so ohne Hypothese, was hier los war, wie ich gekommen war. ### 4. Kapitel ### Es war sowieso, dachte ich, als ich gemächlich in Richtung der Studios rollerte, eine miese Hypothese gewesen. Sie erklärte nicht das Schicksal von Montoya und Jefferson. Zurück zu Theorie 1: Sie hatten etwas gesehen, was sie nicht hatten sehen sollen. Hm. Wann? Montoya war beim Verlassen des Raumhafen verhaftet worden. Was immer es war, mußte von dort aus zu sehen sein. Jefferson nach zwanzig Stunden. In denen er den Raumhafen verlassen hatte, ein Zimmer genommen, irgend etwas gesehen, was dem braven (unbewaffneten!) Inspektor einen solchen Schrecken eingejagt hatte, daß er beschlossen hatte, ihm mit Mitteln beizukommen, die hier als Terrorismus galten. Die *hier* als Terrorismus galten. Gut, Solveig. Und das muß etwas verdammt Merkwürdiges sein, denn Jefferson hatte keine Waffe, keine Kampfausbildung, keine taktische Ausbildung, keine Ahnung von Sprengstoffen, geschweige denn welche zur Verfügung. Wenn es hier einen Schwarzmarkt gab oder eine Unterwelt, dann hatte *ich* noch nichts davon mitbekommen, und ich war mir ganz sicher, daß ich mehr mitbekam als Jefferson. Außer... er war in eine ungewöhnliche Situation geraten, in eine Verkettung von Ereignissen, die ihm einerseits ...etwas, wasauchimmer, enthüllt hatten und ihn gleichzeitig in die Lage versetzt, etwas dagegen zu tun. Nur hatte er es vermasselt. *Was* vermasselt? Das Irrlicht vor mir begann nervös rot zu blinken und ich merkte, daß ich auf dem Parkplatz der Studios angekommen war. Ich beschloß, auf die göttliche Eingebung zu warten, um den Schleier der Illusion zu durchschauen. Meine deduktiven und analytischen Fähigkeiten waren der Lage ganz klar nicht gewachsen. Hoffentlich hielt Mercant etwas von indischer Philosophie. *** Das Programm dieses Tages war genauso spannend, unterhaltsam, interessant und leicht abgefahren wie das des vorigen. Die Landschaftsformationen, die wir an den Freiluftlocations sahen, waren spektakulär. Ein Dorf aus aufgerichteten Kulissen stand in der Gegend herum und wirkte völlig unglaubwürdig, bis man in genau *dem* Winkel drauf guckte und die berühmte Einstellung aus "Magor der Wanderer" wiedererkannte. Im Premierenkino entschied ich mich für "Demon Mask" und ließ mich für eine Weile von den Verwicklungen und den wunderbar choreographierten Kampfszenen ablenken. Aber die ganze Zeit war ich nicht voll bei der Sache. Das ungelöste Rätsel nagte an meinen Gedanken und untergrub meine Stimmung. Ich verzichtete auf Ironstars Autogrammstunde und ging statt dessen in eine Pizzeria, aus der es vielversprechend nach Knoblauch und Oregano roch. An einem Tisch in der Ecke saßen Vierlinge. Viermal die gleichen Gesichter, die gleichen Kleider. Der Kellner umschwirrte sie mit besonderem Eifer. Ich fokussierte auf das Quartett, aber das Sensorium informierte mich lediglich, daß der Kellner Gregor Black hieß und 48 Jahre alt war. Ich verdrückte mich für einen Moment zum nächsten Terminal und schaltete das Sensorium auf auf DeLuxe Maximum, entschlossen, es für den Rest des Tages da zu lassen. Bilder erschienen an den Wänden und Dekorationsstücke auf den Borden, die die Sitzecken voneinander trennten. Leise Musik spielte. Die Vierlinge wurden zu vier wunderschönen (und ausgesprochen unterschiedlich aussehenden) Frauen in dramatischer Aufmachung. Der Lauftext verriet mir, daß sie alle Schauspielerinnen waren. Ich kannte keine davon. Die göttliche Eingebung ließ weiter auf sich warten. *** Am Abend fuhr ich zu dem Park, wo ich die immer noch unerklärte Präsenz gespürt hatte. Der Zaun stand jetzt um eines der architektonisch interessanten Häuser herum, das gerade abgerissen wurde. Ein paar Leute betrachteten das Spektakel milde gelangweilt. "Wieso wird das Haus abgerissen?" fragte ich eine Frau ("Veronika Callum, Architektin, 51 Jahre"). "Der Besitzer ist gestorben", sagte sie, "und das Konsortium, das die Rechte des Architekten und der Dekorateuere besitzt, kann sich nicht auf die Lizenzgebühren für den Erben einigen." Ich nickte, als verstünde ich das. Schade um das Haus, dachte ich, und rief mir seinen Anblick ins Gedächtnis zurück, die unregelmäßigen Fenster, die gedrehten Stahlsäulen, die Art, wie innen und außen sich umeinander zu winden schienen wie in einem Bild von Escher. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Die Abrißbirne arbeitete lautlos. *** Ich ging noch in eine Kneipe, um ein Bier zu trinken. Eine Band spielte. Ich konnte sie hören. Die Band wirkte erschöpft, persönlich ebenso wie musikalisch, was unverständlich war: keiner der Musiker war älter als 25. Ich fühlte mich versucht, dem Leadgitarristen die Klampfe aus der Hand zu reißen und ihm zu zeigen, was Rock'n'Roll bedeutete. Statt dessen wechselte ich die Kneipe und trank mein zweites Bier zu dem Klang von 21st Century Blues aus den Lautsprechern. Auf dem Weg in mein Hotel wälzte ich wieder das Rätsel im Kopf herum. Einsicht und Gelegenheit mußten schnell zu Jefferson gekommen sein. Solches Tempo hinterließ Spuren. Genug Touri-Getue, morgen würde ich mir eine öffentliche Bibliothek oder ein Zeitungsarchiv suchen und herausfinden, was an dem Tag von Jeffersons Ankunft und Verhaftung denn so besonderes geschehen war. *** Mitten in der Nacht erwachte ich, weil ich glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Ich schlug die Augen auf, aber es war dunkel. Hastig tastete ich nach dem Licht. Die Sammlung von Icons, die man im economy-mode sah, glotzte mich an. Etwas war in meinem Zimmer, verdammte Hacke. Ich spürte, wie es mich ansah. Ich widerstand dem Impuls, mir das Sensorium vom Kopf zu reißen, statt dessen knurrte und murmelte ich etwas und tapste Richtung Bad. Ich könnte schwören, ich spürte den Windzug, als das Wesen, dessen Präsenz ich fühlte, meinem wohlkalkulieren verschlafenen Getaumel schneller auswich, als ich erwartet hatte. War da nicht für einen Moment etwas unter meinen Fingern gewesen, wo nichts hätte sein sollen? Was immer es war, es verschwand und ich landete auf dem Fußboden. "Verdammter Rum", lallte ich und blieb erst mal sitzen. Die Präsenz konnte nicht weiter als einen entnervenden Meter von mir entfernt sein. Würde ich schnell genug danach greifen können? Und was würde passieren, wenn ich sie hätte? Das Muster war keines, daß ich je zuvor gespürt hatte, außer vielleicht gestern in dem Park. Während ich noch unentschlossen auf dem Boden saß, bewegte sich die Präsenz nach oben und verschwand in der Decke. Meine tastenden Finger fanden die Fernbedienung des Datenterminals. Eilig schaltete ich die Wahrnehmungsstufe auf DeLuxe Maximum. Der Raum erschien in naturalistischer Darstellung, inklusive der kitschigen Bilder an den Wänden. Im Nebenzimmer sang jemand einen Schlager, und unten auf der Straße summten Elektrowagen. Ich sah weder das Wesen, noch, wohin es verschwunden sein könnte. Auf der gemusterten Tapete waren kleine Kratzer. Waren sie vorher schon dagewesen? Ich wußte es nicht. Ich schaltete das Licht aus, ließ aber das Sensorium im Maximalmode, obwohl die Geräusche von der Straße lästig waren, und starrte die Muster von Licht und Schatten an der Decke an. Irgendwann dämmerte ich wieder weg. *** Es war heller Morgen, als ich erwachte, kurz bevor mein Wecker ging. Der Besuch in der letzen Nacht kam mir wie ein Traum vor. Ich versuchte, an die Decke zu kommen, um sie auf verborgene Falltüren abzutasten, aber es gab nichts im Raum, auf das ich mich hätte stellen können. Vielleicht konnte ich beim Portier eine Trittleiter leihen. Gegen acht kam ich die Treppe hinunter. Der Portier grüßte mich freundlich. Ich fing ein Gespräch über das Wetter an, (tadellos wie immer) und fragte dann, ob es hier eine öffentliche Bibliothek gäbe. Der Portier starrte mich an, als hätte ich nach einem minderjährigen Lustknaben verlangt. "Nein", stammelte er, als er sich ein wenig gefangen hatte, "Wie kommen Sie *darauf*, selbstverständlich weiß ich nichts von einer solchen Einrichtung..." Ich widerstand der Versuchung, abzulenken, und trug stattdessen Flora Lebowski dick auf. "Oh, verzeihen Sie. Habe ich ein kulturelles Tabu verletzt?" Sein Blick blieb gehetzt. "Bitte, fragen Sie mich so etwas nie wieder", sagte er leise und nachdrücklich. "*Alle* Informationen, die Sie eventuell benötigen könnten, finden sie einfach und legal über die Datenterminals." "Zeitschriftenarchive?" fragte ich. Er nickte schwach, immer noch wie ein Mensch, der um ein Haar in einen Abgrund gefallen wäre. "Danke", sagte ich, und beschloß spontan, zur Feier des Tages meine Sammlung an Taktlosigkeit zu erweitern. "Was ist eigentlich mit ihrer Tochter -- die auf den Bildern?" fragte ich. "Oh, sie. Sie ist berühmt, deswegen kann ich sie nicht so oft ansehen." "Hat sie einen Namen?" fragte ich. "Ja -- aber den kann ich ihnen nicht sagen." Ich schob ihm einen Zwanziger rüber. "Anahita Bregolas", sagte er, dann wandte er sich seinem Terminal zu. "Unter dem Namen ist sie bekannt." Ich versuchte, mich zu erinnern, wo ich den Namen vor kurzem erst gehört hatte, und kam nicht drauf. "Danke", sagte ich, und machte mich auf zu meinem Stamm-Frühstückslokal. Ich war kaum durch die Tür hinaus in das helle Sonnenlicht auf der Straße getreten, als zwei hochgewachsene Männer in schwarzen Uniformen auf mich zu kamen. Mein Sensorium schwieg sich zu ihrem Namen und Beruf aus. Ich versuchte, mich an ihnen vorbeizudrängen, aber sie stellten sich mir in den Weg. "Fräulein Flora Lebowski?" Was zum Teufel? fuhr mir durch den Kopf. Hatte der nette Portier die Polizei gerufen, weil ich nach einer Bibliothek gefragt hatte? Oder... "Ja, die bin ich. Kann ich Ihnen helfen?" Zwanzig Minuten zum Raumhafen, wenn man rannte. Nein, keine Chance. Nicht in einer fremden Stadt, wo ich die Schleichwege nicht kannte. "Kommen Sie bitte mit." "Warum?" "Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen." Ich fragte mich, was sie tun würden, wenn ich mich weigerte. Aber andererseits war ich hergekommen, um herauszufinden, was auf diesem Planeten los war. Daß sie mich auf der Stelle erschießen würden, war unwahrscheinlich, und Mercant wußte, wo ich war. Hallo Ultima Thule, hallo Archiv. "Darf ich fragen, wer sie sind?" "Mein Name ist Gerald Schado", sagte der eine. "Ich bin Anwalt." Darauf fiel mir nichts mehr ein. Sie plazierten mich auf den Rücksitz eines eleganten schwarzen Elektrowagens und düsten mit mir ab. Wir fuhren über ein paar breite, baumbestandene Chausseen, an eleganten Häusern vorbei, entlang an einem Park, mehr elegante Häuser, einige Glas-und-Stahlkuppeln, und fuhren dann in die Tiefgarage unter einem Hochhaus. Ehe wir unter der Erde verschwanden, konnte ich noch das Logo des Triumph-Studios oben an der Fassade erkennen, umgeben von animierten Figuren. Wir stiegen aus, gingen durch eine bunt bemalte Feuerschutztür und eine marmorne Treppe mit einem geschwungenen, bronzenen Geländer hinunter zu einem Aufzug. Der Aufzug hatte Beschleunigungsausgleich, so daß ich nicht feststellen konnte, in welche Richtung oder wie schnell wir fuhren. Aus den Lautsprechern kam ein entsetzlich weichgespültes Stück klassischer Musik. Der Spiegel an der Rückseite des Aufzugs zeigte mir meine eigene Gestalt. Mein eigenes Gesicht. Das Sensorium zeigte er nicht. Langsam fühlte sich mein Verstand an wie eine mißlungene Hyperraumtransmission. Der Aufzug hielt. Wir betraten ein geräumiges Büro mit Panoramafenstern, die absurderweise eine terranische Vista zeigten, die mir überaus vertraut war: Die Bergketten des Quilian Shan, wie man sie an klaren Tagen von Imperium Alpha aus sah. Hinter einem eleganten Schreibtisch saß ein junger Mann mit einem eleganten Anzug und einem eleganten Gesicht. Er lächelte so vertrauenerweckend wie ein Löwe im Circus Maximus, als er die beiden Gorillas aus dem Raum und mich in einen Stuhl winkte. Der Stuhl war mit weichem Leder bezogen. Der Mann lächelte auf mich herunter. "Sie sind Flora Lebowski von Plophos?" fragte er. Ich nickte. "Können Sie sich ausweisen?" "Sind Sie von der Polizei?" fragte ich, und schob eilig hinterher, "Ich habe nichts getan!" "Nein, nein", sagte er. Vorgestellt hatte er sich immer noch nicht, und mein Sensorium äußerte sich nicht zu dem Thema. "Wir sind Anwälte." Er fletschte noch ein bißchen gefährlicher die Zähne. "Sehen Sie, wir haben ein kleines Problem, bei dem Ihr Name allerdings nichts zur Sache tut." "So?" sagte ich. Ich kapierte gar nichts mehr. Auf Monitoren, die wie zufällig im Saal verstreut waren, flimmerten vage bekannte Szenen. Die Bewegung am Rande meines Blickfeldes machte mich wahnsinnig. Ich hätte auf Economy schalten sollten, als ich noch im Hotel war. Statt dessen fixierte ich das Bild der Bergkette. Es wirkte beruhigend. "Wir vertreten einige der größeren Studios", sagte Herr Namenlos, "und einer unserer Klienten plant ein Projekt -- eine historische Komödie -- über die Intrigen am Hofe Gonozals VIII von Arkon." "Aha?" sagte Flora, während in meinem Kopf etwas schrie, *Komödie*? Guck dir die Berge an, befahl ich mir. "Ja, und selbstverständlich hat unser Klient alle relevanten Elemente gesetzlich schützen lassen, um sich dem Diebstahl seines geistigen Eigentums vorzubeugen." "Was hat das mit mir zu tun?" sagte ich. Herr Namenlos seufzte. "Sehen Sie, ich verstehe ja, daß Sie das wahrscheinlich nicht mit böser Absicht machen und sich der Schwere Ihres Vergehens gar nicht bewußt sind. Eigentlich hätte das schon beim Grenzübertritt aufgefallen sein sollen, aber irgend jemand muß da wohl geschlafen haben... jedenfalls tragen Sie das Gesicht von Solveig Jamieson, einer der Charaktere, deren Wiedererkennbarkeitsmerkmale unser Klient unter gesetzlichen Schutz gestellt hat." Ich klappte den Mund auf und machte ihn wieder zu. Außer "Wie bitte?" und "Was zum Teufel..." fiel mir nur noch ein, "Sie wollen mich wohl verarschen!" Aber das hier war keine gute Situation, um aus der Rolle zu fallen, also nahm ich mich zusammen, hielt den Mund und ließ ihn weiterreden. "Selbstverständlich gehen wir davon aus, daß es sich dabei lediglich um ein Versehen Ihrerseits handelt, deswegen..." Er schob mir einen Stapel Papiere und einen Kugelschreiber hin. Ich sah ihn fragend an. "Unterschreiben Sie das -- es steht nur drin, daß sie den Verstoß versehentlich begangen haben und in Zukunft davon Abstand nehmen werden, die Rechte meines Klienten zu verletzen. Und dann können Sie gehen." Die Gedanken jagten sich in meinem Kopf. Ziemlich weit vorne war ein Bild, wie ich mit einer Rasierklinge auf mein Gesicht losging, damit es wieder legal wurde. Das sah nicht gut aus für meine geistige Gesundheit. Das Papier, das 'nur' diese beiden Punkte enthielt, war grob geschätzt dreißig Seiten dick. Ich begann zu lesen. "Unterschreiben Sie einfach", sagte Herr Namenlos. "Ich muß doch wissen, WAS ich da unterschreibe!" protestierte ich. "Das habe ich ihnen doch schon gesagt." Er drückte mir den Kuli in die Hand. Ich las weiter. "Planet verlassen -- Ausgleichszahlung -- Mahngebühr --" "Tut mir leid, aber ich habe nicht ewig Zeit", unterbrach mich Herr Namenlos. "Unterschreiben Sie nun oder nicht?" "Erklären Sie mir eines", sagte ich. "Hier steht drin, ich soll den Planeten verlassen und mein Gesicht nicht mehr zeigen. Wie komme ich denn zum Raumhafen? Geben Sie mir einen Mehlsack, den ich über dem Kopf tragen soll?" Er wirkte irritiert. "Nein -- wir fahren sie auf der Stelle zum Raumhafen." "Und mein Gepäck?" "Ist bereits vorausgeschickt." In meinem Kopf klickte es. Die Eile, mit der sie mich loswerden wollten, machte mehr Sinn als der lächerliche Vorwand, den sie dafür brachten. Was immer ich letzte Nacht beinahe zu fassen bekommen hatte -- jemand wollte, daß es geheim blieb. Ich senkte den Kopf, so daß Herr Namenlos nicht sah, wie ich böse grinste. Da hatten sie sich geschnitten. Jetzt hatte ich alles, was ich brauchte, um einen offiziellen Auftrag von Mercant zu kriegen. Ich unterschrieb das Papier und fand mich innerhalb von zwanzig Minuten innerhalb der Gemarkung des Raumhafens wieder, mit meinem Gepäck, meinem Miniplayer, meiner Kamera und meinem ganzen anderen Kram. Nur die Andenken, die ich gekauft hatte, blieben verschwunden. Ich nahm mir ein Zimmer im Transit-Hotel und schrieb alles auf, was ich auf Lomatia erlebt hatte. Und ich streunte durch den Raumhafen, und genoß es, Dinge mit meinen eigenen Augen zu sehen. Ich versuchte, das Buch, das ich nur halb zuende gelesen hatte, noch mal zu kaufen, aber es gab es nur als Einweg-Chip, und so spannend war es auch nicht, daß ich es kaufen wollte ohne die Option zu haben, es in einem Schmökerladen in Terrania gegen einen alten Asimov zu tauschen. So, das Schiff nach Nova Albion ist gerade gelandet: Zeit, zusammenzupacken und an Bord zu gehen. In einer Woche bin ich wieder auf Terra. ####################### # TEIL 2: TRICKTECHNIK ####################### ### 5. Kapitel ### Während meiner Abwesenheit war die Luna Space Cartography Foundation beim Handelsministerium penetrant geworden, ein Amtshilfeersuchen war an das Außenministerium gegangen, das Amt für Kolonialaufsicht hatte sich gleichfalls ans Außenministerium gewandt, da sie ihren Inspektor wiederhaben wollten, und Adams hatte ein privates Memo an Rhodan, Bully und Mercant geschrieben, aus dem hervorging, daß ihn das lomatische Geschäftsgebaren an seine alten Zeiten als Trickbetrüger erinnerte. *** Am Tag nach meiner Rückkehr bestellte Mercant mich zu sich. "Guten Morgen, Miß Jamieson." Auf seinem Tisch lag mein Bericht. "Sie stimmen gewiß mit mir darin überein, daß all dies höchst verwirrend ist." "Ganz und gar, Sir." "Gut. Was ist ihre Theorie dazu?" "Nun, meine erste Theorie ist eine Invasion einer uns bisher unbekannten Spezies, die von einflußreichen Kräften auf Lomatia geheimgehalten wird. Diese Theorie erklärt das feindselige Verhalten der Lomatier. Unglücklicherweise läßt sie eine Menge Fragen offen." "So ist es. Nicht zuletzt jene, wie Sie enttarnt wurden und warum man es sich gelegen sein ließ, Ihnen diesen Umstand mitzuteilen." "Ich bin nicht einmal sicher, daß sie mich enttarnt haben", sagte ich nachdenklich. "Es klang mehr wie ein Vorwand als wie eine Drohung." "Hoffentlich haben Sie recht. Es gibt zur Zeit nur eine terrafeindliche Gruppierung, die an Ihnen genauso viel, wenn nicht mehr Interesse hat als an den ...bekannteren Mitgliedern des Korps." "Das Energiekommando", sagte ich. Nominell waren die Akonen jetzt unsere Verbündeten, aber als Abwehragent verließ man sich besser nicht darauf. "Wie auch immer", sagte er. "Wie sieht Ihre weitere Planung aus?" "Bis jetzt habe ich mich vor allem bemüht, mir aktuelle Informationen über Lomatia zu beschaffen. Dabei bin ich auf unerwartete Schwierigkeiten gestoßen. Es sieht so aus, als würden sie systematisch unterdrückt, ohne sich offen diesen Anschein zu geben. Datenbankabfragen werden abgelehnt, Text- und Bildmaterial steht nur auf Einwegchips zur Verfügung, so daß eine genaue Analyse schwer möglich ist. Auch meine Versuche, mehr über diese Sensoriumstechnologie herauszubekommen, sind bislang gescheitert. Meine weitere Planung hängt stark davon ab, welche Resourcen Sie mir zur Verfügung stellen. Mit einer Gruppe von Technikern und politischen Analytikern sowie einer Menge Rechenzeit könnte ich vermutlich das Problem klarer abstecken. Aber meiner Ansicht nach wird uns eine direkte Untersuchung mehr nützen. Das bedeutet, wir müssen wieder nach Lomatia -- ohne dieses Sensorium. Ich nehme an, eine verdeckte Landeoperation ist nicht möglich?" "Miß Jamieson, Sie wissen, wie das Imperium zu geheimen militärischen Aktionen auf seinen Welten steht." Das wußte ich. Ich verließ Mercants Büro mit dem Auftrag, einen Weg zu finden mich auf Lomatia umzusehen, ohne eine Regierungskrise auszulösen, aber ohne eine Vorstellung, wie ich das tun konnte. *** Tief in Gedanken kam ich zurück in mein Büro. Noleyn grinste übers ganze Gesicht und zeigte zwei Reihen spitzer, weißer Zähne. Kein gutes Zeichen. "Deine Kreditkartenabrechnung ist da", sagte er. "Hat Niela wieder getratscht?" fragte ich düster. Ich war unfair. Meine Sekretärin war zwar eine Tratschtante vor dem Herrn, aber über wichtige oder vertrauliche Dinge redete sie nicht, und guckte Leute, die derartiges aus ihr herauslocken wollten, nur mit großen violetten Augen an als spräche der Fragende Etruskisch. "Ich habe sie schreien hören", sagte Noleyn. Nicht gut. Niela hatte nicht mal geschrieen, als das Regime von Baras VIII sich durch meine Aussage vor dem Imperiumsrat beleidigt fühlte und zwei Schläger vorbegeschickt hatte. Statt dessen hatte sie die Schläger erst in Grund und Boden gelabert und dann paralysiert, noch bevor die Gebäudesicherheit durch die Tür brach. Ich machte mich auf zu Nielas Büro. Sie hatte mich offenbar erwartet. "Deine Kreditkartenabrechnung von Lomatia", sagte sie. "Und?" fragte ich. "Einhundertachtundzwanzig Solar und ein paar zerquetschte", sagte sie. "*Was*? Gib mir diese Abrechnung. Die sehe ich mir persönlich an." "Solltest du besser. Sie haben dir Geld dafür abgebucht, daß du unanständige Lieder gepfiffen und den Mädchen hinterhergeguckt hast. Sollen wir's anfechten?" "Ich guck's mir *erst* an." Sie drückte mir fünf ausgedruckte Blätter in die Hand. Am Ende stand die Summe. 128,72 Solar. Ich nahm eine leicht grünliche Gesichtsfarbe an. Wie sollte ich das der Rechnungsabteilung erklären? "Ruf' die Kreditkartenfirma an und sag' ihnen, daß wir's anfechten, wenn sie's nicht bis auf den letzten Soli aufschlüsseln", sagte ich. "Und frag' mal freundlich, ob es in letzter Zeit öfter Probleme mit lomatischen Rechnungen gegeben hat." Dann war ich draußen und brüllte nach Noleyn, er sollte sich sofort mit unserer Rechnungsstelle und mit der LSCF in Verbindung setzten und Montoyas und Jeffersons Spesenabrechnungen anfordern. Nachdem ich meine Abteilung in Aufruhr versetzt hatte, zog ich mich an meinen Schreibtisch zurück und starrte noch ein bißchen die Abrechnung an. 128,72 Solar. Aus dem Gedächtnis schrieb ich auf, an welche Ausgaben ich mich erinnerte (Hotel, Essen, Andenken, Besichtigungen, Fahrzeugmiete), nahm das mal zwei, weil ich nicht genau auf meine Ausgaben geachtet hatte und kam auf acht Solar. Ich nahm mir die Abrechnung vor und strich alle Posten, die Sinn machten, und einige, die keinen Sinn machten, mir aber bewußt gewesen waren, wie die zehn täglichen Soli Sensoriumsmiete, Standard Configuration. Ich suchte nach den Posten für die DeLuxe Maximum Configuration und fand sie nicht. Dafür fand ich einen Posten von 83,50 Solar dafür, daß ich drei Tage lang mein eigenes Gesicht getragen hatte. Wenn ich Mercant davon überzeugen konnte, daß ich so viel wert war, würde sich mein Sold glatt ... ich rechnete ein wenig... verzehnfachen? Irgend jemand auf Lomatia verdiente entschieden zu viel Geld. Ich schickte Noleyn ein Memo mit dem Auftrag, herauszufinden, wer das war. Blieben noch immer über dreißig Solar, von denen mir völlig unklar war, wo die hingegangen waren. In der Abrechnung stand etwas von "Lizenzen", "Beteiligungen", "Gebühren" und "Aufwandsvergütungen". Hatte mir jemand eine Waschmaschine mit Rückwärtsgang angedreht, während ich nicht geguckt hatte? Plötzlich mußte ich an Sonia denken, die Schauspielerin werden wollte und sich nicht leisten konnte, die Gesichter der Menschen um sie herum anzusehen, oder die Platten der Rolling Stones zu hören. An den Portier, der sich nicht leisten konnte, das Bild seiner Tochter zu sehen, oder auch nur ihren Namen auszusprechen. An ein Haus, das abgerissen wurde, weil der Besitzer dem Architekten kein Geld schicken wollte. Das durfte doch nicht wahr sein. Das gab keinen Sinn. Oder? *** Ich erwog, noch einmal zu versuchen, aus den unkooperativen Datenbanken ein paar Infos herauszuquetschen, entschied mich dann dagegen, und bat Niela, mir eine Liste von Kosmojuristen, Verfassungsrechtlern und interplanetaren Anwälten herauszusuchen, die Lomatia als ihr Fachgebiet hatten. Inzwischen war es Nachmittag geworden. Ich hatte genug und ging nach Hause. Meine Dienstwohnung war zu weiß und zu weitläufig und zu still. Also schmiß ich mich in Räuberzivil und nahm ein Taxi ins Village runter. Nicht so schön, nicht so bunt, nicht so clever wie Lomatia. Aber real. In den Musikkneipen hörte jeder die Musik. In den Discos wurde getanzt. Hunderte bunter Plakate warben für unbekannte Acts, für Theatergruppen. An alten Häusern waren polierte Stahltafeln, die graviert den Namen des Architekten und die bedeutenden Daten in der Geschichte des Hauses enthielten. Im Goshunpark sangen drei Männer in roten Sarongs alte Hymnen. Ich warf ihnen fünf Soli in die Sammeldose. Im "Georgina's" war Poetry Slam, und eine Frau mit floureszierenden blauen Haaren und Fingernägeln rotzte Geschichten von Zorn und verlorener Hoffnung ins Mikro, schrie dem Publikum zu, und auf einmal wußte ich, warum Lomatia so schrecklich irreal, so traumartig und fern gewesen war, wieso all seine Kunstfertigkeit keine Bedeutung gehabt hatte: Weil man dort allein war. Weil niemand das, was man sah, was man hörte, teilte. Weil niemand mit einem sprach. Kunst, dachte ich, während der nächste Dichter aufs Podium kletterte, ein junger Mann ganz in schwarz und silber, ist Kommunikation. Kunst will reden, will gehört werden, will Reaktionen hervorrufen. Ich wünschte, ich könnte dichten, dachte ich, ich wünschte, ich könnte mich da vorne hinstellen und erzählen, was ich gesehen habe und es die Leute verstehen machen, so wie der junge Mann, der eine hypnotische Sestina skandierte als sei er von Trommeln gezogen. Aber ich kann nicht dichten, und so machte ich mich davon in eine kleine Disco. Am Anfang tanzte ich für mich alleine, aber auch das, fiel mir auf wie nie zuvor, ist nicht "allein": es ist für das Publikum, und ich alberte herum, flirtete, tanzte mit jedem, der mich aufforderte und ein paar, die es nicht taten, ließ den Rhythmus, der uns alle verband, mich wärmen wie ein Herdfeuer. Der Laden spielte um vier Uhr nachts seinen Rausschmeißer, und ich spürte, wie es mir vor meiner leeren Wohnung, wo es nur das zu sehen gab, das ich ausgewählt hatte, graute. Ich bedauerte, daß ich ein Angebot "noch auf einen Kaffee mitzukommen" ausgeschlagen hatte und lief stattdessen durch die Stadt, die sich dem Morgen zudrehte. Um halb sieben war ich wieder in meinem Büro, duschte dort und zog mich um und machte ein Nickerchen hinter meinem Schreibtisch, aus dem mich um acht Niela weckte: Sie hatte die Kreditkartenabrechnung, die Tageszeitung und die Liste der Anwälte. Ein Blick auf mein Gesicht, und sie setzte einen Kaffee auf. Und wie halb Terrania es um diese Uhrzeit tat, trank ich Kaffee und las die Zeitung, Teil der Welt. Teil *einer* Welt. *** Ich packte die Kreditkartenrechnung in die Ablage "offene Vorgänge", sagte Niela, sie solle unter den Anwälten einen finden, der am nächsten Tag zu sprechen wäre, und räumte meinen Eingangskorb auf. Die psychotrophe Epidemie auf Epsilon ging an die Kosmomedizinische, der Umsturzversuch auf Septima ans Imperium, der Handelskrieg zwischen Mareteratos und Tevalinotis... ich überlegte und schickte ihn erst mal eine Abteilung weiter. Eine erneute Anfrage der LSCF -- ach nein, andere Baustelle, die wollten nur eine Auskunft in Bezug auf eines der normalen Systeme, die sich beklagt hatten, *nicht* aufgenommen zu sein. Ich leitete die Anfrage ans Archiv weiter. Nach dem Mittagessen meldete sich Niela und sagte, sie habe den gewünschten Anwalt gefunden, und er wolle die Unterlagen haben. Ich machte die Unterlagen fertig, drückte sie einem Büroboten in die Hand, ging nach Hause und legte mich aufs Ohr. *** Am nächsten Tag war ich frisch wie der junge Morgen, und Niela lächelte wohlwollend, offenbar in der Hoffnung, daß das einreißen würde. *** "Lomatia", sagte der Anwalt, der nach dem Mittagessen aufgetaucht war, "hat sehr strenge Gesetze in bezug auf geistiges Eigentum. Der Eigentümer eines Produkts schöpferischer Tätigkeit hat die volle und ausschließliche Kontrolle darüber, wann, an wen und in welcher Form es verbreitet wird." "Da ist ja auch nichts gegen zu sagen", sagte ich, etwas erschöpft von dem Vortrag. "Mich -- und unsere Rechnungsabteilung -- interessiert zuallererst, ob diese Abrechnung nach lomatischem Gesetz so korrekt ist, daß sie sie anerkennen müssen. Unsere eigene Rechtsabteilung sah sich nicht imstande, die entsprechenden Gesetzestexte nachzuschlagen." "Nun", sagte der Anwalt mit einem Gesichtsausdruck, der eher zu einem geplagten Streifenpolizisten gepaßt hätte als zu einem wohlbezahlten Schlipsträger, "auch Gesetzestexte gelten nach lomatischem Recht als schöpferische Arbeit, und Lomatia hat sich entschlossen, sie nicht außerhalb des Planeten zur Verfügung zu stellen." Jetzt guckte ich wahrscheinlich wie ein geplagter Streifenpolizist "Ich dachte, seit Hammurabi seine Gesetze in Stelen meißeln ließ, sei es Konsens auf zivilisierten Welten, Gesetzestexte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen?" "Oh, sie *sind* der Öffentlichkeit zugänglich", sagte der Anwalt. "Wenn Sie Lomatia besuchen und eine kleine Gebühr entrichten." "Aha", sagte ich. "Wie klein?" "Mein Studium lomatischen Rechts ist eine Weile her", sagte der Anwalt. "Vor zwölf Jahren waren es 8,3 Soli pro Seite wissenschaftlichen Textes, den man in der Bibliothek las. Inzwischen gibt es keine Bibliotheken mehr, soweit ich es verstanden habe, und man zahlt für Texte nicht mehr pro Seite, sondern pro Seite mal Lesevorgang." Ein Solar für zwölf Seiten. Ich überschlug im Kopf die Summen. Er kam mir zuvor. "Wenn das Imperium nicht für meine Ausbildung bezahlt hätte, hätte ich mich auf einen anderen Planeten spezialisiert." "Mögen Sie einen Kaffee?" fragte ich. "Ich habe den Eindruck, das hier wird länger dauern." *** Jeder Kriminalist weiß, daß Verbrecher, als Berufsgruppe, nicht sehr intelligent sind. Ein Verbrechen zu begehen bedeutet Streß, und ein Mensch im Streß macht dumme Fehler. Verbrecher begehen schwere Verbrechen, um leichte zu vertuschen, und auffällige, um welche zu verbergen, die ohnehin nie ein Mensch bemerkt hätte. Lomatias Fehler war seine Gier. Wenn sie sich damit, die Leute, die sie für blöd verkauften, auch noch dafür bezahlen zu lassen, innerhalb der Grenzen des Glaubhaften und Bezahlbaren gehalten hätten, wäre der Schwindel nie aufgeflogen. Die ganze Geschichte mit "geistigem Eigentum" war ja durchaus überzeugend. Mir gefällt's ja auch nicht, daß irgendwelche Pappnasen heute meine Songs verhunzen und mich nicht mal dafür entschädigen. Andrerseits ist es länger her, daß ich sie geschrieben habe, als es damals her war, daß Tommy Makem die Songs geschrieben hat, die ich verhunzte, also kann man wohl von ausgleichender Gerechtigkeit sprechen... aber trotzdem. Nur, was auf Lomatia abging, ließ sich, Anwalt hin oder her, nicht mit dem Schutz von geistigem Eigentum begründen, das mußte doch ein Blinder sehen... was machten überhaupt Blinde auf Lomatia? Kriegten die Ermäßigung? *** All das half mir mit meinem zentralen Problem nicht weiter: Ich verdächtigte die lomatische Regierung, mit einer unbekannten intelligenten Spezies gemeinsame Sache zu machen, anstatt Erstkontakte, wie es sich gehörte, dem Imperium zu melden. Ich wußte, daß sie eine LSCF- Sachbearbeiterin und einen Kolonialinspektor hatten verschwinden lassen, und vermutete als Grund, daß die beiden zum Schweigen gebracht werden sollten. Ich vermutete zuviel, wußte zu wenig und war generell angeätzt, ich wollte wieder nach Lomatia, um mich dort umzusehen. Das "Umsehen" war das Problem. Solange ich das verflixte Sensorium auf dem Kopf hatte, konnte ich ebensogut blind sein. Und wenn ich es abnahm, würde Alarm gegeben. Davon abgesehen hatte ich Hausverbot, solange ich mein Gesicht trug. Ich ent- und verwarf eine Menge Pläne, in denen illegale Luftlandeunternehmen eine zentrale Rolle spielten. Dann tat ich das gleiche mit Plänen, in denen sabotierte, umkonfigurierte oder gecrackte Sensorien vorkamen. Sinnlos, solange ich nichts sah, konnte ich die Teile nicht cracken, und davon abgesehen war mein letzter Kurs in Kryptographie auch schon wieder zehn Jahre her -- eine moderne Verschlüsselung würde mich vor beträchtliche Probleme stellen. Dann überlegte ich, unabhängige Agenten, Mikrokameras und dressierte Tiere zu involvieren, und schlug es mir mit gewisser Erleichterung wieder aus dem Kopf. Ich wollte selber vor Ort sein, und die Rechnungsabteilung würde mir solche Extravaganzen nicht durchgehen lassen. Es war schon dunkel, als ich mißgelaunt aus meinem Büro stapfte, um mich gepflegt zu betrinken. In der Nacht hatte ich einen Alptraum. Ich träumte, man habe mir den Kopf abgeschnitten und ich irrte blind und taub in einer endlosen schweigenden Finsternis herum. Ich erwachte schweißgebadet und panisch zwei Stunden vor dem Morgen. Und dachte wieder darüber nach, auf Lomatia blind zu sein. Ein Visor, wie Blinde es tragen, müßte eigentlich so ähnlich funktionieren wie diese Sensorien. Aber die Sensorien, anders als Visors, waren nicht mit Nerven verdrahtet, sondern lieferten nur funktionierenden Augen und Ohren Informationen. Zwei Tage lang vergrub ich mich in technischen Spezifikationen und Übertragungsprotokollen, dann schrieb ich die lomatische Tourismusbehörde an und erhielt eine sehr interessante Information: Im Prinzip konnte ein Sensorium Input für einen Visoradapter liefern, aber aufgrund von Lizenzproblemen waren die Protokolle von Visors, die in den letzten acht Jahren hergestellt waren, mit denen von Sensorien nicht kompatibel. Statt dessen gab es einen speziellen Adapterchip, der zwischen Visor und Sensorium geschaltet wurde, und sowohl die Indentifizierung gegenüber dem Netzwerk wie auch die Kostenberechnung für die durchlaufenden Daten vornahm. Ich telefonierte mit Cavanaugh Corp., einem Hersteller von High-End Sensorikhardware, die gelegentlich streng geheim SolAb Agenten aufrüsten, und machte einen "Beratungstermin" aus. Das war ein Glückstreffer. Cavanaugh war äußerst schlecht auf Lomatia zu sprechen, die anscheinend Cavanaughs normierte Schnittstellenformate unter ihrem eigenen Namen patentiert hatten. Der bloße Verdacht, daß die SolAb mit Lomatia ein Hühnchen rupfen wollte, reichte, und Cavanaugh schickte seinen Entwicklungsleiter, seinen Juniorchef und seine Chefkryptologin. Von letzterer erhielt ich die interessante Info, daß kryptologische Forschung und Entwicklung auf Lomatia bereits vor über zwanzig Jahren unter Strafe gestellt worden waren. Anscheinend fürchteten sie, daß ihre Bevölkerung ihnen auf die Schliche kommen würde. Der angenehme Nebeneffekt davon war, daß die Verschlüsselungen, die die Sensorien benutzten, auf zwanzig Jahre alten Cavanaugh-Algorithmen beruhten. Ich legte meinen Plan Mercant vor und bekam grünes Licht. *** Danach ging's in die Abteilung für medizinische Modifikationen, auch "Frankensteins Labor" genannt. Die Leute sind unheimlich. Sie haben vor langer Zeit mal als Maskenbildner für die Abwehr angefangen. Inzwischen könnten sie vermutlich Gucky in einen Ertruser verwandeln. Eine Frau von knapp einsfünfzig, mit einem weißen Kittel, Sportschuhen und einem manischen Grinsen empfing mich: Dr. Aysa Mbuto, medizinische Leitung. "Solveig Jamieson", sagte sie, "Ich habe schon viel von Ihnen gehört." "Nur Gutes, hoffe ich." "Wie man's nimmt. Ich werde Ihnen weder Tonuspillen noch Gewichtsreduktion verschreiben. Ich mag mein Gesicht so, wie es ist." "Das ist 32 Jahre her", sagte ich indigniert. "Und Teil des Legendenschatzes der MeMod. Also, lassen Sie mich sehen. Temporäre Blindheit. Muß die echt sein?" "Ja." "Und ein Visor-Anschluß. Das ist eine kompliziertere Operation. Wollen Sie bei der Gelegenheit weitere Interfaces installiert haben?" Hmmmm. "Sagen Sie mir, was es gibt, dann finde ich raus, was ich bezahlt bekomme. Ein Extrahirn haben sie nicht im Angebot?" Sie schüttelte bedauernd den Kopf. "Logisch denken müssen sie schon selber. Ein photographisches Gedächtnis können wir ihnen allerdings installieren." "Mit Löschfunktion?" "Ohne." "Nein, danke. Ich muß mich nicht tausend Jahre daran erinnern, was mich vor zwei Tagen morgens aus dem Spiegel angesehen hat." "Sie wollten ohnehin ein neues Gesicht. Sollen wir es permanent machen?" "Unterstehen Sie sich! Ich lasse mir mein gutes Aussehen doch nicht von jedem zerstören." Dr. Mbuto machte sich Notizen, dann reichte sie mich weiter an den Neurologen, der die Untersuchungen für den Visor machte und furchterregend klang, und schließlich an die Designerin, die mein Teilzeitgesicht machen sollte. Die Designerin selber trug ein absolutes Oberklassegesicht, offenbar als Werbung für ihre Kunst. "Wunderschön kann ich leider nicht gebrauchen", sagte ich. "Das ist in Ordnung", sagte sie. "Wunderschön ist auf Dauer langweilig. Nehmen Sie etwas mit Charakter, damit fühlen Sie sich wohler." Wir entschieden uns für einen vorderasiatischen Typ, eine Frau im frühen mittleren Alter. Damit sah ich erheblich anders aus, obwohl die tatsächlichen Modifikationen gering waren. Ehe ich ging, fiel mir noch etwas ein. "Das Design ist nicht zufällig auf einem vorhandenen Typ basierend, oder?" "Ich mache nur Originale", sagte die Designerin indigniert. "Obwohl Sie ein bißchen aussehen werden wie Farah Diba." Der Name sagte mir nichts. "Ist die tot?" fragte ich. "Seit dem 21. Jahrhundert. Sie wird sich also kaum beschweren, daß Sie mit einem Gesicht rumlaufen, das von ihr inspiriert ist. Davon abgesehen hatte sie Kinder." Ich mußte lachen. Ich hätte Herrn Anwalt Namenlos auf Lomatia erzählen sollen, Solveig Jamieson sei meine Großmutter gewesen. Urgroßmutter? Nicht einmal die Lomatianer konntem einem verbieten, seiner Urgroßmutter ähnlich zu sehen, oder? "Ist Ihnen bewußt", sagte die Designerin nachdenklich, "daß Sie zu einem sehr seltenen Phänotyp gehören? Es gibt kaum noch natürliche Blondinen auf Terra, und in Kombination mit dieser Hautfarbe... das habe ich noch nie gesehen. Wenn Sie noch blaue Augen hätten... naja, man kann nicht alles haben. Könnte ich vielleicht ein paar Bilder von Ihnen machen? Ich habe in meiner Privatpraxis immer wieder Kundinnen, die ein 'terranisches Blond' wollen, und selber nicht wissen, wie das eigentlich aussehen soll. Selbstverständlich würden Sie dafür bezahlt." "Bezahlen Sie meine Zeit", sagte ich, "Nicht mein Aussehen. Ich habe ohnehin nichts damit zu tun, es stammt von meinen Eltern. Und auch die sind seit dem 21. Jahrhundert tot", fügte ich hinzu. "Oh, und ich brauche die Erlaubnis von meinem Chef, fürchte ich." "Ja, natürlich." In ihren Augen war ein hoffnungsvoller Blick. Wahrscheinlich dachte sie darüber nach, wie viele seltene Phänotypen es noch unter den Unsterblichen gab. Nur halb im Scherz fragte ich, "Wer müßte eigentlich wem Tantiemen zahlen, wenn Sie mein Gesicht als Designgrundlage nehmen?" Sie dachte nach. "Solange ich es als *Grundlage* nehme, niemand niemandem. Und selbst bei einer exakten Kopie... wie Sie sagten, Sie haben es nicht gemacht. Sie haben es von ihren Eltern. Und auch die haben Ihr Aussehen nicht *gemacht*, im Sinne einer, hm, kreativen Leistung. Nein, ich denke, daß unter keinen Umständen irgendwelche Ansprüche da wären, egal in welcher Richtung. Wollen Sie das schriftlich?" Ich schüttelte den Kopf. "Es ist eine akademische Frage. Aus... gegebenem Anlaß." Sie schnaubte. "Waren Sie auf Lomatia?" Hatte jeder außer mir von diesem Planeten gehört, fragte ich mich. "Wieso?" "Die sind alle verrückt dort", sagte sie ärgerlich. "Stellen Sie sich vor, mir haben sie mit einem Prozeß gedroht, weil ich einer Kundin auf deren Wunsch kupferrotes Haar und grüne Augen zu dunkler Haut verkauft habe... und sooo" sie beschrieb die Kurven mit den Händen, "eine Büste. Keine Hüften allerdings. Hrmp. Sagten, sie hätten ein Schutzrecht auf diesen Typus. Ich erklärte ihnen, daß der Typus -- mit Hüften, allerdings -- auf Proxima VII und Kojnin natürlich vorkommt. Und auf Epsal, wenn auch bei wesentlich anderem Körperbau." "Wie ist es ausgegangen?" fragte ich. Sie lachte. "Es wurde auf Terra verhandelt. Der Epsalische Botschafter war da. Mit Ehefrau. Der Richter hat die ganze Sache niedergeschlagen und gedroht, den Lomatier wegen Mißachtung des Gerichts einzusperren." "Sagen Sie mir den Namen dieses Richters", sagte ich. "Den brauch' ich vielleicht noch." *** Mercant lehnte all die kleinen Tricks ab, die ich gerne zusätzlich zum Visoranschluß eingebaut haben wollte. "Sie sollen sich auf einen Einsatz vorbereiten und nicht einkaufen gehen!" Unerwarteterweise hatte er nichts dagegen, daß ich mich abphotographieren ließ. Vielleicht war es ihm ganz recht, wenn wir nicht mehr so selten aussahen. *** Ich begann, mich in Blindheit zu üben. Es war unangenehm, und ich rannte in eine Menge Gegenstände. Ein- oder zweimal verwandelte sich die Finsternis hinter meiner dicht schließenden Brille in gleißendes Licht in meinem Kopf, mein Magen drehte sich um, und ich hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu treten. Schließlich gab ich die Versuche auf. Die künstlich induzierte Blindheit würde ja nur sieben Tage anhalten, und ich hätte den Visor. *** Trotzdem ging mir erheblich die Muffe, als fünf Wochen später der Arzt das Inject Pad auf meine Augen drückte. Es wurde dunkel. Und es blieb dunkel. Sieben Tage, dachte ich, und schob mir eilig den Visor auf. Die Dunkelheit blieb unverändert, nur daß sie jetzt Navigationsinformationen enthielt. Ich kämpfte einen hysterischen Anfall nieder. "Lassen Sie sich etwas Zeit", sagte der Arzt. "Ihr Gehirn muß erst lernen, die Visor-Daten zu interpretieren. In 24 Stunden ist das für sie das normalste der Welt." Ich nahm ein Taxi nach Imperium Alpha und verkroch mich in meinem Zimmer. ############################# # TEIL 3: HINTER DEN KULISSEN ############################# ### 6. Kapitel ### Um 7:50 Normzeit am 25. Juni sagte die freundliche Stimme des Travel Managers der "Southern Cross", daß wir uns jetzt im Anflug auf Lomatia befänden. Sie sagte auch, daß das Panoramadeck leider aufgrund von lokalen Bestimmungen nicht benutzt werden könnte. Nicht, daß Frau Nasrin Eren auf die Idee gekommen wäre, das Panoramadeck aufzusuchen. Schließlich war sie blind, und der überwältigende Anblick einer lebenden Welt, die sich blau und weiß und grün, von Lichtern gesprenkelt aus der ewigen Nacht des Weltalls schälte, war ihr verwehrt. Statt dessen packte ich sorgfältig meine Sachen. Der Visoranschluß juckte. Immerhin entstanden in meinem Gehirn akkurate, wenn auch nicht naturalistische Bilder meiner Umgebung. Das war besser, als wenn ich schlief, wenn surreale Farben durch meine Gedanken schwammen, nur um wieder und wieder von einer brennenden Helligkeit verschlungen zu werden. Meine Sehnerven schienen von diesem ganzen Blödsinn nicht besonders viel zu halten. Vielleicht war es auch eine allergische Reaktion auf das Medikament, dem ich meine temporäre Blindheit verdankte. Wieder kämpfte ich die Panik nieder. Ich war müde. Ich hatte viel zu wenig geschlafen in den vier Tagen, seit ich auf Terra die Injektion bekommen hatte. *** Am Morgen nach der Injektion war ich in Imperium Alpha aufgewacht, panisch und desorientiert und in der Überzeugung, einen fürchterlichen Fehler gemacht zu haben. Als ich meine Gedanken sortiert hatte, meine unbekannten Alpträume in die mentale Rundablage verschoben und einen Tee getrunken, war es halb sechs gewesen, und die Visordaten fingen an, Sinn zu machen. Mein Schiff, die "Southern Cross", ein schneller Passagierliner, ging erst am Nachmittag. Ich nutzte die Zeit, um auszutesten, wie gut meine Reaktionszeiten und meine Körperkoordination waren, und stellte zu meiner Überraschung fest, daß sie mit dem Visor tatsächlich marginal besser waren, als wenn ich meine eigenen Augen benutzt hätte. Vielleicht würde ich doch nach meiner Rückkehr einen Bewegungsvektoranalyzer in den neuralen Adapter einbauen lassen. Auf eigene Kosten, wenn Mercant zu geizig war, um mir Spielzeug zu kaufen. Gegen halb neun war jemand auf die Schießbahn gekommen, den ich nicht identifizieren konnte. Er mich anscheinend auch nicht, jedenfalls blaffte er mich an, wer ich wäre und was ich hier zu suchen hätte. Auch seine Stimme kannte ich nicht, was nicht viel bedeuten mußte -- ich kam nicht allzuoft in die "Special Employees Facilites" in Imperium Alpha, und wenn, dann meistens nur, um Fortbildungen zu machen, mit neuer Hardware zu spielen und mit alten Mutanten rumzuhängen. "Seien Sie versichert, daß ich nicht hier wäre, wenn ich hier nichts zu suchen hätte", sagte ich, sicherte die Trainingswaffe, legte sie ab und streckte dem anderen die Hand hin. "Solveig Jamieson, Solare Abwehr." Ich brauchte keine Augen, um die Irritation des Neuankömmlings zu spüren, der sich scheinbar fragte, wie eine bloße Abwehragentin ins Allerheiligste der terranischen Unsterblichen kam. Da er keine Anstalten machte, meine Geste zu erwidern, steckte ich meine Hand wieder weg. "Mit wem habe ich das Vergnügen?" Seine Irritation wuchs. Anstatt sich vorzustellen, sagte er, "Es ist mir neu, daß die SolAb Krüppel einstellt." Ich fügte einen Computeruplink meiner Einkaufsliste hinzu. Dem Kerl hätte ich jetzt gerne seine Akte heruntergebetet. "Machen Sie sich nichts draus", sagte ich. "Sie sind noch jung -- Sie werden noch viel Zeit haben, zu lernen, wie der Laden hier läuft. Guten Tag." Ich packte mein Zeug weg und machte mich auf, um Betty zu suchen. Betty saß mit Gucky zusammen, guckte Cartoons und mampfte Bananenchips. Sie sahen nicht mal auf, als ich hereinkam. Betty wies nur auf einen Sessel und schob mir die Chips rüber. "Hi Solveig. Setz' dich. Nimm' dir." Dabei muß ich in ihr Sichtfeld geraten sein, denn das nächste, was sie sagte, war, "Neuer Look? Steht dir. Nicht so auffällig." Betty selber ist honigblond und blauäugig. "Uneigennützig habe ich mein Bild einer kosmetischen Designerin als Vorlage zur Verfügung gestellt", sagte ich. "Wenn du das auch tust, sind wir bald bis über die Ohren in Blondinen." "Ich denk' drüber nach. Was ist das da für ein Gerät?" "Visor", sagte ich. "Diese Persona ist blind." "Scheiße", sagte Betty mitleidig. "Andererseits erspart dir das den Anblick eines Mausbibers in einem Frotteepyjama. Mit rosa Häschen drauf." "Ruhe da", flötete Gucky. "Ich will das sehen!" "Pech", sagte Betty trocken. "Kannst du mir sagen, wer der Kerl ist, der jetzt gerade auf der Schießbahn ist?" fragte ich. "Australischer Akzent." "Garth-" begann Gucky. "Morginie", beendeten sie im Chor. Betty projizierte das Bild eines jungen, dunkelhäutigen Mannes mit schwarzen Locken und breiten Schultern in meinen Kopf. Ich verdächtigte sie, an dem Gesichtsausdruck ein bißchen editiert zu haben. So blöd konnte keiner gucken. "Mutantenkorps", ergänzte Gucky. "Heilige Scheiße. Seit wann? Was?" "Ein Späher", sagte Betty. "Wie Wuriu, nur nicht so gut. Geht mit der nächsten Fuhre nach Wanderer. Außerdem ist er 'ne Sportskanone und bildet sich was drauf ein." Das geistige Bild rümpfte die Nase über die telekinetischen Couchpotatos, die am Samstag morgen Cartoons guckten. "Was hat er angestellt?" Ich stellte telepatisch unsere Konversation in dem Raum. Betty johlte. Gucky pfiff einen Träller. Dann guckten wir weiter Cartoons. *** Die "Southern Cross" war ein kleineres Schiff, und entsprechend ging das Aussteigen erheblich zügiger vor sich, als es auf der "Andromeda" gegangen waren. Dem Gerede um mich herum nach war ich vor allem von Geschäftsleuten und ein paar High-End Touristen umgeben. Mrs. Eren selber war unabhängige Handlsagentin, zur Zeit unterwegs im Auftrag des Bildungsministeriums von Tamoa XIII, um über Lizenzen für ein paar hundertfünfzig Jahre alte Bildungs-Vids zu verhandlen, die auf Tamoa XV gedreht worden waren und sich nun, ein paar Firmenpleiten und politische Umstürze später, im Besitz lomatischer Medienzaren befanden. Da Tamoa XIII bettelarm und gottverlassen war, unterstützte der imperiale Volksbildungsfonds die Mission mit einem Zuschuß, so daß Mrs. Eren gleichzeitig kompetent, unwichtig und wohl finanziert war. Noch 56 Stunden, bis der Effekt der Injektion abklang und mein Sehvermögen zurückkehrte: Gut zwei Tage. Bis dahin sollte ich in die Wege geleitet haben, wofür ich offiziell gekommen war. Um zehn Uhr vormittags stand ich also beim lomatischen Zoll, der Taschencomp und Notizbuch konfiszieren würde. Geschäftsreisende mußten, anders als Touristen, nicht Schlange stehen, sondern konnten in bequemen Sesseln herumlungern, extraplanetare Zeitungen lesen und Kaffee trinken, bis sie hereingebeten wurden. Ich hatte gerade den ersten Kaffee geleert, als ich auch schon dran kam. Mrs. Eren hatte sich selbstverständlich informiert, und gab bereitwillig ihre Aufzeichnungsgeräte ab, bestand aber darauf, lizensierte Ersatzgeräte zu bekommen. Anders als Flora Lebowski war sie im stillen beeindruckt von den Möglichkeiten zu Industrie- und Handelsspionage, die sich Lomatia hier offenhielt. "...selbstverständlich haben nur Sie und das Justizministerium den Codeschlüssel..." erzählte der junge, hilfsbereite Mann, der Mrs. Eren bei ihren Angelegenheiten half. "Bitte verwenden Sie keine nicht von uns lizensierten Verschlüsselungsalgorithmen auf den Geräten. Alles was Sie benötigen, wird Ihnen zur Verfügung gestellt." Ebenso hilfsbereit versicherte er, daß mein Visor mit den Sensorien kompatibel wäre, was mir für einen Moment wirkliche Sorgen machte, aber bald stellte sich heraus, daß ich und Cavanaugh Recht hatten: Es ging nicht. Der junge Mann holte seinen Chef, der nickte wissend, machte einige technische Untersuchungen, die nicht zuletzt dazu dienten, festzustellen, daß ich wirklich auf die Simulation optischer Impulse durch den Visor angewiesen war. Dann kriegte ich wie vorhergesehen einen Adapterchip, der die Visordaten modulierte und protokollierte, und ein Nur-Audio-Sensorium, das den vorhersehbaren Blödsinn mit meinem Gleichgewichtsinn anstellte. Der Anblick, als ich den Raumhafen verließ, war wesentlich weniger pandämonisch, als er es für Flora gewesen war. Mein Visor zeigte mir eine gewohnte Straßenszene: Leute, Elektrowagen und -roller, Häuser, Andenkenläden, öffentliche Infoterminals, Reklametafeln und unkoordiniert umhertaumelnde Touristen, die die Einheimischen nervten. Ich nahm ein Taxi zum Candra, einem der zahllosen Franchise-Hotels, die im ganzen Imperium gleich sind, und machte mich daran, Mrs. Erens Job zu erledigen. Dann aß ich im Hotelrestaurant zu Abend, trank in der Hotelbar einen Gin-Tonic und ging früh zu Bett. Noch 45 Stunden. *** Ausnahmsweise schlief ich ohne Alpträume und bis acht Uhr morgens durch. Auch die Badezimmer des Candra waren eine Neutrale Zone, und wesentlich geräumiger als die in der Absteige, wo Flora gewesen war. Ich meditierte über die Form der Kloschüssel und fragte mich, wie der Kloschüsseldesigner wohl an sein Geld käme. Wahrscheinlich zahlte man mit jeder Badezimmerbenutzung eine Pauschale. Mehr, wenn man sich betrunken hatte und die Kloschüssel eingehender betrachten mußte, als einem lieb war. Ich bemerkte, daß ich keine Lust hatte, das Bad zu verlassen, und sah zu, daß ich in die Gänge kam. Nach der klimatisierten Luft im Hotel war der Geruch nach Staub und Blüten, der mich empfing, als ich aus der Eingangshalle trat, ein sensorischer Höhepunkt. Ich ließ mir einen Stadtplan einblenden (*Hübsche* kleine Technologie. Haben wollen.) und machte mich auf den Weg zu dem ersten von Mrs. Erens Terminen. Wie nicht anders zu erwarten, machte ich keine Fortschritte. Seit meinem letzten Besuch auf Lomatia war es sommerlicher geworden, und am Nachmittag war die Luft schwer und ermüdend. Ich setzte mich in ein Café an einem der landschaftsgeformten Seen, ließ mir einen Eistee bringen, und schaltete dann Visor und Sensorium auf Null. Von einer Sekunde zur anderen umgaben mich völlige Dunkelheit und Stille. Der Eisteebecher, mit Kondenswasser bedeckt, verbrannte meine Handflächen mit seiner Kälte. Die Luft war flüssig und schwer wie Parfüm, schwappte über meine Haut, ich spürte wie jedes Härchen auf meinen Armen sich einzeln aufrichtete, spürte mein Leinenkleid rascheln, als ich mich bewegte, ein gefühltes Geräusch ohne akustische Komponente. Jemand ging an meinem Tisch vorbei, ich spürte den Luftzug, roch grüne Äpfel: Der Kellner mit einem Obstsalat, ein junges Mädchen mit einem Apfelparfüm? Mit der flachen Hand auf der Tischplatte konnte ich spüren, wenn jemand weiter entfernt vorbeiging oder ein Elektrowagen vorbeifuhr. Ich schaltete das Sensorium wieder ein. Die Quelle des Apfelgeruchs konnte ich nicht identifizieren. Anschließend bummelte ich durch die Einkaufsstraßen. Das Audiosensorium lallte mir Werbesprüche ins Ohr, bis ich es abschaltete, und die schwerelose Stille genoß. Ich hatte das Gefühl, ein Geist zu sein, oder vielleicht waren alle Wesen um mich herum nur Geister, und ich ein Medium, da ich sie spüren konnte, wenngleich sie unsichtbar und unhörbar waren, entkörperlichte Präsenzen. Eine der Präsenzen war nicht menschlich. Irgendwo über mir, schräg über mir... ich nahm mich zusammen, wendete den Kopf nur wie zufällig. Nichts zu erkennen. In meiner Verwirrung stolperte ich und fing mich mit einer Hand ab. Unter meiner Hand war Gras. Ein Grasbüschel. Und rauher Sand, oder feiner Kies. Ich starrte die Straße an. "Straßenpflaster", sagten die Visordaten. Ein Funkeln von Besorgnis traf mich, ehe ich beginnen konnte, auf allen vieren auf dem Trottoir herumzukriechen, und ich schaltete den Ton ein. "Kann ich Ihnen helfen?", fragte eine Person. Ich ließ mir aufhelfen und bedankte mich. Meine Hand roch nach zerquetschtem Gras. Und nach Blut. Ich hatte mir die Hand aufgeschürft. Auf Sand, oder Kies. Nicht auf glattem Pflaster. "Realität", sagte Nikki, Kaffeehausphilosoph und Vertrauter meiner Schülertage, "ist das, worüber man im Dunkeln stolpert. Alles andere ist Ansichtssache." Das Gras war Realität. Noch 24 Stunden. *** Zurück im Hotel wusch ich mir die Hände, bemerkte im Bad Blutflecken auf meinem Kleid und gab es in die Reinigung. Später ging ich aus, aß in einem Lokal, das in einem Reiseführer empfohlen worden war und bummelte dann ein bißchen in der lauen Sommernacht. Wenn es irgend etwas auf Lomatia gäbe, dachte ich, woran ich mich erinnern würde, war es der Geruch. Staub und Blüten, sogar inmitten der Stadt, zwischen den Glas- und Stahltürmen und - kuppeln, wo kein Fleck Erde und kein Zweig Grün zu sehen war. Ohne die animierten Figuren, die der Adapterchip offenbar nicht interpretieren konnte, hätte ich das Haus, wo mir Anwalt Namenlos verboten hatte, mein Gesicht zu tragen, fast nicht wiedererkannt, nur das Logo des Studios erkannte ich wieder. Ich hob meine Hände zum Gesicht: Nicht meins. Ich wanderte bis zu dem Hotel, wo ich als Flora Lebowski abgestiegen war. Durch ein Fenster konnte ich den Portier sehen, der müde vor sich hin starrte. Ich sah nicht, daß er ein Sensorium aufhatte. Man sah es bei keinem. Diese Information wurde wegeditiert, um die Leute nicht zu irritieren. Wurde von dem Adapterchip, der doch angeblich nur protokollieren sollte, wegeditiert. Genau wie, dachte ich, Informationen über Grasbüschel auf dem Gehsteig. Und Außerirdische. Noch 17 Stunden. *** Es war hell, als ich am nächsten Morgen erwachte, und ich dachte zuerst, es sei wieder der Alptraum, aber das Licht war freundlich. Es sickerte durch den Visor, seltsam überlagert von den Signalen, die der Visor direkt in mein Gehirn fütterte. Mein Sehvermögen kehrte zurück, zehn Stunden vor dem berechneten Termin. Ich beklagte mich nicht. Das Licht erschien mir sehr hell, trotz der dunklen Gläser des Visors, und ich merkte schon, daß ich bald Kopfschmerzen kriegen würde. Besser, es langsam angehen zu lassen. Ich ließ mir das Frühstück aufs Zimmer kommen. Im Bad nahm ich Visor und Sensorium ab. Formen konnte ich noch nicht erkennen, aber unterschiedliche Grade von "hell". Ich glaube, ich war in meinem Leben noch nicht so erleichtert. Den Rest des Vormittags hielt ich die Augen geschlossen und erledigte den Rest von Mrs. Erens Arbeit. Dann lehnte ich mich zurück. Mrs. Eren mußte jetzt warten, bis sich ihre Verhandlungspartner bei ihr meldeten. Und ich mußte warten, bis ich wieder richtig sehen konnte. Alte Visors sind von innen nicht durchsichtig. Moderne Visors aber sind multifunktional. Sie dienen Blinden als Sehhilfe, Kurzsichtigen als Brille, Wissenschaftlern als Mikroskop, Scharfschützen als Zielerfassung, Angebern als Sonnenbrille, und geben auch ganz gute Nachtsichtgeräte ab. Und während der Adapterchip getreulich aufschrieb, was der Visor sah (und was, fragte ich mich, tat er noch?), konnte er nicht wissen, was meine Augen hinter dem Visor sahen. Gegen Mittag ging ich wieder ins Bad und betrachtete nachdenklich die Muster auf den Kacheln, die unterschiedlichen Töne von Blau. Die Formen schienen immer noch ein wenig verschwommen. Ich entschloß mich, einen Mittagssschlaf zu halten, ehe das Warten mich wahnsinnig machte. Um 15 Uhr waren die blauen Muster auf den Kacheln gestochen scharf, in der Mitte erinnerten sie an Lapis, mit ihren gekörnten Dunkelblaus und den winzigen Stücken goldenen Flitters. Glory Hallelujah. Weiter zur nächsten Stufe des Plans. Das Audiosensorium sah aus wie ein Paar Ohrenwärmer. Wenn ich das Bad verließ, ohne es aufzusetzen, würde es Alarm geben. Aber wie der Visor würden auch die Ohrenwärmer nur wissen, wo sie waren und was sie taten -- nicht, ob jemand sie umging. Ich drehte die Dusche auf heiß. Innerhalb weniger Minuten war der Raum in dichtem Nebel verschwunden. Es wäre doch blöd, jetzt erwischt zu werden. Denn schließlich galt die kleine Manipulation, die ich jetzt vorhatte, auf Lomatia als terroristische Aktivität. Wer terrorisierte hier eigentlich wen, fragte ich mich. Ich knickte die Zierleiste des Visors auf. Drinnen war ein winziges Hochleistungsmikrophon, ein Chip, und Werkzeug für Feinarbeiten, das kaum größer war als mein Daumennagel. Mit Hilfe der Lupenfunktion des Visors baute ich alles zusammen und montierte es auf die Innenseite der Ohrenwärmer. Ich setzte den ganzen Klumpatsch wieder auf, schaltete das System auf Null und warf meine Zahnbürste runter. Ein fröhliches Klappern lohnte meine Mühe. Ich editierte eilig ein dümmliches Grinsen aus meinem visorverkleideten ohrenwärmertragendem Gesicht und verließ das Badezimmer. Hallo Lomatia, ab jetzt gelten *meine* Regeln. Das Hotelzimmer war sehr hell. Die Wände ein einförmiges Weiß, wie eine Wintereinöde, kühl und weit und friedlich. Ich schlüpfte in Mrs. Erens Freizeitklamotten, elegante Leinensachen, so bequem und robust wie ein Jiujitsu-Anzug und so dezent in der Farbgebung wie eine terranische Tarnuniform. Dazu leichte Sportschuhe, und eine stabile Schultertasche, für die paar Dinge, auf man nicht unbeaufsichtigt im Hotelzimmer zurückläßt. Dann rannte ich aus dem Zimmer, wie ein Kind, das endlich mit den Hausaufgaben fertig ist und spielen gehen darf. Ich war zu jitterig, um auf den Aufzug zu warten, sprang stattdessen die Treppe hinunter. Hinunter, hinunter, hinunter, zwanzig Stockwerke, durch die hintere linke Ecke des Foyers zu der doppelten Glastür und hinaus -- Ich blieb wie angewurzelt stehen. Der Geruch war da. Blumen und Staub. Und die Blumen waren da, wuchsen aus jeder Ecke, in jedem Winkel, kletterten an Wänden hinauf, überwucherten den Mittelstreifen der Straße, gelbe und rosa und violette und blaue Blüten, und der Staub war da, vom Wind sanft über den ausgeblichenen und geprungenen Asphalt getrieben, und da war auch die Stille, die ich immer wieder gehört hatte. Keine Werbebanner und keine Marktschreier, keine Bilder und keine Plakate, und die Häuser aus dünnem Bauholz, wie Filmkulissen, die nur die Farbe in der Luft hielten. Menschen, die die Straßen entlangschlenderten, sahen links und rechts die Wände an, die lange nicht gestrichen worden waren, als seien da Bilder, als seien da Schaufenster. Menschen, die Töne von sich gaben, die keine Sprache sein konnten, viele von ihnen in verwaschene blaue Maoanzüge gekleidet, industriegraue Roller und Elektromobile auf den Straßen, und Reinigungsroboter die stur und entschlossen, alle Sensoren auf die Straße gerichtet, den Staub aufkehrten. Ich war so mit Gaffen beschäftigt, daß ich stolperte und fiel, das gesprengte Straßenpflaster vor meiner Nase, und Gras und Blumen mit winzigen gelben Blüten, die aus den Sprüngen wuchsen. Wären nicht die Menschen noch dagewesen, vermummt in ihre Sensorien wie ein exotischer Volksstamm, ich hätte geglaubt, hundert Jahre in die Zukunft gereist zu sein, in ein Lomatia Prima, das die subtropische Natur zurückerobert hatte, überwucherte Stufenpyramiden im Dschungel. Ich stand auf, klopfte mir den Staub von den Knien und drehte mich um. Das Hotel hinter mir war ein schmuckloser Kasten aus industriefarbenem Bauplastik. Keine Aufschrift verriet seinen Namen, keine verschlungenen Buchstaben an den Eingangstüren hießen den Gast willkommen. Die Zeitungen im Foyer bestanden aus leeren Blättern. Tränen der Fassungslosigkeit stiegen in meine sehenden Augen, und Gelächter blubberte in meiner Kehle. Und über all dem erstreckte sich der Himmel, konkurrenzlos über einer Stadt aus dünnem Holz, billigem Plastik, Kuppeln aus Energieschilden, wie sie auf Primitivplaneten die Basislager vor Regen schützen, eine Filmkulisse, von der falschen Seite gesehen, die Illusion gebrochen, und ein weiter, leerer Horizont. Ich riß den Mund auf, weil ich sonst vor Überraschung geplatzt wäre, und ein Schrei löste sich und entkam in den offenen Himmel. Eine weiße Katze hob den Kopf und sah mich kurz an, dann verschwand sie in dem blumenbewehrten Gestrüpp, es raschelte, und kurze Zeit später kam sie hervor mit einer Eidechse in der Schnauze und einem hochmütigen Ausdruck im Gesicht: Siehst du, Mensch, so macht man das hier. Die Sonne verdunkelte sich für einen Moment, als sich am Raumhafen der glänzende Ball eines Schiffes schwerelos dem Orbit zuhob. Ich warf mich der Länge nach auf den Boden und atmete Realität. Die Katze spielte mit der Eidechse. Ein Mensch mit vermummtem Gesicht beugte sich über mich und gab Töne von sich, die sich in meinem Gehör zu einem "Sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen helfen?" verbanden. Ich verstand, daß die Ohrenwärmer den lokalen Dialekt in sauberes Angloterranisch übersetzten. "Nein, danke", sagte ich in sauberem Angloterranisch. "Mir geht es bestens. Nur ein Fall von Übermut." Und ich sprang auf und davon. Ich bummelte die weiten, offenen Straßen entlang und lernte, Bilder und Töne die Visor -- nein, Adapterchip -- und Audiosensorium mir lieferten, mit dem abzugleichen, was meine Augen und Ohren mir zeigten. Ich sah Schaufenster, die kahle Wände waren, lauschte der Musik in einem Bistro, wo nur die Stille zu hören war, und als die Sonne so unspektakulär unterging als hätte jemand das Licht ausgeknipst, flutete sie den Himmel mit Farben, die es nur im Kino geben konnte. Auf einer Bank im Park sitzend beobachtete ich die Dunkelheit und versuchte, den Dialekt eines Paares, das auf der nächsten Bank saß, zu verstehen, während ich gleichzeitig hörte, wie sie in bestem Angloterransich über die Feenlichter redeten, die auch ich zwischen den Bäumen huschen und den Park in magisches Licht tauchen sah. Meine Sinneseindrücke waren nicht das einzige, was in herbem Kontrast zu sich selber stand. Lomatia, leuchtendes Zentrum des Kulturschaffens im Imperium. Lomatia, das sich mit fortgeschrittenster Technologie davor schützte, gesehen zu werden, und dabei nichts zurückließ, was gesehen werden konnte, *außer* mit Technologie. *Shade without form, shape without colour*. Das technische Konzept entfaltete sich vor meinem inneren Auge. Alles, was es auf Lomatia zu sehen oder zu hören gab, existierte nur in Form von Signalen, die von den Sensorien entschlüsselt wurden. Das Bild ist nicht das Ding. Und das Signal ist nicht das Bild. *The eyes are not here. There are no eyes here.* Vielleicht hatte sich irgendwann mal einer gedacht, wofür soll ich ein Plakat drucken, wenn die Sensorien es doch nur als Datenstrom wahrnehmen und für die Augen ihrer Träger neu erstellen? *Between the potency And the existence Falls the shadow*. Es ist doch einfacher, gleich einen Datenstrom zu senden... *Between the conception And the creation Falls the shadow**. Und so hatte Lomatias Realität sich durch die Hintertür davongestohlen und nur das zurückgelassen, worüber man im Dunkeln stolperte. *Between the idea And the reality Falls the shadow*. Erschüttert ging ich in eine Bar -- ich sah, daß es eine Bar war, an der Art, wie die Leute hineingingen -- und bestellte einen doppelten Whiskey. Auf der Bühne spielte eine Band. Sie trugen Maoanzüge und ihre Instrumente gaben keine Töne von sich. Die Band wirkte erschöpft. *We are the hollow men*. Einige der Gäste tanzten. Ich fühlte mich, als könnte kein Ton mich jemals wieder erreichen und taumelte, Tränen in den Augen, hinaus, wo mich die Dunkelheit willkommen hieß. Nachdenken, ich mußte nachdenken. Hier umherzuirren wie auf einem schlechten Trip löste das Geheimnis der Außerirdischen nicht, es half Eliza Montoya nicht und nicht Ramsey Jefferson oder seiner kleinen Tochter, und es war nicht das, wofür ich bezahlt wurde. Also. Wo waren die Außerirdischen? Ich konzentrierte mich auf den Input, den ich durch Technologie erhielt und das illusionäre Lomatia Prima erschien um mich herum. Schritt eins, man nehme eine ahnungslose Touristin. Schritt zwei: ich begann, meine empathische Wahrnehumg vorsichtig auszuweiten und nach Mustern zu suchen, die nicht menschlich waren. Drei Wahrnehmungsebenen gleichzeitig aufrecht zu erhalten ist schwierig, aber so was lernt man beim MK. Ich lief ein grobes Suchmuster durch die Stadt, überließ mich der Scheinwelt des Maya, und wartete, daß etwas Interessantes auftauchte. Die Welt drehte sich einem grauen Morgen zu. Tau lag auf dem Gras. Mir taten die Füße weh, also setzte ich mich auf einen Mauerrest und sah zu, wie die Sonne aus den Morgennebeln aufstieg. Dabei schlief ich ein. ### 7. Kapitel ### Musik weckte mich. Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont und zeichnete jedes Blatt und jeden Kiesel in überirdischer Klarheit. Jemand sang. Eine Stimme, die mir vage bekannt vorkam, sang eine alte Spacerballade, spielte dazu eine 12-String akustische Gitarre. Und die Töne kamen nicht aus der Scheinwelt. Sie waren wirklich. Ich verbannte die Scheinwelt aus meinen Gedanken und folgte der Musik. Eine Leiter aus Seilen und Stücken von Holz führte zum Dach eines Containerbaus, dessen Identifizierungssignal behauptete, ein elegante Wohnanlage im Landhausstil zu sein. Gerade rechtzeitig erinnerte ich mich, daß ich nicht unsichtbar war, daß die Gespenster Lomatias mich sehen konnten, drückte mich in eine Seitengasse und schlich mich durch das verwilderte Gestrüpp, das um das Haus herum wucherte ("Ich habe einen gepflegten Garten!" behauptete das Haus. "Mit Rosen. Und Teich!") der Leiter zu. Dabei stieß ich auf einen Trampelpfad. Etwa handlange Spuren von dreizehigen Klauenfüßen im Sand. Ich blieb stehen, um zu orten. Sie wuchsen vor mir aus dem Gestrüpp und dem Sand, als seien sie nur von einer Illusion verborgen gewesen. Es waren fünf, etwa so groß wie Gucky, mit grau-grünen Schuppen, die im Licht einen leicht goldenen Schimmer hatten, großen grün-goldenen Augen, Händen mit drei Fingern und einem entgegengestellten Daumen. Sie trugen Kittel, die selbstgewebt wirkten, aber mit buntem Schrott verziert waren: Speicherkristallen, Flicken von buntem Synthetikstoff, zerbrochenen Platinen, in Draht gefaßten Plastikschnipseln. Ihre Füße waren dreizehig, und sie banlancierten sich mit ihren langen, geschuppten Schwänzen aus. Einer von ihnen hatte einen pinkfarbenen Mohawk. Die anderen waren haarlos. Alle strahlten Neugierde, Verwirrung und leichte Besorgnis aus. Ich beschloß, mich blöd zu stellen und marschierte weiter auf die Leiter zu. Das Wesen mit dem Mohawk sagte etwas zu den anderen. Die Sprache klang wie das Rascheln von Blättern. Die Wesen stoben auseinander, eines wieselte die Leiter hinauf, Zischen, Rascheln, dann wurde die Leiter nach oben gezerrt und war verschwunden. Der Gesang verstummte. Ich stand blöd auf der Pläne wie ein Mensch, der ein Feenfest gestört hat. Äußerst sonderbar. Ich sah mich noch einmal um, um sicherzugehen, daß kein Mensch in der Nähe war, und begann, die Container heraufzuklettern. Es waren drei Lagen übereinander, dann, ein bißchen zurückgesetzt, eine vierte. Die echsenartigen Aliens schienen sich ihrer Sache ganz schön sicher zu sein: Von der dritten Lage auf die vierte hinauf führte eine behelfsmäßige Treppe. Und auf dem Dach der obersten Containerlage lungerten zwei Aliens herum und guckten verwirrt zu mir runter. "Wassis?" murmelte der eine. "Guten Morgen", sagte ich. "Verzeihen Sie mein Eindringen. Mein Name ist Solveig Jamieson von Terra. Sie werden inzwischen bemerkt haben, daß ich imstande bin, Sie zu sehen. Ich möchte mit Ihnen reden." Die Aliens verschwanden. Ich blieb stehen und sah mich um. An der Wand des Containers rankte Wein. Die Reben reiften unter der Sonne. In Kübeln und Bottichen wuchsen Pflanzen, die ich nicht kannte. Zur Seite hoben sich Hanfstengel in den Himmel. Zwischen den Planzen waren kunstvolle, geschwungene Wege angelegt. Ein Grabstock lag auf dem Boden, als hätte ihn jemand eilig fallengelassen, und in einer Ecke stand ein flacher Korb aus etwas, daß Rattan sein könnte. Bienen summten in der Luft. Nach oben zu sah ich eine Seilbrücke, die dieses Dach mit dem des Nachbarhauses verband. Das Warten wurde mir langweilig. Ich sprang, kriegte die Kante des Containers zu fassen und zog mich hoch. Und sah dem Mohawk-Alien genau ins Auge. Er legte den Kopf schief, packte dann mein Handgelenk und zog mich aufs Dach. "Danke", sagte ich, und klopfte mir Blätter von meinen feinen Sachen. "Mister Nemo sagt, er will mit dir reden", sagte er. "Er ist von deiner Art, aber er hat Augen. Er muß es wissen." "Aha", sagte ich. "Wo finde ich Mister Nemo?" Mohawk wies zum anderen Ende des Daches, etwa vierzig Meter entfernt. Das Gitarrenspiel hatte wieder eingesetzt. Es kam von dort. Ich folgte dem Pfad durch den morgendlichen Garten und kam schließlich zu einem primitiven Unterstand, eine einzelne Zeltbahn aus sonnengebleichtem Hanfgewebe. Davor saß ein dunkelhäutiger Mann mit zottigen, ergrauten Haaren in einem Klappstuhl aus Holz und Tuch an einem kleinen Feuer, das in einem Tontopf brannte. Auf dem Feuer stand eine verbeulte Metallkanne. Er trug einen ausgeblichenen Mao-Anzug und ging jetzt durch eine Reihe komplizierter Blues-Akkorde. Kein Sensorium. Als er mich sah, beendete er die Phrase, die er gerade spielte, musterte mich eingehend, legte dann die Gitarre zur Seite und stand auf und hielt mir die Hand hin. "Eine Einäugige im Land der Blinden? Seien Sie mir willkommen, nehmen Sie Platz an meinem Feuer. Ich bin Nemo. Möchten Sie Kaffee? Oder etwas zu Rauchen?" Die Stimme, die Art, wie er ironisch die Satzenden betonte, ließ etwas in meinem Kopf klicken. "Guter Versuch", sagte ich. "Ich kenne Ihre Aufnahmen." "Das bezweifle ich, junge Dame. Ihre *Mutter* kannte vielleicht meine Aufnahmen. Mit wem habe ich das Vergnügen?" "Verzeihen Sie -- ich dachte, unser gemeinsamer Bekannter mit dem pinkfarbenen Kopfputz hätte mich vorgestellt. Mein Name ist Solveig Jamieson. Und ich nehme gerne einen Kaffee." "Die Sh'wzz sind nicht gut mit terranischen Namen", erklärte er. "Zu viele Vokale." Er ging zu einer kleinen Frachtkiste, öffnete sie und holte einen Becher heraus, der von außen wie gewebt aussah, und kippte aus der Kanne auf dem Feuer etwas herein, daß wie Zichorienkaffe roch. "Nehmen Sie Honig dazu?" Ich verneinte. "Stört es Sie, wenn ich rauche?" Wieder verneinte ich. Er holte einen Beutel und eine Pfeife aus der Frachtkiste, ehe er sie wieder veschloß. "Vermutlich stelle ich zu viele Fragen", sagte er, als er sich wieder setzte und begann, seine Pfeife zu stopfen, "aber ich bin seit langer Zeit hier und habe nicht viel Kontakt mit Menschen." "Das ist in Ordnung", sagte ich und nippte an meinem Kaffee. Besser als Zichorien. "Warum dann", sagte er, "wenn Sie mich doch sehen können, tragen Sie diese lächerliche Maske?" "Weil ich nicht weiß, wie ich sie abnehmen soll, ohne daß sie nach ihrer Mutter schreit", sagte ich. "Oh", sagte er, "da kann ich Ihnen behilflich sein." "Bitte", sagte ich aus tiefstem Herzen. Nemo (nennen wir ihn mal so) pfiff etwas Tonloses, das wie 'Hrrzst' klang, und kurze Zeit später erschien eines der Echsenwesen. Es trug einen Werkzeuggürtel über die Schulter geworfen wie ein mexikanischer Revolutionsheld seinen Patronengurt. "Wassis?" "Hrrzst, könntest du bitte der Dame behilflich sein, ihre Maske abzulegen?" "Klar, Boss", meinte Hrrzst großzügig und holte eine kleine Zange, einen Minicodegeber, Pinzette und Instantlöter aus seinem (ihrem?) Gürtel. "Das ist kein Standardmodell, Boss", sagte er nach ein paar Sekunden. "Mehr wie eins von den alten." "Es ist ein Nur-Audio, plus einem Visor mit Adapterchip", sagte ich. "Ah, klar, Lady. Kein Problem, das haben wir gleich." Hrrszt schraubte, tat und machte, ließ dann mit verächtlicher Geste das Sensorium und den Visor fallen, zog einen Signaltaster aus seinem Gürtel und betrachtete mit offenkundiger Befriedigung das grüne Licht. "Sie ist sauber, Boss." Ich rieb mir die Augen, während Hrrszt davonwieselte. Nemo untersuchte das Gerät. "Ein Visor", sagte er. "Clever. Wer schickt Sie?" "Terranische Kolonialaufsicht", sagte ich. "Lomatia hat einen unserer Inspektoren verschwinden lassen, und den hätten wir gerne wieder. Außerdem besteht eine Meldepflicht für Erstkontakte, der Lomatia nicht nachgekommen zu sein scheint." "Ah", sagte er und stopfe seine Pfeife nach. Der Geruch verriet mir, daß Hanf hier nicht nur für Seile und Zeltbahnen verwendet wurde. Ich verfolgte seine Bewegungen und fragte mich, warum eine Legende des Space-Blues wie Robinson Crusoe unter Aliens in einem Dachgarten lebte. "In den Klatschspalten steht", sagte ich, "Sie seien im Studio und nähmen ein neues Album auf." Er lachte. In diesem Lachen waren eine Menge Untertöne. "Welches Jahr schreibt Terra?" fragte er. "2239. Heute ist der 28. Juni." "Dann war ich war seit elf Jahren nicht mehr im Studio", sagte er, "und habe seit vierzehn Jahren kein Album mehr aufgenommen." Ich rechnete. "Vierzehn Jahre", sagte ich "'The Other Sky'. Ein brilliantes Album. Das danach, wie hieß es, 'Stars from Heaven', das war..." 'Mist' hatte ich sagen wollen, aber die Einsicht traf mich wie ein Meteroit. "Das waren nicht Sie", sagte ich. "Was ist passiert?" Nemo zog an seiner Pfeife, dachte lange nach, und begann dann, zu erzählen. "Ich habe mich verkauft", sagte er. "Namen und Seele, Schatten und Spiegelbild. Es schien mir damals eine gute Idee zu sein. Ich war ein armer Junge mit einer Klampfe auf Septima, der davon träumte ein Spacer zu werden und in Bars traurige Balladen sang. Dann sprach mich nach einem Gig dieser Kerl an und winkte mit einem Vertrag. Ich war sechzehn. Mein Vater unterschrieb für mich. Ich machte ein paar Alben und ein bißchen Geld, dann ging das Studio auf Septima pleite und verkaufte meinen Vertrag und mich nach Lomatia. Das war... 2199. Vor vierzig Jahren. Wie die Zeit vergeht. Die Media Corporation auf Lomatia sah in mir den Star. Stellte mir eine Band zur Seite, organisierte Promotional Tours... dann kam der ganze Kram, Groupies, zertrümmerte Hotelzimmer, Drogen. 2207 war ich ziemlich am Ende, und ganz und gar pleite. All meine Vorschüsse waren für die Tourneen, Studiozeit und das süße Leben draufgegangen. Ich ging in mich, und nahm zwei Alben auf, um die Rechnungen zu bezahlen. Die Rechnungen waren schneller. Das Studio bot mir einen neuen Vertrag an. Ich sah nur, hundertausend Vorschuß und unterschrieb." Er inhalierte tief. "Wirklich nichts zu Rauchen?" fragte er. "Ich bin die letzten drei Tage durch die Halluzination gewandert, die vorgibt, Lomatia zu sein", sagte ich. "Mein Verhältnis zur Realität ist gespannt genug, ohne daß ich es weiter belaste. Aber ich nehme gerne noch einen Kaffee." Er schenkte mir ein und fuhr fort. "Es lief gut, aber ich schaffte es wieder nicht, meinen Vorschuß abzuarbeiten." "Moment", sagte ich, "Moment. Zwischen 'Darksider Tales' und 'Other Sky' haben Sie... wieviel Alben aufgenommen? Mehr als zehn. Und einige davon haben Iridium gemacht. Selbst bei nur einem Soli pro Platte müßten sie etliche hunderttausend im Plus rausgekommen sein. Plus das Geld für Coverversionen, Replays... jede Spacerbar zwischen hier und Arkon spielt Ihre Songs. Und...", ich dachte an meine Kreditkartenabrechung, "auf Lomatia selber bezahlt man vier Soli dafür, wenn man nur einen Ihrer Songs unter der Dusche pfeift." "Tatsächlich?" Er lachte wieder sein untertonreiches Lachen. "Sie scheinen sich gut mit Musik und Geld auszukennen. Kennen Sie auch den alten terranischen Song..." Er begann zu singen: "*...another day older and deeper in debt, St Peter don't you call me cause I can't go...*" Ich fiel ein, "*I owe my soul to the company store*." Das war Bettys und mein Kehrreim, wenn das Imperium uns mal wieder dezent darauf hinwies, daß wir ihm mit Haut und Haaren gehörten. "Ich habe nie genug Geld gesehen", sagte er, "um den Vorschuß abzubezahlen. Es ging immer hierfür und dafür drauf, Promotion, Musiker, Studios, Vertrieb... aber ich lebte, und lebte insgesamt nicht schlecht, also dachte ich, daß, wenn St Peter mich rufen würde, die Company meine Schulden gerne behalten konnte. "2225 starb der Kerl, der mich, ha, musikalisch betreut hatte, der alte Hund. Sein Nachfolger war so ein jungscher geschniegelter der beschlossen hatte, die Zukunft wäre Elektropop. Er hatte alles geplant, hatte neue Songs für mich schreiben lassen, neues Outfit, neue Band, Hupfdohlen, den ganzen Mist. Ich war gerade für 'Other Sky' im Studio. Ich hörte mir an, was der Kerl zu sagen hatte und nickte zu allem ja und amen, denn ich hoffte, für 'Other Sky' -- ich wußte, daß das Album gut war, vielleicht das Beste, was ich je gemacht hatte -- wieder eine Tournee zu kriegen. Ich mußte weg aus diesem elenden Dreckloch." Ich legte fragend den Kopf schief. "Sagen Sie mir nicht, daß Sie's nicht gemerkt haben", sagte er. "Diese Welt ist tot. Waren Sie mal in 'ner Opiumhöhle? Sagen Sie nichts, Sie seh'n aus wie'n anständiges Mädchen, lassen Sie einem alten Mann seine Illusionen. Hier träumt jeder nur für sich allein." Er klopfte seine Pfeife aus und steckte sie weg, und Traurigkeit ging in einer Woge von ihm aus, die ein oder zwei Paar besorgt dreinblickender goldgrüner Augen im Gebüsch erscheinen ließ. Er lehnte sich zurück und seufzte tief. "Lomatia", sagte er. "Die Leuchtende. Goldene Dächer, und die Straßen gepflastert mit Diamanten, Wein sprudelt aus den Brunnen und Flaschen mit Rum wachsen auf den Bäumen, und die hübschen Mädchen küssen jeden Jungen, der drei Akkorde spielen kann. So erschien es mir damals, auf Septima, wo alte Trunkenbolde in Bars mit Sand auf dem Boden Klavier spielten, die Finger zitterig vom Schnaps. Barry, ich habe viel von ihm gelernt, er spielte noch, wenn die Minenarbeiter einander am Freitag besoffen die Köpfe einschlugen. Einmal haben sie ihm das Klavier mit 'ner Schrotladung zerschossen. Ich hätte alles getan, um da rauszukommen, gute alte Zeit. Ha. Lomatia. Ich kam hier an, und die Sonne schien und die Hügel waren grün -- das war, bevor sie die Tiefbrunnen bohrten, um die Stadt zu versorgen -- und die Mädchen hübsch. Und jeder Blick und jeder Kuß kostete zuviel. Dann kamen diese 'Sensorien'", Er sprach das Wort aus, als sei es nicht für feine Gesellschaft geeignet, "und plötzlich mußtest du dafür bezahlen, wenn du mit deinen Freunden redest. Die hübschen Mädchen hatten alle ihre Gesichter verkauft, so daß du sie nicht mehr sehen konntest, und irgend jemand hatte seine Ansprüche auf den Himmel und die Erde, die Blumen und die Häuser, das Geräusch des Windes und das Singen der Vögel geltend gemacht, und du konntest nur noch hören, wofür du zahltest. Wie soll man da irgendwelche Ideen haben? Ich konnte meine eigenen alten verdammten Songs nicht mehr hören, weil jemand sie weiterverkauft hatte, und der neue Besitzer sie nicht lizensierte. Wäre einmal fast verknackt worden, weil ich unter der Dusche eine Schnulze pfiff, die ich mit achtzehn geschrieben hatte. Und du durftest das verwünschte Sensorium nicht absetzen, und es juckte die ganze Zeit, und ich hatte ständig das Gefühl, ich müßte auf die Schnauze fallen..." Ich nickte. "Die Dinger sind die Hölle für den Gleichgewichtssinn." "Nicht nur das. Einmal hab' ich im Rausch versucht, das Ding durchs Klo zu spülen, und gleich kam die Polizei drei Mann hoch und nahmen mich hopps. Dauerte fast 'ne Woche, bis mein Manager mich aus dem Knast holte. Die Rechnungen waren so hoch, daß ich mich gleich wieder zudröhnte." Ich dachte an meine Kreditkartenrechnung und konnte nur zustimmen. "Na, jedenfalls 'Other Sky' lief und der jungsche Managertyp kam wieder, und sagte, ich sollte jetzt seinen Elektropop singen. Ich sagte ihm, wohin er sich seinen Elektropop schieben könnte -- sorry, Miß -- tja, und dann stellte sich raus, daß ich mich den Fluß runter verkauft hatte. Der Company gehörten meine Songs, mein Gesicht, mein Name, meine Stimme, meine Geschichte. Mein Leben. Ohne ihre Zustimmung konnte ich kein neues Album aufnehmen, nicht auftreten, keine Songs schreiben... Ich bin kein Heiliger. Ich machte ihren Elektropop. Es war eine Katastrophe. Sie besorgten sich einen Lookalike, so einen milchbärtigen weißen Knaben, verpaßten ihm mein Gesicht und synthetisierten meine Stimme im Computer für's Playback. Das war 'Stars from Heaven'. Danach war ich noch einmal im Studio. Da gab's Krach, und mir ist die Faust aufs Kinn von dem jungschen Kerl gerutscht. Das zweitbeste, was ich im Leben getan habe. Dann hab' ich's mit Verhungern versucht und festgestellt, daß mir das nicht zusagte, und irgendwann dachte ich, im Knast füttern sie dich wenigestens und hab' mein Sensorium vor eine Dampfwalze geschmissen." Er kicherte, lachte dann lauthals und fiel fast vom Stuhl. "Ich war viel schlauer, als ich wußte. Das Ding quiekte noch einmal um Hilfe und war weg. Und ich war auch weg. Versteckte mich auf den Dächern. Das war vor zehn Jahren. Da traf ich die Sh'wzz." "Die Sh'wzz", sagte ich. "Was sind sie?" "So wie ich das verstanden habe, waren sie da, ehe die Terraner den Planeten kolonialisierten. Sie beherrschen eine Art körperliches und geistiges Mimicry -- man übersieht sie leicht. Sh'wzz ist der Stamm, der schon in den Hügeln lebte, ehe das hier Lomatia Prima wurde. Als wir ihnen das Wasser abgruben, zogen sie in die Stadt. Zuerst versteckten sie sich, aber als sie bemerkten, daß die Tss'fsha -- die "Augenlosen", so nennen sie die Menschen -- sie nicht bemerkten, lebten sie einfach neben ihnen her. Wir sind ein großes Mysterium für sie. Die Sh'wzz sind Vegetarier. In diesen Gärten bauen sie ihre Nahrung an. Sie benutzen kein Feuer und kein Metall, sind aber sehr geschickt darin, menschliche Technologie zu bedienen -- Sie haben Hrrzst gesehen. Sie mögen meine Musik. Und ich, wie sie, gehe hin, wo ich will, nehme mir, was ich brauche, sehe die Blumen und höre den Wind." Er räusperte sich und nahm einen Schluck Kaffee. "Ich habe seit zehn Jahren mit keinem Menschen mehr geredet", sagte er. "Wie merkwürdig." Ich ließ all das in mich einsickern. Die Puzzleteile in meinem Geist wirbelten und rearrangierten sich in neuen, unvorhergesehenen Mustern. "Ich verstehe das überhaupt nicht", sagte ich. Keine feindseligen Außerirdischen, stattdessen scheue Eingeborene... aber warum? Warum dann das Ganze? "All dieser Aufwand... all diese Technologie... wozu?" Nemo zuckte die Schultern wie jemand, der aufgefordert wird, die Wege der Götter zu erklären. "Geld, dachte ich zuerst. Heute denke ich, Angst. Angst, daß ihnen jemand etwas wegnimmt. So wie ein Geizhalz sein Geld hinter hundert Schlössern verwahrt, aus Angst vor Dieben, wie der Sultan seinen Harem von hundert Eunuchen bewachen läßt aus Angst vor Verführern... so bewachen sie die Schätze des Geistes. Und dabei vergessen sie, daß Geist nicht wie Jungfräulichkeit ist, sondern wie Liebe: je mehr daran teilhaben, desto mehr ist davon da." "Und das ist alles?" fragte ich, noch immer fassungslos. "Das ist alles", sagte er. "Was ist Ihre Geschichte?" Also erzählte ich von dem verschwundenen Inspektor, von meinem ersten Besuch, von einem verdächtigen Luftzug. Von meiner "Urgroßmutter", die mir so ähnlich sah, und wie diese dumme Geschichte mein Mißtrauen geweckt hatte. Nemo lachte. "Das ist so dumm, das ist so dumm... Es ist normal auf Lomatia, daß man sein Spiegelbild verkauft, diesem Anwalt wird nie der Gedanke gekommen sein, daß er aussieht wie jemand, der sich mit einem blutigen Messer davonschleicht!" Ich mußte mitlachen, wenn auch über etwas völlig Anderes. "Stellen Sie sich vor, er hatte ein Panoramabild des Quilian Shan in seinem Büro. Könnte ihm nicht Terra dafür eine Rechnung schicken?" "Wahrscheinlich wird er ein Papier vorweisen können, wonach es ihm gehört. Wecken Sie bloß keine schlafenden Hunde, sonst muß Terra bald den Quilian Shan abtragen." "Gah!" Ich schüttelte mich. "Sie haben nicht vielleicht etwas Stärkeres als Kaffee?" "Bedaure", sagte er. "Aber zwei Straßen weiter ist eine Bar. Sie können sich dort etwas holen." "Zu viel Aufwand. Später vielleicht." Ich erzählte weiter, von der falschen Blindheit, dem modernen Visor, und meinem zweiten Besuch, der vorerst hier auf dem Dach geendet hatte. "Bei der Sonne und dem Wind", sagte ich, "können Sie sich meine Überraschung vorstellen, als ich die Stadt *so* sah?" "Nein, Miß, ich fürchte nicht. Ich habe zwar gesehen, daß die Stadt in den letzten zehn Jahren ein wenig verwildert ist -- aber ich weiß nicht, als was sie sich darstellt." "Prächtig", sagte ich. "Atemberaubend. Wie Terrania in seinen Träumen, von keiner Realität oder Entropie berührt. Avalon, nur ohne die Äpfel." "Ha", sagte Nemo. "Was werden Sie nun tun?" Ich hob die Einzelteile meines Sensoriums vom Boden auf, breitete sie vor mir aus und dachte nach. "Es kann nicht sein, daß man nur Dinge sieht, die ein Signal aussenden", sagte ich. "Ich habe in einem Café einen Eistee getrunken, und die Wellen, die Lichtbrechung... das war, wie man so sagt, 'live und in Farbe'. Wo kam das Bild her?" "Aus dem Glas", sagte Nemo. "Das Glas erkennt, was es enthält und schickt die entsprechenden Signale zusammen mit der Gebührenforderung direkt ans Sensorium. Wenn Sie also nicht gesehen werden wollen, fassen Sie nicht direkt auf die Teller." "Was ist mit anderen Oberflächen?" Er zuckte die Schultern. "Hatten wir nie Probleme mit." Das war mir suspekt. "Wäre es nicht sinnvoller, signalfreie Objekte stardardmäßig abzubilden?" "Junge Dame," sagte Nemo, "Sie verstehen nicht das *Ausmaß* an Furcht, das diese Gesellschaft beherrscht. Signalfreie Objekte werden lediglich von den Straßenkehrmaschinen erfaßt und diese Daten ausgelöscht, sobald das Fahrzeug das Objekt aufkehrt hat." In meinem Job muß man gelegentlich den größten Irrwitz als gegeben nehmen und damit arbeiten als sei es Newton'sche Physik. Die Übung kam mir jetzt zustatten. Ich nickte und ging zum nächsten Punkt. "Wird niemand das Signal meines Sensoriums vermissen?" "Nein. Der Alarm wird gegeben, wenn die biometrische Erfassung des Sensoriums bemerkt, daß ihr der Trägerorganismus abhanden gekommen ist. Niemand zählt die Signale. Ich glaube, das wäre illegal." Er lachte leise, wie über einen privaten Witz. "Also", sagte ich. "Alle Gegenstände, inklusive Sensorien, senden ein permanentes Signal. Dieses Signal beinhaltet zwei Arten von Informationen: Was sie darstellen, und was es kostet, sie zu sehen oder ihnen zuzuhören. Der Sensoriumschip ermittelt, ob der Träger berechtigt ist, den Signalinhalt wahrzunehmen. Nur wenn das der Fall ist, wird das Signal für den Träger sichtbar oder hörbar gemacht und, nach Bedarf, eine Rechnung gestellt... Wird die Rechnung lokal oder zentral verwaltet?" "Zentral. Die Rechnung wird ans nächste Datenterminal geschickt und von da aus an den Zentralcomputer." "Mhm." Das System nahm in meinem Kopf Form an. "Ich würde gerne die Möglichkeit behalten, die irreale Welt zu sehen", sagte ich. "Kann Hrrzst vielleicht Sender und Entschlüsselung entkoppeln?" Nemo rief nach Hrrzst, der zischte begeistert und machte sich an die Arbeit. "Was werden Sie jetzt tun?" fragte Nemo. "Erst werde ich mir ein Frühstück besorgen", sagte ich. "Dann, wenn Hrrzt fertig ist, werde ich den Datenerfassungsteil des Sensoriums in mein Hotel bringen, es vor einen dümmlichen TriVid-Kanal setzen, eine Flasche Wodka bestellen, ein nicht-stören Signal einschalten und meine Persona versumpfen lassen. Dann werde ich einen Plan machen, wie ich meinen Inspektor und die Sachbearbeiterin der Luna Space Cartography Foundation befreie. Dazu gehört ein Plan, diesen Planeten zu verlassen. Und derweil werde ich über die schwierigeren Dinge nachdenken." ### 8. Kapitel ### Vorerst wurde nicht viel aus dem Planen, weil, kaum daß ich von meiner Frühstücks-Beschaffungs-Expedition zurück war, ein Haufen Echsenartiger mich belagerte und Geschichten hören wollte. Das gab mir eine gute Gelegenheit, Informationen zu sammeln. Laut den Legenden der Sh'wwz waren sie selber einst von den Sternen gekommen, und als das Explorerschiff gelandet war, das Lomatia -- damals Tuman VI -- kartographiert hatte, waren sie sehr verblüfft gewesen, so seltsame Wesen aussteigen zu sehen. Sie hatten ihre Weisen Frauen gefragt, und die waren in eine Trance gegangen, die ihnen Zugriff auf die kollektive Erinnerung erlaubte, und hatten erklärt, es gäbe viele Stämme zwischen den Sternen. Damit war für die Sh'wzz der Keks gegessen gewesen. Sie waren ein wenig traurig gewesen, als die Savanne, in der sie lebten, vor einer Generation zu einer Wüste wurde, mochten aber die "Hügel der Augenlosen" auch ganz gerne. Ein wenig erinnerten mich die Sh'wzz an die Ilts. Barbarisch, aber clever und anpassungsfähig. Wenn das Imperium erfuhr, daß es hier eine eingeborene intelligente Spezies gab, würden sie mit ihnen Kontakt aufnehmen wollen. Ich tat mein möglichstes, um ein bißchen Vorarbeit zu leisten, und gab ihnen in meinen Geschichten einen Crashkurs in galaktischer Geographie, neuer Geschichte und aktueller Politik. Hrrzst brachte das Sensorium zurück und erklärte mir, er habe dem Sender die Chipidentifikation fest verdrahtet, ich könnte den Sender also für sich alleine irgendwo hinstellen und er würde glauben, das ganze Sensorium befände sich da. Ich war beeindruckt. "Du bist sehr gut mit so etwas", sagte ich. Er druckste. "Ich nehme gerne Sachen auseinander." *** Frau Nasrin Eren versumpfte mit einer Flasche Wodka vor einem TriVid-Kanal, der Romanzen zeigte. Mein Bett im Hotelzimmer guckte mich vielversprechend an, aber der geschlossene Raum erinnerte mich zu sehr an eine Falle. Statt dessen machte ich mich zurück zu Nemos Dach. Der Sänger war nicht da. Die Sh'wzz boten mir eine Hängematte an. Ich fiel hinein und schlief bis zum nächsten Morgen. *** Ich erwachte zum Sound eines Saxophons, das eine topsidische Sonnenhymne spielte. Nemo stand auf der höchsten Stelle des Daches wie der Pfeiffer an den Toren der Dämmerung, hatte ein großes, silbernes Tenorsaxophon umhängen, und lobpreiste das Licht. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß niemand das hört", sagte ich. "Und wenn sie es nicht hören, müßten sie es *fühlen*. Die Luft vibiert, wenn Sie das spielen." "Erwarten Sie keine Erklärungen von mir", sagte er. "Ich wohne hier bloß". Wir aßen Früchte zum Frühstück. "Sie haben eine schöne Stimme", sagte er. "Können Sie singen?" Ich bestätigte das. "Wie wäre es mit einer Jam Session heute abend?" "Gerne." Ich dachte nach. "Ich kann Sie von hier wegbringen", sagte ich. Nemo machte eine unbestimmte Geste. "Es gibt keinen Ort, wo ich mein Gesicht zeigen kann. Es gehört ja nicht mir." "Neues Gesicht", sagte ich. "Neuer Name, neue Lieder. Vielleicht nicht auf Terra, aber Reyan, wie wäre es mit Reyan? Wenn die Leute Sie mögen, und sie werden Sie mögen, bekommen Sie alles, was Sie brauchen." "Ich habe alles, was ich brauche", sagte er, fragte aber dann doch, "Was würde ich auf Reyan verkaufen müssen, um Musik machen zu dürfen?" "Die Spatzen würden Ihre Melodien vom Dach pfeifen", sagte ich, "die Mädchen würden Ihr Bild über ihre Betten hängen. Ihre Bewunderer würden Ihre Songs covern, Sie würden gebeten, auf Festivals zu spielen, und die Troubadoures würden mit Ihren Liedern auf den Lippen durchs Land ziehen. Und wenn es irgend etwas gibt, was Sie haben wollen, müssen Sie mit dem Finger draufzeigen und sagen, 'das da', und einer Ihrer Bewunderer wird es Ihnen schenken." "Klingt verrückt", sagte er. "Reyan ist verrückt", bestätigte ich, "aber es funktioniert." "Ich denke drüber nach", sagte er. *** Am Mittag brannte die Sonne erbarmungslos auf die Stadt. Die Sh'wzz brieten bewegungslos in der Sonne, Nemo lag in einer Hängematte im Schatten, ein gecracktes Lesegerät in einer Hand, und war beim Lesen eingedöst. Die allgemeine Faulheit wirkte ansteckend, aber ich hatte schon viel zu viel Zeit vertrödelt und es wurde Zeit, daß ich meinen Job machte. Die Seilbrücken verbanden die Häuser zu Gruppen, die je von einer Sippe von Sh'wzz bewohnt zu sein schienen. Ich spazierte ein wenig umher, jetzt endlich in der Lage, mir Fluchtwege einzuprägen. Dann kletterte ich auf die Ebene der Straße hinunter, stellte mich an ein öffentliches Informationsterminal, das an einem wind- und schattenlosen Platz lag und deswegen gemieden wurde, und begann, das, was ich von Cavanaughs Chefkryptologin gelernt hatte, anzuwenden. Es war lächerlich einfach. Die Codes waren Generationen hinter der kryptologischen Entwicklung zurück, und durch Faulheit, menschliches Versagen und -- vermutlich -- bürokratische Vorschriften so weit degeneriert, daß ein Schulkind sie hätte knacken können. Der einzige Schutz, den Lomatia seinen sensiblen Daten angedeihen ließ, war die Drohung, jeglichen unberechtigten Leser auf unbegrenzte Zeit ins Arbeitslager zu sperren oder gleich an die Wand zu stellen. In meinem Job zählt das nicht mal als erhöhtes Risiko. Eliza Montoya war, stellte ich überrascht fest, nicht als Geisel genommen worden, sondern in einer Art von Sippenhaft für das "Vergehen" der LSCF verantwortlich gemacht worden. Sie saß im Stadtgefängnis, dreißig Kilometer außerhalb von Lomatia Prima. Ramsey Jefferson hatte, vermutlich in einem Anfall von Frustration, die Codierung eines Info-Terminals geknackt, indem er, wenn ich das richtig verstand, das Werkspaßwort eines terranischen Herstellers eingegeben hatte, der ähnliche Terminals fabrizierte. Das Lager, in dem sie ihn eingesperrt hatten, lag gut zweihundert Kilometer nördlich von hier und produzierte Lebensmittel für die Stadt. So gut ich konnte, überprüfte ich, was mir Nemo über die Sensoriumssysteme gesagt hatte. Dann verdrückte ich mich, ehe noch jemand über mich stolperte. Im nächsten Park schwamm ich eine Runde in einem kleinen See, klaute einen Eistee von der Theke eines Kiosks, kletterte dann in einen Baum mit ausladenden Ästen und hielt meine eigene Siesta. Die Sh'wzz hatten den Bogen raus, wie man hier lebte, dachte ich. *** "Was ist eigentlich mit den Filmstudios?", fragte ich Nemo, als wir abends wieder zusammen hockten und er seine Gitarre stimmte. "Wie sehen die von dieser Seite der Welt aus?" "Genauso", sagte er. "Halte dich von denen fern -- wenn es irgendeinen Ort gibt, wo Leute dich sehen könnnen, dann dort." Er begann zu spielen und ich begann zu singen. Ein paar Sh'wzz gesellten sich dazu und bildeten die Percussion-Gruppe. Wir fingen an zu improvisieren, ich auf der Gitarre und Nemo auf einer silbernen Flöte, die einen sehnsüchtigen, verwunschenen Klang hatte. Die Augen der Sh'wzz schimmerten im Feuerschein, und die Sterne wurden heller über uns, als die Nacht fortschritt. Mitternacht war durch, als wir zusammenpackten und das Feuer ausbrannte. "Wie wär's", fragte Nemo, "Teilen wir uns meinen Schlafsack?" 'Sorry', wollte ich sagen, 'Dienst ist Dienst', aber stattdessen sagte ich, "Klar." *** "Wie kriegt man hier Transport?" fragte ich den nächsten Morgen über dem Frühstück. Die Morgensonne durch die grünen Zweige erinnerte an Urlaub, und wir hatten uns beide nicht die Mühe gemacht, viel anzuziehen. Nemo schüttelte den Kopf. "Du bist ein seltsamer Vogel. Sind alle Kolonialinspektoren so bessessen?" "Erst ab Oberinspektor aufwärts", sagte ich. "Das ist einer von *meinen* Leuten, den diese Idioten eingesperrt haben. Und er ist ein Bläßling. Diese Sonne wird ihn umbringen, und wie erkläre ich das seiner Frau und Tochter?" Nemo seufzte tief. "Es gibt keinen Transport. Unsichtbare wie wir gehen zu Fuß." Nach dem Frühstück versuchte ich vergeblich, Hrrzst seinen Signaltaster abzuschnorren. Er wollte sich nicht davon trennen, erklärte sich aber bereit, mich zu begleiten. Das hieß, stellte ich fest, daß seine halbe Familie mich begleitete. Mit sechs Sh'wzz im Schlepptau zog ich also durch die Stadt. Wir untersuchten alle Fahrzeuge auf den Straßen. Die Fahrzeuge sandten ihre Identifikationssignale aus ("Ich bin ein schicker roter Sportwagen!"), und die autonomen Wartungswagen bekamen gelegentlich einen Burst von Steuerimpulsen, quittierten den Empfang jedoch nur mit einer Checksumme. Dann spielten wir "aufspringen" auf alle möglichen Fahrzeuge, und guckten, ob die Fahrzeuge daraufhin um Hilfe riefen. Sie taten es nicht. Wahrscheinlich wurde man gehängt und gevierteilt, wenn man sich an den Wagen vergriff. Und anscheinend reichte das, um die Kriminalität auf null zu halten. Unwahrscheinlich, wenn man darüber nachdachte. Ich sagte Hrrzst und seiner Sippe, "Schluß für heute", wanderte durch die Stadt und grübelte. Keine Verbrechen? Kein Mensch, der die Welt so sah, wie sie war? Es gab Gefängnisse, es gab Arbeitslager. Die konnten nicht nur mit Leuten gefüllt sein, die im Suff versucht hatten, ihr Sensorium durchs Klo zu spülen, oder vesehentlich das globale Paßwort in ein öffentliches Infoterminal eingegeben. Es war nicht unwahrscheinlich, anzunehmen, daß es auch auf Lomatia Diebstähle, Raubüberfälle, Schlägereien, Betrug und Mord gab. Wie hoch war die Aufklärungsquote? Wie arbeitete die hiesige Polizei? Ich joggte ins Hotel zurück, baute mein falsches Sensorium wieder zusammen, nahm einen Schluck Wodka und duschte lange. Dann marschierte ich zum terranischen Konsulat. Es ist eine Dienstanweisung bei der Abwehr, sich nur in dringenden Notfällen an ein Konsulat zu wenden, erst recht nicht, wenn man auf einem Undercover-Einsatz ist. Jeder lokale Geheimdienst, der mit beiden Händen seinen Hintern finden kann, hält Konsulate und Botschaften unter besonders sorgfältiger Beobachtung. Aber es half nichts, ich brauchte ein paar Infos. Und das flott. Mrs. Eren mußte auf dem Konsulat eben etwas zu tun finden. Das Konsulat war leicht daran zu erkennen, daß es genau so aussah, wie es behauptete, auszusehen: ein weiß gestrichener Bau mit ein paar dekorativen Säulen und einer Freitreppe, ein symbolisches Nicken in die Richtung von Terras Macht und Einfluß (ha!). Ansonsten war das Gebäude von außerordentlicher Schlichtheit. Es war nicht viel los. Unbehelligt spazierte ich zwischen den Soldaten hindurch, die, Sensorien auf dem Kopf, unbewegter Mine das Gebäude bewachten. An ihrer Stelle wäre ich nervös gewesen: Wie sollte ich etwas bewachen, wenn ich nichts sah? Aber entweder waren sie noch nicht zu dem Schluß gekommen, oder sie waren von phlegmatischem Temperament. Auch in der klimatisierten Empfangshalle war alles das, was es vorgab zu sein. Nominell war das hier terranisches Gebiet, trotzdem trugen alle Anwesenden Sensorien: Die Empfangsdame hinter der Theke ebenso wie der Mann, der ihr gerade sein Problem erklärte, und die Frau und drei Kinder, die auf den Sesseln im Wartebereich hockten und etwas anstarrten, das nur sie sehen konnten. Ich ließ mich in einen der Sessel sinken, streckte die Beine aus und wartete. Ein Bote kam und brachte die Post. Der Mann sammelte Frau und Kinder auf und marschierte ab, sichtlich erleichtert. Die Empfangsdame warf mir einen fragenden Blick zu. Ich erhob mich langsam und kam erst an ihrem Schalter an, als der Raum bis auf uns beide leer war. "Guten Tag", sagte ich höflich. "Ich möchte den Konsul sprechen." Die Frau, laut Namenschild eine Miß Crystal Jones, blinzelte. "Haben Sie einen Termin?" "Sagen Sie ihm bitte, es handelt sich um eine AX13 und fragen Sie ihn, wann er einen Termin für mich hat. Ich warte derweil." Frau Eren, überlegte ich, während ich in meinen Sessel zurücksank, wollte Rücksprache mit ihren Auftraggebern halten. Über eine codierte Leitung. Die es auf Lomatia nicht gab. Aus dem Automaten zog ich mir einen Kaffee, nahm mir eine Illustrierte und las über die irrelevanten Aktivitäten irrelevanter Persönlichkeiten. AX13 hieß, "vor Ihnen steht eine verdammte VIP, gucken Sie in ihre Datenbank und raten Sie, wer ich sein könnte". Es verging etwa eine halbe Stunde, als Miß Jones mich anrief. "Mrs. Eren?" Ich hob den Kopf. "Ja?" "Kommen Sie bitte mit." Ich erhob mich und dackelte ihr hinterher, durch eine Tür ("Für Unbefugte verboten"), eine weitere Tür, an einem Wachtposten und einer Videokamera vorbei, in einen holzgetäfelten Aufzug. Drei Stockwerke nach oben, eine Halle mit Teppichboden, eine zweiflüglige Tür aus etwas, das vorgab, Holz zu sein und wahrscheinlich Panzerplatte war: Ganz klar ein Standardbau. "Hier hindurch, bitte." Miß Jones winkte mich durch die Tür und verdrückte sich. Der Konsul, Mr. Kotyczka, war ein kleiner, rundlicher Mann in einem Anzug, der ebenso terranische Standardausstattung zu sein schien wie der ganze Rest des Gebäudes. Er stand auf und schüttelte mir die Hand. "Mrs. Eren. Womit kann ich ihnen helfen?" "Haben sie einen Identipad hier?" fragte ich. Auf seiner Stirn erschien eine Denkerfalte. "Gewiß", sagte er, deutlich weniger jovial. "Einen Moment." Er öffenete einen der Schränke -- ich hörte das sanfte Klicken eines Hochsicherheitsschlosses -- holte ein Identipad von der Größe einer Zigarrenschachtel hervor, und stellte es vor mich auf den Tisch. Ich preßte die Hand auf die Sensorfläche und sagte, "Solveig Jamieson, Colonel, Solare Abwehr, Dienstnummer..." Mit einem halben Auge beobachtete ich den Konsul. Ich liebe es zu sehen, was für Gesichter sie machen, wenn ich das sage. Das Gerät summte und ein grünes Licht leuchtete auf. Ich schob es zu Mr. Kotyczka rüber und blieb auffordernd vor dem Tisch stehen. Er musterte die grüne Leuchte eine Weile, schaltete dann das Gerät aus und packte es vorschriftsmäßig weg. Über das Interkom wies er Miß Jones an, daß er nicht gestört zu werden wünschte, und wandte sich dann an mich. "Ich stehe Ihnen selbstverständlich zu Diensten." Mr. Kotyczka, das mußte man ihm lassen, trug Überraschungen mit Fassung. "Gut. Ich brauche alle Informationen, die Sie über das lomatische Kommunikationsnetz haben. Und alles über die Organisation und Abläufe von Polizei und Justiz. Inklusive Statistiken." Ich hörte ein schwaches Nach-Luft-Schnappen. "Wissen Sie, was das *kostet*?" "Es interessiert mich nicht, was es kostet", sagte ich. "Es interessiert mich auch nicht, ob es auf Lomatia legal ist, diese Information zu erwerben, zu besitzen, auf ein Terminal auszugeben, oder, bei Gott, auszudrucken und auf seinem Schreibtisch auszubreiten. Das einzige, was mich interessiert, ist, daß mir diese Informationen innerhalb von zwei Stunden vorliegen. Und in der Zwischenzeit können wir uns vielleicht ein wenig unterhalten." Ich legte mein Sensorium ab. Mr. Kotyczka war offensichtlich schon lange genug auf Lomatia, um die Ungeheuerlichkeit dessen, was ich da gesagt hatte, zu erfassen. Er machte ein paar Mal den Mund auf, um Fragen zu stellen, beschloß dann, es lieber zu lassen und stattdessen einfach das Notwendige in die Wege zu leiten. Nachdem ich sicher war, daß die Räder ins Rollen gekommen waren, wurde ich umgänglicher und ließ mir einen Espresso anbieten. Mr. Kotyczka ließ auf italienische Art ein Eiswasser dazu bringen. "Erzählen Sie mir was", sagte ich. "Von Lomatia." Mr. Kotyczka, stellte sich heraus, war einer der hartgesottenen Diplomaten der alten Schule, die sechs Sprachen sprachen und sich ohne mit der Wimper zu zucken jedem noch so exotischen Brauch anpassen konnten. Er hatte Anthropologie studiert, ehe er in Nairobi auf die Diplomatenschule gegangen war. "Wenn die Anthropologie meine Qualifikation für Lomatia war, hat sich wohl jemand einen Scherz erlaubt", sagte er. "Auf diesem Planeten braucht man einen Ökonomen und einen Anwalt." Das Konsulat hatte nur je ein Infoterminalendgerät, ein Radio und ein TriVid-Gerät, und die Lizenzkosten für unbeschränkten Zugang zu diesen drei Geräten kosteten das Imperium ein Vermögen. Tatsächlich war von der Rechnungsstelle die dringende Aufforderung gekommen, die Geräte nur zu benutzen, wenn es unumgänglich war, und anschließend sofort wieder auszuschalten. Und das häufigste Problem, mit dem er zu tun hatte, waren terranische Touristen, die an ihren Sensorien herumspielten. "Kann ich mir vorstellen", sagte ich. "Wie funktioniert das System?" Wußte er es? "Ich bin kein Kommunikationstechniker", sagte er. "Soweit ich es verstanden habe, wird jedes eintreffende optische oder akustische Signal durch den Chip geparst. Der Chip entscheidet abhängig von der Einstellung des Sensoriums, ob das Signal dargestellt wird, und wenn ja, in welcher Form, und meldet seine Entscheidung einer Zentrale, die dann die Abrechnung übernimmt." "Woher kommen die eintreffenden Signale?" fragte ich. Er brauchte ein bißchen, um die Frage zu verstehen. "Die Sensorien verfügen über eine Kamera und ein Mikrophon." Er zögerte. "Nehme ich an." Ich nickte und ließ ihn weiterreden. "Es ist ein System von bemerkenswerter technischer und struktureller Brillianz", fuhr er fort. "Lomatia wurde in der zweiten Phase besiedelt, vor ungefähr hundertfünfzig, hundertachtzig Jahren, und seine Wirtschaft war immer stark abhängig vom Export künstlerischen Schaffens. Als Lomatias Unabhängigkeit das erste Mal bei der Kolonialbehörde entschieden werden sollte, äußerte man dort starke Bedenken an der Nachhaltigkeit von Lomatias Wirtschaftsform, und dem Planeten wurde die Unabhänigigkeit verweigert. Die wirtschaftliche Entwicklung schien der Kolonialbehörde recht zu geben, Anfang des vergangenen Jahrhunderts brach die lomatische Wirtschaftsleistung nahezu völlig zusammen. Man machte dafür Piraterie verantwortlich." Anfang des vergangenen Jahrhunderts hatten die Akonen ihr beträchtliches Bestes getan, das gesamte Solare Imperium wirtschaftlich und politisch von der Landkarte zu tilgen. Der Robotregent hatte mehrfach versucht, Atlan loszuwerden und war schließlich zerstört worden, hatte dabei den Großteil der arkonidischen Militärmaschine mitgenommen. Die terranische Regierung hatte viermal in acht Jahren die Steuern erhöht, um den Ausfall unseres besten Verbündeten durch Forcierung des eigenen Flottenbaus abzufangen, und auf den Straßen von Mars Port war es zu offenem Aufruhr gekommen, als radikale Marsianer Unabhängigkeit von Terra verlangt und ihre Forderungen mit Bomben und Sabotageakten 'bekräftigt' hatten. Thomas Cardiff hatte versucht, Perry umzubringen und seinen Platz einzunehmen, und ohne das hinterlistige Eingreifen von ES wäre ihm das sogar gelungen. Erst der Posbi-Krieg mit seinen gewaltigen Verlusten an Leben, Schiffen und sogar Planeten hatte aus Terranern und Akonen widerwillige Verbündete gemacht, den Zweiflern den Wert der Flotte aufgezeigt und die letzten Umstürzler so marginalisiert, daß sie aufgaben und nach Hause gingen. "Piraterie?" fragte ich, Bilder von Walzenraumern in meinem Kopf, die sich auf Lomatia niedersenkten und "Schutzgeld" verlangten, da sie anderenfalls alles zu Klump schießen würden. So etwas war vorgekommen in jenen Jahren, wenngleich meines Wissens nicht in diesem Sektor. "Wie groß waren die angerichteten Schäden?" Ich hatte keine Ruinen gesehen, aber die lomatische Leichtbauweise würde kaum Ruinen hinterlassen. Und ohne einen Blick aus der Luft konnte ich unmöglich sagen, ob der Planet die charakteristischen Narben von Schiffsgeschützen trug, kreisrunde Flecken verglasten Bodens. "Über eine Milliarde Solar", sagte er. Das klang nach einem Erfassungsfehler. "Sind Sie sicher?" "Ich habe die offiziellen Zahlen da, wenn Sie sie sehen wollen..." "Geben Sie her." Kotyczka begann in seinen Aktenschränken zu suchen. Ich spürte wieder dieses leichte Schwindelgefühl, das Lomatias Illusionen bei mir verursachten. 2113 hatte man die Kolonien der zweiten Phase, deren gesamte Wirtschaftskraft eine Milliarde Solar erreichte, an den Fingern einer Hand abzählen können. Daß ein Planet, dem die Kolonialbehörde die Unabhängigkeit verweigert hatte, so eine Summe *verlieren* konnte, war absurd. Kotyczka produzierte einen Aktendeckel. Ich überflog ihn. Aha. Die Milliarde war der Verlust, den Lomatia selber angegeben hatte. Ich grinste. Es war offensichtlich, wie der Hase hier lief. Wenn sie diese Milliarde als kriegsbedingte Verluste abschrieben, stieg ihre Gesamtwirtschaftskraft auf dem Papier auf ein Niveau, wo Unabhängigkeit keine Frage mehr war. "Verstehe", sagte ich. "Wurden diese Zahlen je von unabhängiger Stelle überprüft?" Kotyczka wußte es nicht. Lomatia, jedenfalls, hatte im großen Aufwasch von 2115 seine Unabhängigkeit bekommen, und hatte auf der Stelle drakonische Gesetze gegen Piraterie erlassen, was natürlich eine rein symbolische Handlung war, solange sie keine starke Flotte hatten, die der Piraten auch habhaft werden konnte. "Schon kurz nach der Unabhängigkeit", erzählte Kotyczka weiter, "wurden die ersten Versuche mit den Vorläufern der Sensorien gemacht, aber schwerwiegende Grabenkämpfe zwischen zwei Fraktionen hielten die Entwicklung weitere zwanzig Jahre auf..." Er erzählte etwas über Sensortechnologie, das er offenbar nicht ganz durchschaute, und ich versuchte, den Sprung von Mordbrennerei zu Lizenzgebühren nachzuvollziehen. "Halt," sagte ich. "Halt." Er sah mich etwas verwirrt an. Ich hatte nicht vor, ihm zu erzählen, daß ich von seinen Geschichten eine weiche Birne bekam, und sagt statt dessen, "Ich nehme an, das steht alles in den Unterlagen, die Sie mir zur Verfügung stellen werden." Er nickte mit dem etwas unsteten Blick des Aus-dem-Konzept-gebrachten. "Gut. Geben Sie mir bitte einen kurzen Überblick über das hiesige Polizei- und Justizwesen." Kotyczka nippte an seinem Wasserglas. Ich ließ ihm etwas Zeit, seine Gedanken wieder aufzusammeln. "Da gibt es nicht allzuviel zu sagen", sagte er schließlich. "Beide folgen dem Standard für terranische Kolonien dieses Typs...." Nach Jahrzehnten bei der imperialen Kriminalpolizei war ich mit dem, was Kotyczka mir erzählte, recht vertraut, und diesmal verzichtete er freundlicherweise auf non-sequiturs. Die Polizeiarbeit auf diesem Planeten war normaler, als ich nach den Ereignissen der letzten Tage erwartet hatte. Die Spurensicherung wurde von spezialisieren Robotern vorgenommen, die Datenspuren von Verdächtigen durch Rechenmaschinen ausgewertet. Ein Nebeneffekt der Sensorien war, daß jeder sich stets jedem mit Namen, Beruf und Alter vorstellte, was die Verbrecherjagd wesentlich einfacher machte. Allerdings wußte Kotyczka von Gerüchten, daß gesuchte Verbrecher sich gelegentlich in die Hügel flüchteten. Ich fragte mich, ob den Verbrechern klar war, daß die grünen Hügel eine wasserlose Wüste waren. "Was würde denn passieren, wenn ein, sagen wir, Räuber sein Sensorium absetzen würde, ehe er jemanden überfällt?" fragte ich. Kotyczka überlegte. "Die Lomatier reagieren auf das Absetzen von Sensorien äußerst drastisch", sagte er. "Das mag seltsam erscheinen, aber tatsächlich spielen hier privatrechtliche Aspekte eine Rolle. Raub bringt den Übeltäter für ein paar Jahre ins Gefängnis. Sensoriumsmanipulation..." Er schüttelte den Kopf. "Sie sind Anthropologe", sagte ich. "Würden Sie sagen, daß man hier von einem kulturellen Tabu sprechen kann?" "'Das-was-man-nicht-tut'? Eine interessante Art, es zu beschreiben. Natürlich sind die Sanktionen auch äußerst schwerwiegend. Der bloße Versuch, sich unlizensiert Zugriff zu geschütztem Gut zu verschaffen, bedroht die Grundlagen von Lomatias Reichtum und Gesellschaft, seine Lebensgrundlage." "Könnte man in dem Zusammenhang gerechtfertigt von Terrorismus sprechen?" fragte ich. "In gewisser Hinsicht. Aktionen, die den Zusammenbruch der Gesellschaft bewirken können oder sollen. Der wirtschaftliche Schaden..." Ich nickte ermutigend. "Sagen Sie mir, wie groß der wirtschaftliche Schaden ist, wenn sich jemand seinen Hauseingang ansieht, ohne eine Lizenz dafür zu haben." Es gelang mir, die Ironie aus meiner Stimme herauszuhalten. Schließlich war ich Agentin und keine Kabarettistin. Kotyczka runzelte die Stirn. "Ich habe die Zahlen nicht zur Hand", sagte er. "Beträchtlich, jedenfalls. Und der Vertrauensverlust ist dabei noch nicht eingerechnet. Deshalb wird Sensoriumsmanipulation von Staats wegen extrem streng geahndet, und dann kommen noch die Schadenersatzforderungen hinzu..." "Und wie", stellte ich die Frage, die mir die ganze Zeit auf dem Herzen lag, "würden die lomatischen Gesetzeshüter jemanden finden, der sein Sensorium abgesetzt und vor eine Dampfwalze geworfen hätte?" Kotyczka sah mich kariert an. "Nun, selbstverständlich würde so eine Person daran zu erkennen sein, daß sie keine Identifierungsdaten aussendet. Das wäre wohl so unauffällig, wie in Terrania mit einem Sack über dem Kopf herumzulaufen." Gah. Solveig. "Natürlich", sagte ich schwach. "Man würde ihn ja sehen." Der Foliendrucker begann zu blinken und Blätter auszuspucken, ehe ich mich weiter reinreißen konnte. Kotyczka überflog kurz das erste Blatt und winkte dann mich an den Drucker. Offenbar wollte er meine Probleme nicht zu seinen machen, indem er unlizensiert Informationsmaterial las. Das konnte mir nur recht sein. Ich wollte in meinen Dachgarten zurück. Ich bedankte mich, sammelte die Folien auf, schob mir das Sensorium auf den Kopf und sagte: "Was den Grund meines Besuchs betrifft: Mrs. Eren hat Sie darum gebeten, auf einer sicheren Leitung ein Gespräch mit ihren Auftraggebern führen zu können. Sie wissen ja, wie schlecht die Verbindungen oft sind, dieses einfache Anliegen hat zwei Stunden gedauert." ################# # TEIL 4: ACTION! ################# ### 9. Kapitel ### Draußen war es Nachmittag, und die Straßen füllten sich wieder. Ich machte mich auf zum Hotel, um den Ich-war-hier-Teil meines Sensoriums wieder vor den TriVid zu klemmen. Götter, irgend jemand mußte *wissen*, daß Leute ohne Sensorien unsichtbar waren, irgend jemand mußte vorbereitet sein, etwas dagegen zu tun. Wieder und wieder schaute ich über meine Schulter, riß mich schließlich am Riemen: Noch hatte ich meine Fälschung auf dem Kopf... Aber als ich das Hotel verlassen hatte, begann ich zu rennen, und erst, als ich die ersten Leitern und Seilbrücken der Sh'wzz sah und mich auf ein Dach gehangelt hatte, fühlte ich mich sicherer. Vor dem Haus, auf dem Nemo lebte, stand ein Polizeitransporter. Ich schmiß mich flach auf das Dach, auf dem ich mich gerade befand, ein gartenloses Dach, dessen billiger Kunststoffbelag glühend heiß war und in kleinen schwarzen Flocken abblätterte, als ich ihn berührte, robbte zum Dachrand und schielte auf den Transporter herunter. Um den Wagen herum schwirrten ein Dutzend Sh'wzz, und auf dem Dach gegenüber erschien jetzt Nemo und winkte mir zu. Ich stöhnte und rappelte mich auf. Die Paranoia ließ mich so leicht nicht gehen. Wenn Nemo nun ein Agent welcher-Mächte-auch-immer... Laß es, Solveig. Ich stieg vom Dach. Nemo tat das gleiche und wies auf den Transporter. "Hast du sie losgeschickt, einen zu holen?" fragte er. "Meine Pläne waren noch nicht ganz so weit..." "Wassis?" sagte ein Sh'wzz, der neben uns aufgetaucht war. "Wagen, guter Wagen, du brauchen Wagen, du nehmen Wagen? Wagen gut, guck!" Er zeigte mir einen Haufen Kabel, die aus dem Armaturenbrett hingen und auf eine Art verschaltet waren, die der Designer bestimmt nicht im Sinn gehabt hatte. Hinter dem Transporter stand ein kleiner Wartungswagen, an den zwei Sh'wzz gerade die Sensoren des Polizeitransporters tackerten. Hrrzst sah von seiner Arbeit auf und grinste mir zu. "Hey Lady. Wir schicken die Karre hier gleich auf den Hof der Polente zurück. Solange die Plattfüße nicht versuchen, damit zu fahren, werden sie's nie merken." Ich sah Nemo fragend an. Er hob eine Hand halb zum Himmel. "Sie haben beschlossen, daß du einen Polizeiwagen mögen würdest. Der Karren da, so wie ich es verstanden habe, hält sich jetzt für den Transporter, und der Transporter behauptet, ein Straßenwartungskarren zu sein. Oh, und sie wollen dich alle begleiten." Der Sh'wzz, der zuerst mit mir gesprochen hatte, griff meine Hand und schüttelte sie kräftig. "Ich Stsch, großer Kundschafter von Stamm der Chrrt. Großes Abenteuer! Wie im Film!" Auch die anderen stellten sich vor. Ich hatte meine Hilfstruppen, ob ich wollte oder nicht. Etwas überwältigt wendete ich mich an Nemo. "Kommst du auch?" Er holte Luft um abzulehnen. Ich zwinkerte ihm zu. "Komm, Nemo, weiser Mann vom Stamm der T'rrns. Großes Abenteuer!" "Oo-kay", sagte er. "Ich packe meinen Kram", und er kletterte aufs Dach. Die Sh'wzz taten es ihm nach, nur Hrrzst blieb mit der überlegenen Miene des Wohlorganisierten stehen. Über seinem Rücken hing ein türkisfarbener Kinderrucksack. Etwa eine halbe Stunde Gewühl und Gezanke später hatten meine Hilfstruppen ihre Ausrüstung beisammen: Dramatisch geschmückte Umhänge, Piratenhüte aus einer lange vergessenen Requisite, Seile, Wasserkrüge, Töpfe mit kaltem Getreidebrei, Werkzeuggürtel, Fletschen, zwei zahme leguanähnliche Reptilien mit sechs Beinen, und ein Sh'wzz mit einer Gretchenperücke trug eine topmoderne, professionelle Vidkamera. Großes Abenteuer, allerdings. Die Sh'wzz sprangen auf die Ladefläche des Transporters, und Nemo, ich und Hrrzst richteten es uns im Führerhaus ein. Ich machte mich mit den Kontrollen vertraut und startete das Fahrzeug. Der Antrieb brummte nur ein wenig, als der Wagen sich vom Boden löste und in etwa zwanzig Zentimeter Höhe Fahrposition erreichte. Vorsichtig zog ich am Gashebel, und wurde mit einer soliden Beschleunigung, die mich in den Fahrersitz drückte, belohnt. Hrrzst hängte sich aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, daß niemand von der Fuhre gefallen war. "Ich fühle mich, als würde ich einen Kindergarten in einen Springerhinterhalt schicken", murmelte ich. "Verstehen die Sh'wzz überhaupt, worum es geht?" "Ronan der Gesetzlose," antwortete Nemo. Ich braucht ein bißchen , um zu schalten. "Was?" 'Ronan der Gesetzlose' war eine TriVid-Serie gewesen, die vor dreißig Jahren sehr populär gewesen war. Inzwischen war sie nahezu in Vergessenheit geraten. "Ronan ist ihr Held", erklärte Nemo. "Abends am Lagerfeuer erzählen sie immer neue Geschichten über seine Heldentaten. Er ist ihr Coyote und Robin Hood und Captain Ironstar in einem." Hrrzst rutschte wieder in den Wagen, und wir hielten den Mund. Bald ließen wir die Straßen der Stadt hinter uns und fuhren ins offene Land hinaus. Ich manövrierte den Wagen vorsichtig über Bodenwellen. Die Hitze flirrte hier draußen, und an windigen Stellen wanderten Sandmuster über den Boden. Hier und da zeugten verdorrte Pflanzen und die Gerippe von Tieren noch von einstigen grünen Tälern und Wasserlöchern. In einer Senke lag der Boden gedrängt voll von Knochen, dürres Gestrüpp wuchs, und Fliegen summten. Ein schwacher Geruch von Wasser, nicht genug, anscheinend, um die Herden, die hierher gedrängt hatten, als das Wasser verschwand, am Leben zu halten. Hrrzst betrachtete die Knochen traurig. "Trrt't", sagte er. "Große Herden. Lange her." Ich sah zu, daß wir von dem trostlosen Ort wegkamen. Ich versuchte, mich an die Karten zu erinnern, die ich aus dem Datenterminal herausgekitzelt hatte. Es gab eine Hauptstraße, die ins Hinterland führte und von der eine Stichstraße zum Stadtgefängnis abging. Auf der Hauptstraße wollte ich nicht erwischt werden. Zum Glück war der Wagen geländegängig und das Territorium nicht gar zu schwierig, so daß wir einen weiten Bogen fahren konnten und uns der vermuteten Position des Stadtgefängnisses von der stadtabgewandten Seite nähren. Die Sonne ging gerade unter, als ich den Wagen vielleicht zwei Kilometer entfernt in einem langgezogenen, felsigen Tal abstellte. Meine Truppe sprang von der Ladefläche und packte ihre Picknikkörbe aus. Ich hatte Durst. Anscheinend, dachte ich, war ich noch planloser als meine Truppe, wenn ich für einen mehrtägigen Wüstentrip nicht mal Wasser mitgenommen hatte... Nemo grinste mich an und zog eine riesige Kühltasche unter seinem Sitz vor. Als alle satt zu sein schienen, winkte ich Hrrzst zu mir. "Wassis, Lady?" fragte er. "Ich brauche Kundschafter", sagte ich. "Kannst du die Leute einteilen..." ich zählte schnell durch, achtzehn plus Hrrzst -- "fünf Gruppen zu dritt, die beiden schnellsten Läufer und den Kameramann in keiner Gruppe." Ich begann, eine provisorische Karte in den Sand zu zeichnen. Mehrere Sh'wwz kamen interessiert herangeschlendert und wurden von Hrrzst mit einem Zischen vertrieben. "Eine zu der Straße hier. Zwei zu diesem Gebäude." Ich zeichnete eine Art Haus da ein, wo ich das Gefängnis vermutete. "Sie sollen den Kameramann mitnehmen. Die schnellen Läufer hierhin", ich markierte die Position, "und hierhin. Die Gruppen am Gebäude sollen wiederkommen, wenn sie alles gesehen haben. Die Gruppe an der Straße beobachtet, bis sie abgelöst werden. Klar?" Der Kamm in Hrrzsts Nacken plusterte sich vor Stolz, zur rechten Hand des Räuberhauptmanns ernannt zu sein. "Klar wie Kloßbrühe, Lady. Genau wie in 'Ronan und das Tal der Verdammten'." An die Folge erinnerte ich mich nicht. Ich schielte zu Nemo, der enthusiastisch nickte. "Genau so", sagte ich, und fügte hinzu, "Laßt euch nicht erwischen." Hrrzst salutierte, wieselte dann davon und begann, Leute herumzukommandieren. *** Die Temperatur hier draußen sank schnell, die Nacht war sternklar. Die Sh'wzz, die nicht kundschaften waren, dösten oder erzählten einander Geschichten. Mitternacht kam und ging, und gegen halb eins waren meine Späher wieder da. Meine Hoffnung, daß das Gefängnis ebenfalls nur aus Pappmachee bestand oder aus einer Energiekuppel, die sich von außen mühelos ausschalten lassen würde, hatte sich nicht erfüllt: Die Vidaufnahmen zeigten einen einzigen Betonklotz mit einem einzelnen schweren Eisentor. Keine Mauern, über die man drüberklettern, und keine Fenster, wo man sich reinwinden konnte. Menschen hatten sie keine gesehen. Ich dachte nach. Wir mußten durch das Tor. Rein, und wieder raus. Wir waren unsichtbar. Oder? *** Am nächsten Morgen erzählte ich Hrrzst meinen Plan. Der nickte und ging nach Freiwilligen suchen. Dieses Mal kam ich mit, und beobachtete aus sicherer Entfernung, wie eine Handvoll Sh'wwz sich feierlich neben dem Tor aufbauten und aus Leibeskräften das Thema aus 'Ronan, der Gesetzlose' sangen. Nichts geschah. Keine Wachen, keine Selbstschußanlagen, keine Anwälte: Niemand hielt die Außenseite des Gefängnisses unter Beobachtung. Meine Straßenbeobachter berichteten, daß im Morgengrauen ein Transporter mit Lebensmitteln die Straße hinuntergefahren gekommen war, durch das Tor, und zwei Stunden später zurück. Die morgige Episode, entschied ich, würde 'Ronan und der Überfall auf den Brötchenwagen' sein. *** "Soll ich mitkommen?" fragte Nemo. Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Wenn ich nicht wieder rauskomme..." Ich riß einen Knopf von meinem Hemd ab. "Schleich dich beim terranischen Konsulat rein und gib dem Konsul den Knopf, mit den besten Grüßen von mir." Nemo betrachtete den Knopf stirnrunzelnd. "Und ich dachte, geheime Codegeber gäb's nur im Film." Ich schnaubte. "Wie, denkst du, identifizieren wir uns? Telepathie? Hast du eine Sicherheitsnadel oder Instantkleber?" "Nimm wenigstens einen der Sh'wwz mit." Ich seuftze. "Ich würde gerne. Aber wenn wir erwischt werden und die Existenz der Sh'wwz auffliegt..." "Nimm Hrrzst mit," schlug er vor. "Du brauchst einen Techniker. Und wenn ihr erwischt werdet, kann er behaupten, ein Topsider zu sein." Ich warf einen Blick auf Hrrzst, der sich gerade ein paar Kaktusblüten an seinen Umhang klebte. "Topsider?" "Woher sollten sie den Unterschied kennen?" *** Es lief wie geschmiert. Die Sh'wzz verteilten die Knochen eines großen Tieres auf der Straße. Der Wagen, roboterkontrollliert, bremste auf Schrittgeschwindigkeit herunter und umkurvte sie vorsichtig. Hrrzst und ich sprangen auf, und der Wagen, mit seinen blinden Passagieren, passierte das Tor. Leute mit Sensorien auf dem Kopf begannen, abzuladen. Hrrzst und ich schlichen uns davon. In die Zentrale Aufsicht zu kommen, dauerte fast eine Stunde, da wir nicht riskieren wollten, Türen zu öffnen (und folglich immer warten mußten, bis jemand hindurchging), und dann noch mal eine halbe, bis der Mensch, der in lethargischer Haltung leere Monitore beobachtete, ging, um sich einen Kaffee zu holen. In den drei Minuten, bis er wiederkam, hatte ich mich in den Rechner eingeloggt (von 'Hacken' konnte man bei diesem Mangel an Sicherheitsmaßnahmen kaum reden) und die Zellen- und Insassennummer von Eliza Montoya herausgefunden. Hrrzst hielt in der Zentrale die Stellung, während ich mich durch die Tür verdrückte, als der Wächter mit seinem Kaffee wiederkam. Der Türrahmen war ein bißchen eng, und ich streifte ihn. Er ignorierte es. Wahrscheinlich lernte man, seinen Tast- und Geruchssinn zu ignorieren, wenn man auf Lomatia lebte. Es stellte sich heraus, daß es im Rest des Gebäudes kein Licht gab. Wozu auch? Ich schob mir meinen Visor über die Augen und machte mich auf die Suche nach Zelle 14-II-B24. Draußen war es Vormittag. Eine Glocke schallte und Leute strömten durch die Gänge, geleitet von irgendwelchen Signalen, die mein Sensorium nicht decodierte. Mist. Ich begann, die Anlage systematisch abzusuchen, als vor mir eine blinkende Kaktusblüte erschien. Ich blinzelte -- es war ein Signal an mein Sensorium. Danke, Hrrzst. Ich folgte der Kaktusblüte. Es roch nach dicht gedrängten Menschen und Kondenswasser. Auf dem Beton hatten sich schwach phosphorizierende Funghi angesiedelt, und als ich meine Hand über ein metallenes Treppengeländer laufen ließ, spürte ich alten Lack in Lagen abblättern, wo der Rost sich ins Metall fraß. In der feuchten Luft roch der Rost nach Blut, und wenn man die Treppen eilig hinauf- oder hinablief, machten sie einen Lärm wie große Gongs und schwangen bedrohlich. Irgendwo rumpelten Maschinen, Ventilatoren klapperten, überarbeitete Luftaufbereiter schnauften, Pumpen gurgelten. Das ganze erinnerte mich an das Innere einer aufgegebenen Raumstation. Einer ganz bestimmten aufgegebenen Raumstation, wo wir in der Frühzeit des Imperiums eine Piratenbasis ausgenommen hatten. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, und ich kämpfte entschlossen die Vorstellung nieder, daß sich in der Finsternis bis an die Zähne bewaffnete Überschwere verbargen. Das Sensorium zeigte geweißte Wände und grün lackierte Treppen, neutrales, indirektes Licht. Die Blüte, leuchtend terrasonnengelb, schwebte zwei Treppen hinauf, um eine Anzahl von Ecken, und durch einige Zwischentüren. Zellen gingen links und rechts ab. Die Türen bestanden aus Energieschirmen, die vorgaben, Metallgitter zu sein. Zelle 14-II-B24 war leer. Ich sah mich ratlos um. Die Kaktusblüte verblaßte, flackerte dann plötzlich hell auf und begann zu hüpfen, ehe sie sich eilig den Gang hinunter bewegte. Hrrzst war etwas eingefallen. Die Maschinengeräusche wurden lauter, als ich mehrere Treppen hinunterstieg. Das Geräusch einer Fabrikhalle. Die Blüte leitete mich durch Hallen, wo der Lärm betäubend war und Gefangene elektronische Bauteile zusammenschraubten. Mir fiel auf, daß es zu viele Wachen gab. Dann fiel mir auf, daß die Wachen ein bißchen zu wenig individuell aussahen. Von da, wo sie standen, kam kein Gefühl einer Präsenz. In Normalsicht war das einzige Licht das blaue Aufflackern gelegentlicher elektrischer Entladungen, und die Wachen nicht vorhanden. Drei Hallen, dann hielt die gelbe Blüte über dem Kopf einer Person inne und wippte auf und ab. In dem ungewissen Licht sah ich nur, daß die Person klein war. Von der Präsenz her schien es eine Frau zu sein. Mir blieb nichts übrig, als Hrrzst zu glauben, daß das hier Frau Montoya war. Ich machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Sie konnte mich weder sehen noch hören. Sie arbeitete gleichmäßig in einem unhörbaren Takt. Ein Teil kam angeglitten, sie setzte drei Lötpunkte, das nächste Teil kam. Ein Rädchen in der Maschine. Und die Maschine, anders als die Menschen, würde sofort wissen, wann ein Rädchen fehlte. Maschine? Ha! Keine zehn Schritte weiter war ein fehlerhafter Stromwandler, von dem gelegentlich ein blaues Blitzen kam. Ich tauchte unter das Förderband und tastete auf dem Boden herum. Staub, und klebriger Schleim, und Sachen, von denen ich gar nicht wissen wollte, was sie waren, und etwas aus Metall. Ich lachte fast, als ich es zutage förderte. Ein Schraubenschlüssel. Ich warf ihn aus sicherer Entfernung auf den Stromwandler und schloß die Augen. Einen blendend weißen Lichtbogen später stand die Maschine, es gab Alarm, die Gefangenen traten an die Rückwand des Raumes, und Lösch- und Reparaturroboter rollten herein. Direkt vor Eliza stand eine imaginäre Wache. Ich trat einfach durch sie hindurch, fokussierte auf Elizas Präsenz und verstärkte meine eigene, machte mich ganz und gar real, bis ich das Gefühl hatte, von einem leuchtenden Avatar umgeben zu sein, das man spürte wie Sonne auf der Haut. Ich war die Sonne über Terra. Der blaue Himmel, in den sich ein Raumschiff hob. Ich war Freiheit. Staunen zeigte sich auf Elizas Gesicht. Sie drehte blind den Kopf und ihre Lippen bewegten sich, dann hob sie vorsichtig die Hand. Ich tat das gleiche, und unsere Hände berührten sich. Sie sagte etwas, aber es war zu laut, um es zu hören, zu dunkel, um Lippen zu lesen. Ich drückte kurz ihre Hand, trat so nahe heran daß sie spüren mußte, wo ich war, und begann dann, das Sensorium zu demontieren, wie Hrrzst es mir gezeigt hatte. Eliza schüttelte heftig den Kopf: Nein! Ich griff mir wieder ihre Hand und malte mit der Fingerspitze ein O-K auf ihre Handinnenfläche. 'Vertrau mir' projizierte ich. Sie faßte nach meiner Hand. W-E-R. Ich buchstabierte zurück, T-E-R-R-A. Das Sensorium fiel ab. Ich kickte es in eine Ecke. Eliza starrte fassungslos auf das Pandämonium, das uns umgab, dann auf mich. Ich gestikulierte ihr, mir zu folgen, und das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Wir eilten durch die stockfinsteren Gänge, die Treppen hinauf, die Gänge entlang, immer hinter Hrrzsts Icon her, das uns letztendlich in eine Kaffeküche im Wachbereich führte. Hier war wenigstens Licht. Eliza Montoya trug einen ausgewaschenen Maoanzug. Ihre Hautfarbe war eigentlich ein Kaffeebraun, aber nach Monaten ohne Licht und Luft wirkte sie grau und so ausgewaschen wie ihr Anzug. Sie hatte Schwierigkeiten, ihre Augen zu fokussieren. Ihre Hände waren von kleinen, teils verheilten elektrischen Brandwunden bedeckt. "Geht es Ihnen gut?" fragte ich, und dann, um die Albernheit der Frage etwas zu dämpfen, "Sind Sie in Ordnung?" Sie legte einen Finger an die Lippen und sah sich panisch um. Ich sprach ruhig und leise. "Wenn wir keine Sensorien tragen, kann uns niemand sehen oder hören." "Nein", sagte sie, "doch", und dann wieselte Hrrzst in den Raum, schwenkte seinen Scanner. "Lady, die Dame ist verkabelt". An seinem Scanner blinkte eine Diode rot. Eliza starrte Hrrzst fassungslos an. Hrrzst nahm ein paar Einstellungen an seinem Scanner vor und rollte die Augen unabhängig voneinander. Eliza schnappte nach Luft. "Subkutan", sagte sie. Ich übersetzte für Hrrzst. "Unter der Haut." Hrrzst nickte, stellte an seinem Gerät herum. Die Diode begann zu blinken, als er damit an Elizas Gestalt entlangfuhr, blinkte schneller, leuchtete ruhig über ihrer rechten Schulter. "Kacke", sagte ich. Eliza versuchte, auf ihre Schulter zu schielen. "Sie haben uns gesagt...", sagte sie, "Identifizierung, und Ortungschips..." "Kannst du es abschirmen?" fragte ich Hrrzst. Hrrzst zog einen weiteren Apparat aus seinem Materialgürtel, hantierte hektisch, rollte die Augen und hielt das Gerät still. "Ist abgeschirmt, Lady", sagte er, "Ist aber knifflig. Sobald wir uns bewegen, verpfeift uns das Ding." Und wenn wir uns nicht bewegten, würden sie uns zu dem letzten Ort, von dem aus es gesendet hatte, folgen. Eliza war zur Salzsäule gefroren. "Sorry", sagte ich und zog ihre Jacke über ihre Schulter hinunter. Lomatische Mikrotechnologie ist, wie so vieles, nicht auf der Höhe der Zeit. Ich glaubte, den Chip ertasten zu können. Ohne Druck zog ich mit dem Fingernagel eine Linie vor. Eliza zuckte zurück. "Nicht bewegen", sagte ich, kramte mit der rechten, die sie nicht sehen konnte, mein Taschenmesser aus der Tasche. Es ging sehr schnell. Eliza bewegte sich nicht, sie zog nur scharf die Luft ein und wimmerte hinter zusammengebissenen Zähnen. Ich gab Hrrzst den blutverschmierten Mikrosender. "Schmeiß den ins Klo." Hrrzst rannte in den Gang. Wenige Sekunden später rannte eine Gruppe Wachen in die gleiche Richtung. "Oh mein Gott", sagte Eliza, während ich notdürftig ihre Schulter verband, "mein Gott. Wer sind Sie?" "Solveig Jamieson. Terranische Kolonialaufsicht." Sie starrte mich an. "Kolonialaufsicht", sagte sie schwach, und dann erfaßte die Situation sie, und sie begann, hysterisch zu lachen. "Kolonialaufsicht." Hrrzst tauchte wieder auf, starrte uns an. "Loco?" fragte er und tippte sich an die Stirn. "Wird schon wieder", sagte ich. Tatsächlich beruhigte sich Eliza schnell, als wir uns zwischen den jetzt alarmierten Wachen den Weg nach draußen suchten. Ich wollte nicht darauf vertrauen, daß es gar kein Protokoll für die Jagd nach Unsichtbaren gab. Fast alle terranischen Kolonien haben eines, nur verstauben die meisten davon seit über hundert Jahren in einem Aktenschrank. Ich wollte dem Tor zulaufen, aber Hrrzst führte uns nach oben, zu einem der Lüftungsschächte. Zum Glück waren Hrrzst und Eliza sehr klein, und ich bin sehr dünn, wir konnten uns gerade an dem kaputten Ventilator vorbeizwängen und kamen auf dem Dach heraus. Zum Glück enthält das terranische Überlebenspack auch eine Länge Seil. *** Eliza war entkräftet und hatte Koordinationsschwierigkeiten, im hellen Sonnenlicht konnte sie nichts sehen, das Geräusch des Windes machte sie taub, und ihr Gleichgewichtssinn war zum Teufel: sie stolperte mehr, als sie ging, und konnte nicht aufzustehen, wenn sie fiel. Letztlich trug ich sie den Großteil des Weges. *** "Du siehst aus als hättest du ein Gespenst gesehen", sagte Nemo. "Weiß wie ein Laken." Ich zischte zwischen zusammengebissenen Zähnen: "Wenn ich eine Einheit Marines dabeigehabt hätte, ich hätte diese Anstalt dem Erdboden gleichgemacht und jeden, der etwas damit zu tun hat, an Ort und Stelle exekutieren lassen." Nemo wandte sich ab und ich hörte ihn etwas von "Kolonialaufsicht..." murmeln. Ich pfiff die Sh'wwz zusammen. Wir brachen das Lager ab, verwischten alle Spuren und vermachten uns in den Wagen. Nemo fuhr. Eliza hielt sich dicht bei mir und entschuldigte sich dafür. "Alles fühlt sich so irreal an", sagte sie. "Im Gegenteil", sagte ich. "Das hier ist real. Faß es an. Riech daran. Das hier ist ein alter Polizeiwagen, der nach billigen Zigaretten und billiger Polsterung, heißem Metall und Kunststoff und verschwitzten Uniformen riecht. Die Sitze sind glatt und weich und etwas klebrig" -- ich führte ihre Hand -- "und die Verkleidungen sind rauh und hart und etwas klebrig, und das Fensterglas ist kühl, und das Metall draußen ist heiß... Der Typ neben dir heißt Nemo und riecht nach Sonne und Brandy und Marihuana..." Ich schnatterte weiter, und Eliza er-faßte ihre Umgebung wie eine blinde Frau. Und ich schauderte bei dem Gedanken, in welchem Zustand Ramsey Jefferson sein würde. *** Wir fuhren fünf Stunden in insgesamt nordwestlicher Richtung und machten Lager zwischen zerklüfteten Felsen in einem Hochland. In einer engen Klamm gab es einen kleinen Bach, der nach wenigen Dutzend Metern als Wasserfall über eine Felskante stürzte und zwischen den Steinen im Boden verschwand. Der Wind kam von Nord und trug den Geruch nach Grasland mit sich. Rattengroße Tiere mit geschecktem Fell betrachteten uns neugierig, ehe sie in Ritzen zwischen den Felsen verschwanden. Die sechsbeinigen Leguane versuchten, sie zu jagen, kriegten sie aber nicht. Stsch wies nach Westen. "Gutes Land", sagte er. "Viele Stämme. Viele Tiere. Manche böse." Als die Nacht fiel, war Elizas Gleichgewichtssinn soweit wiederhergestellt, daß sie ohne Hilfe geradeaus gehen konnte, und ihre Augen hatten sich daran gewöhnt, reale Dinge zu sehen. Nur wenn sie versuchte, nach etwas zu greifen oder etwas auszuweichen, war sie noch unkoordiniert. Sie teilte meine Ansicht über den Nutzen einer Einheit Marines. Ihre Geschichte enthielt nichts, was mir neu war: Sie war auf Lomatia gelandet, verhaftet worden und nach einer pro-forma-Verhandlung ("etwa so formell wir eine Ehescheidung auf Terra" sagte sie) in das Stadtgefängnis geschafft worden. Sie hatte verlangt, die terranische Vertretung zu sprechen, vergeblich. "Ich war davon ausgegangen, daß Terra oder die LSCF jemanden schicken würde", sagte sie. "Ich hatte allerdings einen Anwalt erwartet, keine militante Kolonialaufsichtsbeamte mit eingeborenen Hilfstruppen." Ich grinste entschuldigend. "Eigentlich habe ich weder die Befugnis, Hilfstruppen anzuwerben, noch, Gefangenenbefreiungen zu organisieren. Mein Auftrag war lediglich, herauszufinden, was hier vor sich geht. Die Ereignisse haben mich ein wenig, eh, überrollt." "Ein Glück für mich", sagte sie. *** In der Nacht starrte sie zu den Sternen hinauf. "Wie hast du das gemacht?" fragte sie. "Was?" "Als du gekommen bist. Ich habe gesehen, daß jemand kam. Etwas. Ich dachte, es wäre... Ich dache, ich werde verrückt." "Keine Ahnung", sagte ich. "Hast du dich vielleicht mal auf ESP testen lassen?" *** Wir lagerten zwei Nächte und zwei Tage zwischen den Felsen. Die Sh'wwz organisierten einen Raubzug auf eine Agrarproduktionsstätte und kamen mit dem Wagen voller Obst und Korn zurück, einem Faß Most und einer Flasche Bourbon. Am dritten Abend brachen wir wieder auf. Wir navigierten nach den Sternen und nach Gefühl, aber letztendlich mußten wir doch gelegentlich Straßen benutzen, denn das Land nördlich der Stadt war eine steinige Ebene, von tiefen Wadis durchzogen. Wir brauchten die ganze Nacht, um der Installation, die vermutlich das Arbeitslager war, auf zwei Kilometer nahe zu kommen. "Rinne gut!" sagte einer der Sh'wwz. "Keine Sonne." Also parkte ich den Wagen in einem Wadi und hoffte, daß es nicht regnen würde. Es war so heiß wie im Backofen. Ich kletterte auf die Ebene hinauf und stellte fest, daß es dort tatsächlich noch heißer war. Am Abend schickte ich meine Kundschafter aus. Um Mitternacht hatte ich die Bilder und Berichte, und beugte mich mit Nemo, Eliza und Hrrzst darüber. "Das sieht einfacher aus", sagte Eliza. Ich mußte ihr zustimmen. Anders als der monolithische Block des Stadtgefängnisses war das Lager geradezu prä- tech, Baracken, Stacheldrahtzäune, zwei Sendemasten, vermutlich für Sensoriumssignale, und außerhalb der Zäune die Felder, auf denen die Gefangenen arbeiteten. "Groß-Leute augenlos", sagte der Kameramann verächtlich und pellte sich eine Orange, die er von einer der Obsthecken auf den Feldern hatte mitgehen lassen. Die Wachen waren echt, und mit schweren Paralysatoren bewaffnet, aber sie trugen, ebenso wie die Gefangenen, Sensorien. Wenn man ein Messer und die nötige Entschlossenheit hätte, sich von dem Identifikationschip und dem Sensorium zu befreien, könnte man vermutlich einfach rausmarschieren. Und auf den zweihundert Kilometern bis zur Stadt jämmerlich verdursten. "Es gibt nur ein Problem", sagte ich. "Nur eins?" "Wie finden wir Jefferson?" Eliza dachte einen Moment nach. "Wie habt ihr mich gefunden?" "Zentralcomputer", sagte Hrrzst hilfreich. "Warum nicht?" fragte Nemo. "Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache", murmelte ich. *** Aber kein gutes Gefühl oder nicht, was half es? Ich hatte mich entschieden, Montoya und Jefferson zu befreien, als ich ihre Namen vor acht Wochen das erste Mal in meinen Unterlagen gesehen hatte, und es jetzt nicht zu tun, hätte überhaupt keinen Sinn ergeben. Die beste Gelegenheit, durch die Tore zu kommen, wäre am Abend, wenn die Gefangenen zurück ins Lager marschierten. Die Standardmethoden, um Unsichtbare zu finden, sind Infrarotsensoren und Bewegungsmelder. Die Hitze würde Infrarot nutzlos machen, und wenn wir uns nahe genug an den anderen Leuten hielten, war es unwahrscheinlich, daß ein Bewegungssensor uns herauspicken würde. Wenn wir erst mal drin waren, war es der Job von Hrrzst mit seinen kleinen Wunderkisten, uns unauffindbar zu machen. Mit etwas Glück konnten wir morgen früh mit Jefferson herausmarschieren, uns zum Raumhafen durchschlagen, und in fünf oder sechs Tagen würde ich an meinem Schreibtisch in Terrania sitzen und einen detaillierten Bericht darüber abfassen, daß die Lomatier alle miteinander den Verstand verloren hatten, und wir den Planeten den Sh'wwz überlassen sollten. Eine Stunde vor Sonnenuntergang schlichen Hrrzst und ich uns zu der Straße, die vom Lager zu den Feldern führte, und legten uns in einem flachen Graben unter ein paar verdorrten Sträuchern auf die Lauer. Ich linste durch mein Visor. Die Signale, die hier verwendet wurden, dekodierten zu einer extrem ikonographischen Szene, die mich an meine erste Ankunft auf Lomatia erinnerte -- nur daß es anstelle der Werbeeinblendungen erbauliche Sprüche gab, die wahrscheinlich dazu gedacht waren, die armen Sünder auf den Weg der Tugend zurückzuführen. Ich setzte den Visor ab, von dem beunruhigenden Gefühl getrieben, daß eine der Einblendungen "Arbeit macht frei" sein könnte, und ich dann für meine Handlungen nicht mehr verantwortlich gemacht werden konnte. Hrrzst griff sich mein Visor, schielte hindurch, bastelte an seinen Ortungsgeräten herum, rollte mit den Augen und schimpfte, daß die Entfernungen zu groß wären, um den Signalsalat zu interpretieren. Die Sonne war schon fast untergegangen, und die Schatten erstreckten sich bis zum Horizont, als auf ein Signal hin, das wir nicht wahrnahmen, die Arbeiter in Reihen antraten, die Wachen sich organisierten, und die ganze Masse sich geordnet aufs Tor zubewegte. Wie ich ausgerechnet hatte, gingen sie in Armesreichweite an dem Graben entlang. Als der zweite Block kam, kroch ich aus dem Gebüsch und reihte mich ein. Hrrzst folgte mir in ein paar Metern Abstand. Etwas von meiner mangelnden Begeisterung schien sich auf ihn übertragen zu haben. Im schwindenden Licht sahen seine Schuppen eher grau als golden aus, und sein Kamm war in sich zusammengefallen. Aufgewirbelter Staub stand in der unbewegten Luft. Das hier war eine furchtbar blöde Idee. Ich hätte mit Eliza und meiner Entourage verschwinden sollen, solange ich noch konnte, Terra hatte Anwälte und Diplomaten und Mutanten und Marines und hätte Jefferson bestimmt freibekommen, bevor das Jahr um war. Aber Terra hatte mich geschickt, und hier war ich. Das Tor bestand tatsächlich aus zwei hintereinandergelegenen Toren, wie eine Schleuse, links und rechts von niedrigen Pfosten markiert, deren Zweck ich im Zwielicht nicht erkennen konnte. Ganz wollten sie sich wohl doch nicht darauf verlassen, daß die Wüste ihre Gefangenen festhalten würde, oder sie wollten ihre Arbeiter nicht verlieren. Meine Gruppe trat zwischen die Tore, als Hrrzst, inzwischen eine Gruppe hinter mir, anfing zu pfeifen und zu zischen. Ich drehte mich um. Er schwenkte eines seiner Ortungsgeräte. Ein rotes Licht blinkte hektisch. Ich gestikulierte ihm: Verschwinde! Er salutierte, und im nächsten Moment war er fort. Die vier vermeintlichen Pfosten hoben sich aus dem Sand. Roboteraugen glommen schwach, und die Wachen richteten ihre Paralysatoren auf mich. ### 10. Kapitel ### Im Inneren des Wachgebäudes stand die Hitze des Tages, und der müde flappende Ventilator trug nichts zur Kühlung bei. Ein paar Insekten schwirrten ins Licht, viel weniger, als es auf Terra wären, Nachtfalter in samtig schimmerndem Rot, Grün und Bronze. Ich hielt es für keine gute Idee, dem Fritzen, der mich verhören wollte, meinen Namen, Rang und Dienstnummer zu sagen, also sagte ich gar nichts, sondern schielte nur begehrlich auf seinen Computer. Rückblickend war es natürlich völlig offensichtlich, was mir mein Unterbewußtsein hatte sagen wollen. Ich hatte den Vorteil der Überraschung verschenkt und mich von einem falschen Modell von "Unsichtbarkeit" irreführen lassen. Dumm, Solveig. Dumm. "Ih-ren Na-men" sagte der Typ, der das Verhör führte, zum fünften Mal, als sei ich schwachsinnig. Mir schoß eine Idee durch den Kopf. "Teena Jefferson", sagte ich. Er gab den Namen ein, stutzte, guckte, runzelte die Stirn. Konnte ich ihm Neugierde unterschieben, ob, und wenn ja, wie ich mit Ramsey verwandt war? Nein, zu kompliziert, das war Andrés Kaliber, nicht meines. Die Emotionen, die ich projizieren kann, die ich andere Leute von mir lesen lassen kann, als hätten sie plötzlich ESP entwickelt, sind elementarer Natur, nichts so Raffiniertes wie Neugierde auf Familienverhältnisse. 'Meins', dachte ich, 'meines', ließ den Ärger an die Oberfläche spülen, 'ihr habt etwas, das mir gehört'. Der Kerl am Computer sah auf, sah in mein Gesicht, überlegte und gestikulierte dann einer Wache. "Holen Sie mir den Gefangenen 96-B5C84 her." Danke. Das war die Info, die ich haben wollte. Hätten wir das auch einfacher kriegen können? Stille. Der Ventilator flappte. Einer der Wachen scharrte mit den Füßen. Ich sah mich gelangweilt um, registrierte Eingänge, Ausgänge (zwei), Fenster (auch zwei), Waffen (schwere Paralysatoren, nicht in Reichweite für mich), Leute (ein Computerfritze, ein Gehilfe, drei Wachen) und sonstige Features (zwei von diesen verdammten ich-hätte-damit-rechnen-müssen Robotern). Ich kalkulierte meine Chancen, einfach aufzuspringen und davonzurennen: Nicht gut. Paralysatoren dieser Größenordnung sind zur Aufruhrkontrolle gedacht. Ein Treffer würde mich für zwölf Stunden, viellicht für zwanzig, außer Gefecht setzen. Zu lange. Und niemand hat Hemmungen, einen Paralysator abzufeuern. Schritte näherten sich. Eine Wache führte einen Gefangenen herein. Ich hätte Jefferson nicht erkannt, vermutlich selbst dann nicht, wenn das Sensorium nicht sein halbes Gesicht verdeckt hätte. Seine Haare unter der Mütze waren schütter und zu einem fahlen Blond gebleicht. Er hatte fünf oder zehn Kilo verloren, die er sich nicht hatte leisten können, und seine Haut war fleckig von wiederholten Sonnenbränden. Seine Ausstrahlung war merkwürdig ausgewaschen, als sei er im Begriff, sich aufzulösen. Ich konnte nicht klar genug auf ihn fokussieren, um ihm irgendeine Art von Signal zu senden. Er schien mich nicht wahrzunehmen. Der Gehilfe des Computermenschen hielt ein Teil in der Hand, das wie eine Fernsteuerung aussah und drückte ein paar Knöpfe. Jefferson hob langsam den Kopf, wie ein Boxer dicht vor dem technischen K.O., dann blieb das, was er als seinen Blick verwendete, an mir hängen. "Kennen Sie diese Frau?" fragte Computermensch. Lange Sekunden vergingen, bis Jefferson antwortete. "Nein, Sir." Die scharfen Töne seines Heimatdialekts schienen duch das verschlurte Lomatianisch. Ich unterdrückte meinen Zorn und dachte mit aller Kraft, 'aber ich kenne dich, und ich werde dich hier herausholen.' Er reagierte nicht, nur eine der Wachen sah mich merkwürdig an. Computermensch machte eine Geste, und die Wache führte Jefferson wieder ab. Dann wandte er sich mir zu. "Haben Sie noch etwas zu sagen?" Das klang beunruhigend terminal. Nicht mal erhöhtes Risiko in meinem Beruf, erinnerte ich mich ironisch, und blieb still. Computermensch schwang seinen Drehstuhl herum und versuchte, mich bedrohlich anzusehen. "Jetzt hören Sie mir mal zu, Miß", sagte er. "Sie haben ein ganz großes Problem. Und wenn Sie hier auf stur schalten, machen Sie es sich nur schwerer." Standardgerede. Ich sagte nichts. "Hnh", sagte er angewidert, und dann, zu seinen Leuten, "Schafft sie in die Zelle." Eine der Wachen näherte sich mir mit Handschellen. Das wurde ja immer besser. Davonrennen war immer noch keine Option. Resigniert ließ ich zu, daß sie mir die Handschellen anlegten und mich durch die Hintertür über einen kleinen Hof, wo Mülltonnen und Treibstofftanks standen, zu einem Nebengebäude führten und in eine Zelle stopften. Die Luft war muffig. Keine Fenster. Kein Licht. So gut ich konnte, tastete ich die Zelle ab. Wände, Boden und Decke schienen gleichermaßen aus rauhem, unverputzten Baubeton zu bestehen. Die metallene Tür wurde elektronisch gesteuert. Zwei auf drei Schritte, Deckenhöhe zwei Meter zwanzig, Einrichtung: eine Pritsche. Die Lüftungsschlitze waren kaum groß genug, um eine magere Ratte hindurchzulassen -- kein Wunder, daß es muffelte. Frustriert setzte ich mich. He, Leute, wo bleibt ihr, euer Hauptmann steckt in der Tinte. Mangels besserer Alternativen schlief ich ein. Ich erwachte, als die Tür aufflog. Gegen das blendende Licht der Nacht sah ich zwei Wachen und einen kleinen Mann mit einem Gesichtsausdruck, als habe er ein Magengeschwür, der eine schwarze Tasche trug. Ein Licht in der Decke flackerte an, und für einen Moment schloß ich geblendet die Augen. Als ich sie wieder öffnete, waren der kleine Mann und eine Wache in der Zelle, die Tür wieder zu. Mit drei Leuten war es hier so voll wie im Mannschaftsquartier eines Kurierfliegers. Der Kleine öffnete seine Tasche, die ich mit einer leichten Sorge betrachtet hatte. Bei genauerer Betrachtung schien es eine Arzttasche zu sein, was mich nicht wesentlich beruhigte. Er zog einen Klapphocker daraus hervor und etwas, das wie ein Kugelschreiber aussah, setzte sich mir gegenüber, und schob sein Sensorium nach oben wie ein Mädchen ihre Sonnenbrille. Ich war schon zu lange hier, für einen Moment war ich baff. Seine Augen waren hellbraun mit goldenen Flecken darin. "Wir wurden einander nicht vorgestellt", sagte ich. "Ich bin Teena Jefferson. Mit wem habe ich das Vergnügen?" Er antwortete nicht. Kein gutes Zeichen. Das kugelschreiberartige Objekt erwies sich als Taschenlampe, mit der er mir in die Augen leuchtete. Er nickte, murmelte in einen Audiokristall, guckte sich meinen Visoranschluß an, murmelte wieder, prokelte daran herum, murmelte mehr, und fragte mich dann, "Wie alt sind Sie?" Was für eine blöde Frage, dachte ich, und sagte, "Das geht Sie nichts an." Er nickt wieder, spricht in sein Diktiergerät: Medizinerlatein. Kramt in seiner Tasche und zieht einen Injector heraus, wieso überrascht mich das jetzt nicht, und beordert den Gorilla, mich festzuhalten. Setzt den Inject durch meine Jacke hindurch in den Muskel nackenwärts vom Schulterblatt, keine Stelle, wo man alleine drankommet, und ich erwarte jetzt eigentlich, daß der Gorilla seine Pfoten wieder zu sich nimmt, aber der Doc zieht ein weiteres Teil aus seiner Tasche, und mich überfällt ein Deja-vu, zehn Tage zurück, Terrania, und der Arzt hält ein Inject Pad und drückt es mir auf die Augen, und ich sehe das Inject Pad in der Hand des Docs auf mich zukommen, und ich denke, ich könnte den Doc mit dem Gorilla K.O. schlagen und -- und was, ich kann, *kann* es mir nicht leisten, mich paralysieren zu lassen... "Wir sind mutig, weil wir uns zu sehr fürchten, etwas Anderes zu sein", hat Anne Sloane, nach zweieinhalb Jahrhunderten immer noch singulär unbeeindruckt von terranischem Heldentum, mal gesagt. Aber das stimmt nicht, dachte ich jetzt. Wir sind mutig, weil es uns nicht für fünf dreckige Soli helfen würde, etwas Anderes zu sein. Und manchmal, so wie jetzt, macht es einfach keinen gottverdammten Unterschied. Also bringe ich niemanden um und schreie nicht und bettle nicht, sondern beiße mir auf die Zunge und bin still, als der Doc das Pad auf meine Augen drückt und es dunkel wird. Und ich werde nicht hysterisch, sondern ringe meine Instinkte auf die Matte und versuche, in ein nirgendwo abzudriften, denn bis die Kavallerie kommt, bin ich jetzt echt am Arsch. Und dann etwas Kaltes an einem Ohr und dann an dem anderen und ein farb- und lichtloser Blitz und ein stumpfes Gefühl in meinem Kopf, und oh Gott, ich habe es vermasselt, wie damals auf Arkon, zu lange mitgespielt, wie damals auf Arkon, auf Zeit gespielt ohne zu wissen, was die Zeit bringen wird, und statt meines Bewußtseins halte ich jetzt meinen Körper mit aller Macht still, halte die Zeit an, keine Bewegung, kein Gedanke an Bewegung, denn wenn ich eine einzige Änderung zulasse, beginnt Zeit zu vergehen und Dinge zu geschehen und das erste, was geschehen wird, ist, daß ich den Verstand verliere: Wie damals auf Arkon. Das Gefühl eines Sensoriums auf meinem Kopf, aber es bleibt dunkel, es bleibt still, ein kurzes statisches Flackern, ihr Idioten, ihr verdammten Idioten, das ist ein nagelneuer state-of-the-art high-tech Visoranschluß, das beste, was man auf Terra kriegen kann, und er ist nicht verdammt noch mal kompatibel mit eurer verrotteten rattigen Schrottechnologie, hallo! Ich werde nie wissen, ob ich in dem Moment geschrieen habe, und Panik umgibt mich wie Flammen, weißes Licht verschlingt die Welt und der Lärm ist so umfassend, daß er von Stille nicht zu unterscheiden ist, und dann bin ich allein. Empathischer Feedbackloop. Ich hoffe, der Doktor hat Alpträume bis an sein Lebensende. Ein Alptraum. Ich hatte einen Alptraum, daß so etwas passieren würde. Meine Hände fuhren zu meinem Kopf, und der wenigstens war noch dran. Die Handschellen waren fort. Die ganze Sache, dachte ich, als sich meine Gedanken endlich wieder in etwas Anderem als Hamsterrädern bewegten, entbehrte nicht einer gewissen unmenschlichen Logik. Wenn es ein Verbrechen war, zu sehen und zu hören, was lag näher als Wiederholungstätern die Möglichkeit dazu zu nehmen? Ich hoffte, der Doktor würde schreiend im Irrenhaus sterben. Wenn ich ihn zu fassen kriegte, würde ich dafür sorgen. Ich tastete wieder um mich. Die Lüftung funktionierte noch, ich hörte sie nur nicht mehr, aber ich fühlte sie. Stehen war schwierig. Schließlich fand ich die Tür und begann, dagegenzuschlagen. Der Rhythmus überkam mich, und ich vergaß, mit dem Dagegenschlagen aufzuhören. Bis ich plötzlich ins Leere schlug und frische Nachtluft durch die Tür kam. Die offene Tür. Jemand hatte die elektrische Verriegelung gelöst. *** Ich bin keine Volltelepathin. Ich bin Abwehragentin. Aber ich bin immer noch Mitglied des Solaren Mutantenkorps, und da kommt man nicht rein, nur weil man gut Bösewichte verdreschen kann. Ich spürte: Das gesamte Lager in hellem Aufruhr. Konfusion das beherrschende Element. Leute, die hin- und herrannten, blind, planlos, orientierungslos -- panisch? Definitiv panisch. Ich stellte mir die Schreie vor, als ich durch die offene Tür trat. "Draußen" lag irgendwo links von mir, und dort war die Panik weniger dicht, also fuhr mit der linken Hand an der Wand des Nebengebäudes entlang, Orientierung und Stütze. Zehn Schritte, dann war ich an der Ecke des Gebäudes, ich ließ die Wand los und ging schräg nach rechts, hoffte, das Wachgebäude (auch da: Verwirrung, Planlosigkeit) zu treffen und dann den Weg nach draußen zu finden. Drei Schritte, mitten im sternenlosen Leerraum zwischen den Gebäuden, und die Luft zittert, ich werfe mich auf den Boden, rolle mich zusammen. Hitze fegt über mich hinweg, weißes Feuer, und es regnet... Teile. Trümmer. Der Geruch von Explosion, heißem Metall und verbranntem Fleisch und, oh Gott, Haaren, brennen meine Haare, ich weiß es nicht, mein Körpergefühl ist eins mit der Umgebung, rot und weiß und brennend und schreiend, und ich schlage auf meinen Kopf und wenn da Flammen sind, fühle ich sie nicht, und dann ein dumpfer Aufschlag: Bin ich gefallen? Nein, ich liege immer noch auf dem Boden, etwas, jemand ist in mich hineingelaufen, ist gefallen, über mich, ich rolle mich zur Seite, aus dem (hoffentlich) Weg, mir ist schwindelig und ich weiß nicht mehr, in welcher Richtung "draußen" ist. Ich taste umher, Beton, vertikal, taste hoch, eine Mauer, etwa kniehoch? ich erinnere mich an keine Mauer hier. Wenn dieser Aufruhr eine Rettungsaktion ist, muß ich sie dazu bringen, mich zu finden, wage nicht zu schreien, weiß nicht, ob es Sinn hat zu schreien. Eliza, denke ich, versuche, mir ihre Signatur ins Gedächtnis zu rufen, lasse ihre Aura in meiner Vorstellung entstehen. Hallo Eliza. Erinnerst du dich? Dein rettender Engel. Ich bin hier. Ich könnte selber etwas Gerettetwerden gebrauchen. Die Luft wurde heißer. Es roch nach brennendem Plastik. Das Feuer war nah, kam näher, aber von wo? Wohin liefen die anderen? Aber die flackernden, panischen Signaturen rannten in alle Richtungen, wie die kopflosen Hühner. Kopflos. Augenlos. Ohrenlos. Sie wußten so wenig wie ich, wo Gefahr war und wo Sicherheit. Oh Gott. Eine Signatur in der Nähe explodierte in das mentale Äquivalent eines Schreis, der mein Gehirn durchschnitt, für einen Moment glaubte ich, in Flammen zu stehen, riß mich zurück und verstand, daß jemand, keine drei Meter von mir entfernt, kopflos in die Flammen, die aus dem Wachgebäude (?) schlugen, gerannt war. Oh Gott. Da waren Treibstofftanks gewesen. Ich rappelte mich auf und versuchte, so gut wie möglich in die Gegenrichtung davonzulaufen. Ich fiel und kroch mehr, als das ich ging, es war wie in einem schlecht gepolten Gravfeld, und einmal stolperte ich halb in ein niedriges Feuer, ein brennender Grasfleck, und alles um mich herum war Feuer, meine Ortungsfähigkeiten überladen: Ich warf meine Wahrnehmung so weit nach außen wie ich konnte, suchte die blaue, schweigende, kalte Wüstennacht. Da wollte ich hin. Ein Hindernis, ein Netz hielt mich fest, verwirrt und mit tauben Gedanken erforschte ich es mit den Händen und erkannte den Stacheldrahtzaun, der meine Kleidung gepackt hatte. Ich riß mich los, das Tor mußte jetzt rechts von mir sein. Mit jedem Schritt tippte ich mit der linken Hand gegen den Zaun, ignorierte ihn, wenn er versuchte, mich zu halten. Bis ich etwas Großes auf mich zurollen spürte, wie ein angekündigter Asteroideneinschlag, ich schmiß mich in den kalten Sand und rollte mich seitwärts unter den Zaun und buddelte und grub und zerrte und schaffte es, mich zu befreien und kullerte in einen Graben und der Treibstofftank flog in die Luft. Zeit verging. Kaltes, blaues Schweigen kroch aus dem Boden und vom Himmel auf mich zu, aber ich brannte immer noch. Dann spürte ich eine Berührung und wollte wegzucken (wie lange war die Explosion her? Würden noch Trümmer aus dem Hinterhalt vom Himmel fallen?) aber das Etwas war eine Hand, und die Signatur dahinter war Eliza. Ich krallte meine Finger in den Sand, zog mich am Sand hoch in dem Versuch, mich aufzusetzen, und sagte etwas im Sinne von, "Ich kann dich nicht sehen oder hören". Tief summende Sorge modulierte in kreischenden ultravioletten Zorn, eine Blauverschiebung nach Verzweiflung. Ihre Hand um mein Handgelenk, es fühlt sich an als würden Haut und Knochen abblättern und davonwehen. Ich mußte herausfinden, welche von den roten, gelben und qualmgrauen Flecken in meiner psionischen Wahrnehmung externalisiertes Körpergefühl waren. Später. Schritte, die schattenhaften Präsenzen der Sh'wwz. "Ramsey Jefferson hat die Nummer 96- B5C84" sagte ich. "Der Identifikationschip sitzt..." ich versuchte, es zu zeigen, und die Dunkelheit und Stille am Grunde meiner Wahrnehmung mutierten in eine weniger alptraumhafte Qualität. *** Ich mußte das Bewußtsein verloren haben. Der Grund unter mir war anders, und vor allem tat mir alles weh. Ich wollte gar nicht wissen, was alles, ich erinnerte mich nur zu gut an das letzte Mal. Anstatt von kaiserlich arkonidischen Wachen spürte ich Sh'wwz um mich herum, und da waren auch Eliza und Nemo, und jemand anders, dessen Signale wie ein verschlammter Graben waren. Wir waren allein in der Wüste. Die Luft roch nach Morgen. Leute schienen zu bemerken, daß ich wach war. "Meinen Visor", sagte ich. Jemand drückte mir etwas in die Hand, ich konnte nicht richtig danach greifen, gemischte Gefühle, und Eliza schob mir den Visor auf die Nase. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Szene Form annahm. Um mich herum war ein Ring von Sh'wwz, die mich so besorgt ansahen wie ein Kind sein krankes Meerschweinchen. Um uns hoben sich die Wände eines engen Canyons in den heller werdenden Himmel. Unter einem Überhang lag, in Decken gewickelt, eine Gestalt in Gefängnisklamotten. Jefferson. Ich kriegte Lebenssignale von ihm, aber sonst nicht viel. Eliza saß so dicht neben mir, daß ich die Wärme spürte. Nemo war am Wagen und wühlte in einem der ziemlich zerfleddert aussehenden Piknickkörbe. Ich winkte schwach, um zu zeigen, daß ich noch lebte, und stellte fest, daß meine Hände in Verbände gewickelt waren. Bei der linken, immerhin, hatte ich den Eindruck, alle Finger bewegen zu können. Ansonsten... ich schielte an mir hinunter und ahnte schon, daß mir nicht gefallen würde, was ich sah. Ah. Anscheinend hatte ein Rudel Leoparden mich rückwärts durch eine Hecke brennender Dornbüsche geschleift. Nun, wenigstens war alles noch dran. Nemo stand vor mir, gab mir einen Softdrink mit einem Strohhalm und hob mit fragendem Gesichtsausdruck eine Sprühdose mit Oberflächenanästhetikum hoch. Ich schüttelte den Kopf und spürte das Zerren, wo sie anscheinend den Identifikationschip extrahiert hatten. Das letzte, was ich jetzt brauchte, war, auch noch meinen Tastsinn stillzulegen. Statt dessen putzte ich den Softdrink weg. Wasser, Zucker, Koffein. Die Welt stabilisierte sich ein bißchen um mich. "Was ist passiert?" fragte ich. Nemo begann die Lippen zu bewegen. Wieder schüttelte ich den Kopf. "Ich höre immer noch nichts." Eliza griff sich einen trockenen Zweig und schrieb in den Sand, "Knalltrauma?" "Nein", sagte ich, dieses Mal klugerweise ohne den Kopf zu schütteln. "Die werten Herren haben sichergestellt, daß ich auf ihrem Planeten keine unbezahlten Rechnungen fürs Hören mehr auflaufen lassen kann. Mangels Hören." Eliza sagte etwas. Von den Lippenbewegungen her sah es aus wie "Space Marines". Meine Gedanken gingen inzwischen mehr in die Richtung, die ganze Baggage beim Energiekommando als terranische Geheimnisträger zu denunzieren. Leider waren wir im Moment mit den Akonen verbündet. Eliza schrieb in den Sand: "Sh'wwz Sendetürme gesprengt. Wachen, Roboter, alle blind. Computer, alles gelöscht. Zuviel Sprengstoff. Feuer. Wir alle OK. Jeffsn katatonisch." "Verfolgen sie uns?" fragte ich. Eliza tippte nachdrücklich auf das Wort "gelöscht" und schrieb dazu, "Sie wissen nichts." Nach einer Weile fügte sie hinzu: "Was nun?" Gute Frage. Ich hatte nicht so weit vorausgeplant. "Keine Luftlandeoperationen", hatte Mercant gesagt und "keine interplanetaren Zwischenfälle". Oder so. Leider fiel mir auf Anhieb keine Methode ein, wie wir uns mit drei Invaliden, einem Bluessänger und einem Rudel Sh'wwz zum Raumhafen durchschlagen konnten. "Ich denke drüber nach", sagte ich. *** Der Tag verging ereignis- und einfallslos. Am Nachmittag blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als einzugestehen, daß ich mit meinem Latein am Ende war. "Hast du den Knopf noch?" fragte ich Nemo. Er nickte. "Her damit. Wie spät ist es, und was ist unsere genaue Position?" Er kritzelte die Daten vor mir in den Sand und wollte mir den Knopf geben. "Nein", sagte ich -- ich konnte ihn ja nicht halten -- "halte ihn dahin. Danke. Hast du eine Nadel, einen Kugelschreiber, irgendwas?" Er kramte seine Taschen durch und nickte. "Gut. Drück ihn *da* in die Vertiefung. OK." Der Knopfdruck aktivierte die Aufzeichnugsfunktion. Ich sagte, "Hier spricht Solveig Jamieson, Colonel, Solare Abwehr, Dienstnummer... Ort Lomatia, Koordinaten... Terranische Standardzeit ... Benötigen medizinische Evakuierung, drei Personen, Code ... Wir sind erreichbar auf Frequenz... Vermeiden Sie bitte einen interplanetaren Zwischenfall. Jamieson Ende und Aus." Ich sah Nemo an, der eine skeptische Augenbraue hob und etwas wie "Kolonialaufsicht" murmelte. "Das auch, das auch", sagte ich erschöpft. "Könnt ihr bitte diesen Knopf dem Konsul bringen?" "Kein Problem", sagte Nemo. "Doch", sagte ich. "Zwei. Erstens: Willst du mitkommen? Weg von hier. Terra. Reyan. Neuer Name, neue Musik, neues Leben. Und zweitens, die Sh'wwz. Melden wir Terra einen Erstkontakt? Oder hat all das nie stattgefunden? Was halten sie davon?" Nemo sammelte Hrrzst auf, brachte ihn zu mir und redete eine Weile mit ihm. Dann schrieb er, "Was tut Terra, wenn es von den Sh'wwz weiß?" "Sie können einen Antrag auf Aufnahme als Volksgruppe ins Imperium stellen", sagte ich, "dann verlangt Terra von Lomatia, die Sh'wwz an der planetaren Regierung zu beteiligen oder sie eine eigene, der siedler- lomatischen gleichgestellte Regierung formen zu lassen, die dann einen Vertreter in den imperialen Senat entsendet. Oder sie stellen sich, ebenfalls als Volksgruppe, unter den Schutz des Imperiums. Dann schützt Terra sie vor Übergriffen ihrer Nachbarn, läßt sie aber sonst in Ruhe und verlangt von ihnen nichts, als keine Waffen gegen Terra, das Imperium und seine Verbündeten zu erheben und mit einem ihnen genehmen terranischen Gesandten zu reden. Oder sie können Erstbesiedlungsanspruch auf den Planeten erheben. Dann wird die Sache häßlich. Strikt gesehen müßten die menschlichen Siedler dann gehen, aber für gewöhnlich einigt man sich irgendwie. Wahrscheinlich würde der Planet den Sh'wwz zugesprochen, aber Lomatia Prima dürfte als Enklave bestehen bleiben. Das sind die Möglichkeiten, die mir erst mal einfallen. Alle weiteren Details kann euch der Konsul erzählen, der ist da besser drin, und es ist sein Job." Es war auch meiner, nur... nicht gerade heute. Nemo nickte nachdenklich, debattierte noch eine Weile mit Hrrzst, und schrieb dann, "Wir denken darüber nach." "Gut", sagte ich. Besser sie dachten als ich dachte. Ich wollte nicht mehr denken. *** Ehe es nicht Nacht war, konnte man nicht reisen. Es wurde entschieden, daß die meisten der Sh'wwz in die Stadt zurückkehren würden und nur zwei bei uns bleiben: Stsch, der Kundschafter, und ein Hilfstechniker, der sich um das Funkgerät kümmern würde. Zwei Kanister Wasser, eine großzügige Menge Obst und sonstige Verpflegung und der Rest des Bourbon, die Decken sowie das Erste-Hilfe-Pack aus dem Wagen blieben bei uns. Dann bestand der Kameramann darauf, uns eine Preview seines Dokudramas, "Heldentaten der Räuberbande von N'mho und S'lvhig" zu geben. Mir wurde ganz anders, als ich das Video sah, aber es war unbestritten, daß die Sh'wwz überlegt, entschlossen und effizient gehandelt hatten. "Nemo", sagte ich, "kannst du unseren Kameramann um das Originalband anschnorren? Er kann so viele Kopien ziehen wie er möchte, aber es kann sein, daß ich meinem Chef was erklären muß..." Der Kameramann war geehrt und bestand darauf, auf der Stelle die Kopien zu ziehen und mir das Original zu geben, was uns weitere zwei Stunden aufhielt, da die notwendige Technik zusammenimprovisiert werden mußte. Dann waren sie weg, und die Nacht wurde dunkler. Jefferson trank, wenn man ihm einen Strohhalm in den Mund schob. Als ich meine Hand in seine legte, umklammerte er sie wie ein Ertrinkender einen Rettungsring und bewegte die Lippen. Ich konnte kein Worte erkennen und sah hilfesuchend zu Eliza. Die schüttelte den Kopf. Die Nacht wurde kälter und ich bekam Schüttelfrost und Fieber. Eliza stapelte alle unsere Decken auf mich drauf und legte sich neben mich, was gut war, denn das Fieber machte Hackfleisch aus den Visordaten und Berührung war das einzige, was real war in einer Welt aus Finsternis, Stille und Fieberträumen. Am Morgen war mein Kopf wieder klarer. Mein Lippenlesen wurde besser. Jefferson gab Töne von sich. Eliza malte ihm Buchstaben auf die Handinnnenfläche. Die Sh'wwz spielten am Funkgerät herum. In der Mittagshitze saßen wir im Schatten. Plötzlich sagte Eliza, "Mein PsiQuotient. Ich bin getestet. Er ist Null." Ich nickte. Eliza starrte versonnen in den weißen Fleck Himmel über dem Canyon. "Die Lomatier sind *so* am Arsch." Ich war nicht überzeugt, aber schön wär's, dachte ich. Am Abend knarzte das Funkgerät. Mercant schickte eine Space-Jet, um uns zu evakuieren. Nemo kam gegen Mitternacht auf einem Elektroroller und brachte noch warmen Kuchen, Tee, Zigaretten, Medikamente und mehr Trinkwasser. "Die Sh'wzz wollen sich unter den Schutz des Imperiums stellen", sagte er, "mehr nicht. Und ich werde hierbleiben." Ich nickte. Ich war in keiner Verfassung zu debattiern. Meine Augäpfel juckten so, daß ich auf meinen Händen sitzen mußte, um sie nicht mit den Fingern herauszukratzen, und das Fieber kam wieder. Schließlich gab ich klein bei, verwendete das Anästhetikum und glitt aus der Welt. *** Nemo blieb zwei Tage bei uns. Danach war ich aus dem Gröbsten raus und kaum noch fiebrig. Wenige Stunden, nachdem er sich verabschiedet hatte, kam die versprochene Space-Jet und landete im Schutz eines Deflektorschirms im Nachbarcanyon. Jefferson war inzwischen imstande, auf eigenen Beinen zu gehen, aber das medizinische Personal, ein Arzt, eine Krankenschwester und ein Feldsani, ließen ihn nicht. In der Space-Jet schilderte ich dem Arzt und dem Piloten die Lage. Der Pilot war Spanier und kannte eine Menge interessanter Schimpfwörter. Der Arzt fragte, wieso ich keinen *akuten* medizinischen Notfall angegeben hatte. Ich machte eine unbestimmte Geste. *** Es gab nichts, was ich mehr wollte, als diesen Planeten zu verlassen. Aber ich hatte noch ein Cover hinter mir aufzuräumen, das wahrscheinlich inzwischen eine vierstellige Rechnung fürs Fernsehgucken angesammelt hatte -- nicht, daß diese Summe im Vergleich mit den Kosten einer medizinischen Evakuierung noch eine Rolle spielte. Ich überzeugte also meine Retter, mir einen Antigravgürtel, einen Tarnschirm und einen Paralysator zu geben und mich am Raumhafen abzuholen, und schwebte am nächsten Tag zurück in die Stadt. Mrs. Erens Sensorium guckte noch immer Seifenopern. Ich reassemblierte das Gerät. Der Arzt hatte mir ein provisorisches Hörgerät gegeben, so daß ich zumindest wieder hören konnte, was die Leute sagten. Ich packte Mrs. Erens Koffer, schickte ihn zum Raumhafen vor, checkte aus, zahlte die astronomische Rechnung und machte mich auf die Suche nach Nemos Dachgarten. Er saß da und spielte Gitarre. Für mein provisorisches Gehör klangen die Töne flach und theoretisch. Er sah auf und sah mich. "Solveig! Ich dachte, du wärest schon halb auf Terra!" "Ich habe mich noch nicht verabschiedet", sagte ich. "Und mich noch nicht bedankt. Ohne dich -- ohne euch alle -- wäre ich vollkommen aufgeschmissen gewesen. Wenn ihr irgend etwas braucht, oder wenn ihr mit mir reden wollt, das Konsulat weiß, wie man mich erreicht." Nemo grinste. "Wenn wir mal wieder einen Abenteuerfilm drehen wollen..." Er musterte meine Ausstattung skeptisch. "Meinst du, sie lassen dich am Raumhafen durch?" "Wenn nicht, schieße ich mir den Weg frei." Nemo lachte nicht. Es war auch nicht als Witz gemeint gewesen. "Wie geht es dir?" fragte er. "Adäquat." Ich gestikulierte halb zu meinen Augen und Ohren. "Auf Krücken. Die terranische Medizin wird's schon richten." "Schon deswegen", fügte ich nach kurzem Überlegen hinzu, "weil mein Chef sich mit nichts Geringerem zufriedengeben wird, als mich live und in Farbe für diese Expedition zur Schnecke zu machen." Diesmal lachte er. Dann verabschiedete ich mich. *** Mrs. Eren war in den zweieinhalb Wochen, die sie auf Lomatia verbracht hatte, eine beispielhaft gesetzestreue Reisende gewesen -- nicht zu vergessen eine für die planetare Wirtschaft hochprofitable Reisende, und wurde vom lomatischen Ausreisebeamten mit einem "ich hoffe, Ihr Aufenthalt bei uns hat ihnen gefallen -- beehren Sie uns bald wieder" verabschiedet. Meine Maske lächelte und bedankte sich ohne mein Zutun. Die Space Jet wartete schon. Jefferson war inzwischen mit einem Visor und Hörgerät ausgestattet, aber der Arzt vertraute mir an, daß er auf Terra wegen Depressionen und paranoiden Wahnvorstellung in Therapie gehen müßte. Eliza hatte Sehstörungen und ihr Gleichgewichtssinn blieb angeschlagen, außerdem hatte sich die Stelle, wo ich den Identichip mit, wie der Arzt mißbilligend sagte, "einem rostigen Messer entfernt hatte" entzündet, was sie die ganzen Tage ignoriert hatte, und deswegen jetzt den Arm kaum mehr heben konnte. Mir riet der Arzt dringend davon ab, mir die juckenden Augen auszukratzen und erklärte, ich sei offenbar gegen das Mittel, das man mir gegeben hätte, allergisch, aber auf Terra sei es kein Problem, ein Gegenmittel zu synthetisieren, und mein Hörvermögen ließe sich mittels einer einfachen Operation wiederherstellen. Mir wurde vor Erleichterung schwindlig. Ich hatte mir die ganze Zeit verboten, darüber nachzudenken, ob die Schäden reversibel waren. Jefferson war fassungslos, als er erfuhr, daß ich seine Chefin bei der Kolonialaufsicht war. "Ich dachte, Sie wären vom Geheimdienst!" sagte er. Eliza hielt den Mund. ################# # TEIL 5: ABSPANN ################# ### 11. Kapitel ### Am 15. Juli landeten wir in Terrania auf einem kleinen Raumhafen, der medizinischen Schiffen, VIP-Yachten und Kurieren vorbehalten war. Am Ausgang der Besucherschleuse wurde Eliza von einer Frau mit kurzen, blond gefärbten Haaren und einem ölverschmierten Blaumann abgeholt. Sie musterte Eliza und schnaubte. "Gut siehst du aus. Und da erzählen sie mir, du seist gerade aus der Intensivstation, und ich verlängere extra meine Mittagspause, um dich nach Hause zu fahren, und du--" Die freundschaftliche Tirade wurde dadurch unterbrochen, daß Eliza über die Bordsteinkante fiel. Die andere Frau fing sie auf, warf mir einen Blick zu, als sei ich an allem schuld und bugsierte Eliza zu einem aufgedonnerten grünmetallic lackierten Sportgleiter mit der Aufschrift "Manni's Fahrzeugtuning". In einer Parodie einer höflichen Vorstellung brachte Eliza noch ein, "Solveig, meine Cousine Irene Henning, Irene, das ist Solveig Jamieson von der Kolonial--" heraus, ehe sie in den Wagen verfrachtet wurde. Irene sagte noch etwas von, "...und Tante Anna rauft sich die *Haare* aus vor Sorge..." dann knallte die Tür zu und der Sportgleiter brauste davon. Ramsey Jefferson wurde von seiner Frau und seiner Tochter empfangen. Beide hatten sich fein zurechtgemacht. Die Frau wirkte Jahre älter als auf dem Foto. Jeffersons Tochter umarmte ihn gerade, als ich zu der Familie hinüberschaute, aber ich sah den Abstand, der zwischen ihm und dem Rest der Welt war, nicht nur die Abwesenheit von Sicht und Gehör und ihre Substitution durch mechanische Krücken, sondern ein Abstand in allen Wahrnehmungen, ein Verlust an Glauben an die Wirklichkeit der Welt. Die Jeffersons bestanden darauf, mir die Hand zu schütteln -- in meinem Fall die Linke -- und sich zu bedanken. Auch das Kind wurde vorgeschoben und gab mir einen scheuen, kalten Händedruck. Ich wollte ihnen meinen Comcode geben, aber ich hatte nichts zu Schreiben dabei, also sagte ich ihnen nur, wenn es irgend etwas gäbe, was ich für sie tun könnte, könnten sie mich im Amt für Kolonialaufsicht erreichen und sollten nicht zögern, das auch zu tun. Ich glaubte nicht, daß sie anrufen würden, und ich behielt recht. Nachdem alle untergebracht und der Papierkram erledigt war, ließ ich mich von einem Taxi nach Imperium Alpha bringen. Terrania schien mir durch die Scheiben wie eine TriVid-Serie mit gleichgültigen Komparsen in billigen Kulissen. Ich beneidete Eliza, die vermutlich den ganzen Heimweg lang von ihrer Cousine die Ohren mit Tratsch und Familiengeschichten vollgeschwallt bekam. Ihre Welt zumindest griff mit beiden Händen nach ihr. Ich spielte an den Reglern meines Visors und Hörgerätes herum und ließ mich in Stille und Finsternis sinken, bis das Taxi vor dem Eingang Imperium Alphas zum Stehen kam. Den VIP-Transmitter konnte ich nicht benutzen, weil der einen Retinascan macht, einen Ausweis hatte ich nicht dabei, und Mrs. Erens Gesicht kannte keiner. Nach einer halben Stunde war ich immer noch in der Eingangshalle, und der freundliche Mann vom Wachdienst drohte, seine Kollegen zu rufen und mich vor die Tür zu setzen. Ich durchwühlte meine Taschen nach einem Soli für das öffentliche Com-Terminal und fand keinen. Frustriert, angewidert von der Welt und zu müde, um noch mit irgendwelchen pflichtbewußten Beamten zu debattieren, hockte ich mich da, wo ich stand, auf den Fußboden und schickte ein telepathisches "Holt mich hier raus!" auf allen Kanälen. Mal sehen, wer zuerst da sein würde. Der freundliche Wachmann und sein muskulöser Kollege waren keine zwei Meter mehr von mir entfernt, als Ras Tschubai vor mir erschien, zu den Wachleuten sagte "Verzeihung", mich am Handgelenk packte und mit mir in den Ankunftsbereich der VIP-Sektion teleportierte. Dann erst sah er mich an, guckte verwirrt und sagte, "Sollte ich Sie kennen?" "Ich bin Solveig", sagte ich, "unsere Retinascanner sind Scheiße, die Emfangstusse oben gehört auf eine Dunkelseitenstation strafversetzt, niemand leiht mir einen Soli fürs Com-System, und mein letzter Auftrag war grottig. Ich will, daß mir jemand einen Karamelpudding gibt und mir beim Jammern zuhört." Ras nickte über meine Schulter hinweg John zu, der während meines Lamentos hereintransmittiert war. "Es ist Solveig, und es geht ihr gut." *** Betty und Gucky waren auf Einsatz, aber Ras und André erklärten sich bereit, mir beim Jammern zuzuhören, und André stellte sich in die Küche und produzierte ein Menü, in dem der Karamelpudding, ehrfurchtgebietend, wie er war, nur als angemessener Abschluß der acht vorigen Gänge diente. Danach tranken wir Wein, und ich erzählte von meinen Abenteuern. Zu schade, daß ich das Band mit der Dokumentation bereits an Mercant geschickt hatte. "Mon Dieu", sagte André, als ich mit der Geschichte fertig war. "Kann es sein, verrückte Kolonien werden langsam zu Gewohnheit? Du wirst nicht glauben, was mir passiert ist, als ich unseren neuen Botschafter auf Tevina XIII vor Fettnäpfchen bewahren sollte..." und er begann eine lange, verworrene Geschichte, wie er in jedes Fettnäpfchen getreten war, vor dem er den Botschafter bewahrt hatte, und zum Schluß doch das Mädchen gekriegt. Ich rollte auf dem Boden vor Lachen. Ras entplöppte gegen zehn, weil seine Freundin auf ihn wartete. Ich packte mich auf Andrés Couch, weil ich keine Lust hatte, heimzugehen. Beim Frühstück fachsimpelten wir ein bißchen. Ich beschrieb, wie ich die Wachen dazu gebracht hatte, mir Jefferson zu zeigen. "Hast du so etwas auch gemacht, bevor du offiziell zum Mutanten erklärt wurdest?" fragte ich. Er schüttelte den Kopf. "Bei mir war es immer, 'schau mir in die Augen, Kleines'. Du gehst direkt auf die Eingeweide. Wie gut, daß du so ein ausgeglichener und friedlicher Mensch bist, anderenfalls würdest du eine Spur der Zerstörung hinter dir herziehen, non?" "Ich bin nicht *friedlich*", protestierte ich. "Ich bin gut *abgeschirmt*". André dippte sein Brötchen in die Marmelade. "Wetten wir?" "André", sagte ich, "du verlierst mehr Wetten als Bully Regenschirme. Außerdem müßte ich mich dazu in die Fänge der PSI-Techniker begeben und ihre Testbatterien über mich ergehen lassen, und soviel kannst du gar nicht setzen, daß es das wert wäre." Ich überlegte etwas. "Außerdem", sagte ich dann, "sind die Techniker unfähig. Ich bin nur nach Occams Axiom Mutantin: Es ist die einfachste Erklärung, warum ich mit dem, was ich tue, davonkomme. Messen konnten die noch nie etwas." André grinste tolerant. "Du übertreibst. Das einzige, was sie nie messen können, ist Präkognition. Und noch keiner ist darauf gekommen, daß sie es nicht messen können, weil in diesen Laboren nie etwas Interessantes passiert." Da könnte was dran sein. *** Anschließend begab ich mich in mein Büro, erfuhr, daß Samantha Mutter von Zwillingen geworden war, unterschrieb die Glückwunschkarte und schmiß fünf Solar in die Sammelkasse (Niela zog, irritiert ob des Verstoßes gegen die Sammelkassenetikette, eine Augenbraue hoch. Ich zuckte die Schultern und murmelte was von "Zwillingen"), diktierte dann die Version der Ereignisse auf Lomatia für die Kolonialaufsicht und leitete alles für die Anerkennung der Sh'wwz als Volksgruppe unter dem Schutz des Imperiums in die Wege. Dann schrieb ich ein Memo, in dem ich davor warnte, Lomatia ohne Kenntnisse der lokalen Gebräuche zu besuchen und schickte es an meine Vorgesetzten ebenso wie ans Außen- und ans Handelsministerium. Eine Kaffeepause später -- Niela war im mütterlichen Modus und bestand darauf, daß ich eine Pause brauchte - - verfaßte ich eine Notiz an Mercant, daß ich wieder da wäre und für ein Debriefing zur Verfügung stände, beauftragte Niela, mir baldestmöglich einen Termin mit der MeMod auszumachen, fand, ich sei fleißig genug gewesen und ging an den Strand. Nachdem mich André heute schon als "friedlich" bezeichnet hatte, wollte ich mir nicht auch noch hohe Arbeitsmoral unterstellen lassen. *** Den Großteil des nächsten Tages verbrachte ich bei der MeMod. Der Neurologe hm-te und ha-te, kratzte sich den Kopf, drohte, ein Forschungpapier zu schreiben, und eröffnete mir, als ich ihm mit körperlicher Gewalt drohte, daß ich anscheinend eine Unverträglichkeit auf den Visoranschluß hätte und der raus müßte. Von da an gaben sich die Spezialisten die Türe in die Hand, und ich kriegte vier Operationstermine: Visor raus, Rekonstruktion von Gesichts- und Hörsinn, und am Ende würde ich mein eigenes Gesicht wiederbekommen. Außerdem bestanden sie darauf, mich dienstunfähig zu schreiben. Als ich ins Büro ging, lag eine Notiz auf dem Tisch, aus der hervorging, daß Mercant mich in Imperium Alpha zu sehen wünschte. Als ich kam, war er in einer Besprechung, und seine Sekretärin stellte mich mit Kaffee ruhig. Eine halbe Stunde später tauchte er auf. Sein normalerweise freundliches Gesicht war düster und er sah aus als wollte er jemanden zur Schnecke machen. "Erstens bin ich krankgeschrieben", sagte ich, "zweitens kann ich meine Hände nicht gebrauchen und folglich keinen Bericht schreiben. Und drittens brauche ich nur diesen Stecker zu ziehen und ich sehe und höre sie nicht mehr. Ich hoffe, Sie wollen nur wissen, wie es mir geht?" Er gestikulierte mich in einen Sessel. "Natürlich. Ich werde fast nichts sagen. Erzählen Sie mir von Lomatia." Ich hätte lieber einen Bericht geschrieben. "Haben sie das Vid-Band nicht gesehen?" fragte ich. "Ein interessantes Stück lomatischer Actionfilmkunst", sagte er. "Dokumentation", korrigierte ich. "Es fehlt noch die abschließende Tonspur, die Stimme des Kommentators. Legen Sie das Band ein, ich gebe Ihnen die Tonspur." Als ich, in der Wüste von Lomatia, umgeben vom vorläufigen Happy-End, das Band das erste Mal gesehen hatte, war meine Reaktion ein erschöpft- erschrockenes 'oh mann' gewesen. Hier, in der Stille und der zivilisiert- dezenten Aufgeräumtheit von Imperium-Alpha, war es eher ein "oh mein Gott". "*Kein* interplanetarer Zwischenfall", bemühte ich mich zu betonen. Mercant lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander, stützte sein Kinn darauf und musterte mich nachdenklich. "Wie schätzen Sie die Situation auf Lomatia ein?" fragte er. Ich verkniff mir, meinen ersten, zweiten oder fünften Gedanken zum Thema auszusprechen, die alle in die Richtung gingen, daß eine Einheit Space Marines auf Lomatia viel Gutes tun könnte. "Ich muß meine Einschätzung revidieren", sagte ich statt dessen und konzentrierte mich streng auf das Wesentliche. "Zwar haben wir tatsächlich einen Erstkontakt mit einer bis dato unbekannten Spezies vorliegen, aber weder stellt diese eine Gefahr dar, noch hat Lomatia unterschlagen, den Erstkontakt zu melden, geschweige denn unrechtmäßigen Gewinn daraus gezogen. Lomatia ist in keiner Weise eine Bedrohung für die Sicherheit des Imperiums." In gewisser Hinsicht war das bedauerlich. "Allerdings erscheint mir der Besuch Lomatias risikobehaftet genug, daß ich den Ministerien empfohlen habe, eine Reisewarnung auszusprechen." Mercant nickte. "Sie und Mr. Adams", sagte er, und erhob sich. Ich trennte mich ebenfalls von meinem Sessel. Es war fast Mitternacht. *** Am nächsten Tag warf mich Niela mit einem "Du bist krank, also geh' und erhol' dich" aus meinem Büro. Es war zu heiß, um an den Strand zu gehen, ich hatte keine Lust auf meine Wohnung, die Freunde von mir, die mich mit einem Zweitgesicht sehen durften, waren alle unterwegs, die Ärzte und Mercant hatten mir nahegelegt, Terrania nicht zu verlassen, Musik hören machte keinen Spaß und bei dem Gedanken, mich vor's TriVid zu hängen, bekam ich Ausschlag. Ich versuchte zu lesen, aber die Visorinterferenzen verschoben die Buchstabenreihen und nach einer halben Stunde gab ich es auf. Ich fühlte mich steif, müde und schlecht gelaunt und entschied mich, meine Frustration an ein paar Trainingsrobotern abzureagieren. Da die waffenlosen Formen beide Hände brauchen und meine Rechte noch im Verband war, entschied ich mich fürs Fechten. Ich ging durch die Aufwärm- und Lockerungsübungen, holte dann einen der Roboter aus dem Regal und wählte ein paar Sequenzen zur Koordination der linken Hand. Ich bin weitgehend beidhändig, was kein natürliches Talent ist, sondern das Resultat von sturem Training wie diesem. Jemand kam in den Raum, ich hielt meine Konzentration aufrecht und ignorierte ihn, bis ich die Sequenz abgeschlossen hatte. Dann erst sah ich auf. Der graue Trainingsanzug, das Stirnband und die gedämpfte Signatur irritierten mich für einen Moment. Dann begriff ich, wer das war, und salutierte, den Degen in der Hand. "Mr. Rhodan, Sir." Obwohl ich keines der Objekte bin, die regelmäßig auf des Großadministrators Radar auftauchen (wenn alles gut geht) erkannte er mich fast sofort. "Rühren, Sonderoffizier Jamieson. Wir sind beide außer Dienst." Nicht so unter dem Radar, wie ich angenommen hatte, schien es. Ich ließ die Geste in eine dramatische Verbeugung abgleiten. "Sir. Erweisen Sie mir die Ehre eines Übungsmatches?" Rhodan erwiderte die Verbeugung, wenn auch knapper. "Mit Vergnügen. Wählen Sie Ihre Waffe." Die Fecht- und Schießbahnen der Special Employees Facilities enthalten ein vielseitigeres Arsenal historischer und exotischer Waffen als das Terranische Planetare Museum. Unsere allerdings sind Repliken. Voll funktionsfähige Repliken. Ich wählte ein Fechtschwert aus dem 16. Jahrhundert: Mittlere Länge, sowohl zum Stechen wie auch zum Schlagen geeignet, aber leichter und schneller als ein Langschwert. "Sie haben zu viel Zeit mit dem Lordadmiral verbracht", kommentierte Rhodan meine Wahl. Er nahm einen Degen des frühen 18. Jahrhunderts: kürzer, leichter, schneller, und justierte seinen Schutzschild. Ich tat das gleiche. "Der Lordadmiral", sagte ich, "bevorzugt meines Wissens den Gladius. En Garde!" Rhodan hatte natürlich mehr Reichweite als ich und war frei sowohl von lästigen Visorinterferenzen als auch von übertriebener Ritterlichkeit, die ihn veranlaßt hätte, die Waffe ebenfalls mit Links zu führen. Mein einziger Vorteil war meine immer noch an der Grenze der Präkognition befindliche Wahrnehmung, die während unserer Matches mehr und mehr in Fokus kam. Nach fünf Runden hatte ich vier verloren und eine gewonnen, nach neun Runden standen wir uns 6:3 gegenüber, ich hing in den Seilen und alles um mich herum hatte eine irreale Qualität angenommen, weil meine Wahrnehmung außer Phase mit der Welt war. "Pause?" schlug ich vor. Wir deaktivierten die Schutzschirme und wankten (ich wankte, Rhodan wirkte frisch wie der junge Morgen: Zellaktivatoren, grr!) an die Bar, ließen uns vom Robobutler Handtücher und unsere jeweils bevorzugten Aufbaudrinks geben und unterhielten uns über nichts im Besonderen. Ein leises 'ping' von der Tür kündigte Besuch an. Rhodan schaute flüchtig auf sein Armbandcom und bestätigte den Zugang für den Neuankömmling: Der Großadministrator gehört zu den Leuten, bei denen das Sicherheitssystem nachfragt, eher es jemanden zu ihm in eine Halle voller Waffen läßt. Ich erkannte das Muster, ehe mein Visor das Bild eines mittelgroßen, athletischen, schwarzgelockten Mannes aufgebaut hatte. Ich stellte mein Glas ab und löste mich von der Theke. Rhodan driftete in den Hintergrund, eine Fähigkeit, die er im Laufe der Jahrhunderte vervollkomment hat. "Mr. Morginie!", begrüßte ich den Neuankömmling. "Sie kommen mir gerade recht. Ich suche einen Sparringpartner." Er wirkte unbegeistert. "Das wäre wohl kaum angemessen..." "Ach, Sie fechten nicht?" Morginie zögerte. Ich wünschte mir wieder den Computeruplink, den ich jetzt nie kriegen würde. "Selbstverständlich", sagte er. "Aber ich kann wohl kaum gegen einen--" er fing sich, "gegen eine blinde Frau antreten." "Ach, kein Grund zur Sorge", sagte ich. "Die Schutzschirme werden schon verhindern, daß ich Ihnen ein Auge aussteche. Wählen Sie Ihre Waffe!" Er förderte ein ultramodernes Florett zutage, eine von diesen Maßanfertigungen für Wettkämpfe. Mir kamen leichte Zweifel, ob das hier nicht eine blöde Idee war, aber ich war zu sehr in Fahrt, um es mir anders zu überlegen. Ich griff mein Fechtschwert und tigerte zur Bahn, wo Morginie auf mich wartete. Er begrüßte mich mit einem "En Garde, Miß d'Artagnan!" Ich salutierte knapp. "Fertig, wenn Sie es sind." Mit seinem kleinen Piekswedel würde er schneller sein als irgend etwas diesseits eines Linearantriebes. Aber, wie Bully sagte, Wenn sie dir technisch kommen, komm' ihnen primitiv. Morginie eröffnete konservativ und testete mich an, anstatt gleich seine überlegene Geschwindigkeit einzusetzen. Ich ging aus dem Stand auf volles Tempo und, wie André gesagt hatte, "auf die Eingeweide" (metaphorisch). Mit einem Kriegsschrei. Er erwartete kein Ki-Ai von einem Fechter und gab mir den Bruchteil einer Sekunde, die ich gebraucht hätte, um ihm den Kopf abzuschlagen, hätten wir keine Schutzschilde gehabt. Dann dematerialisierte ich praktisch aus seiner Reichweite, und der Gong meldete 1:0. So gehörte sich das. In der nächsten Runde ging er auf Tempo. Ich ging auf Raum. Als er anfing, außer Atem zu kommen, gab ich ihm eine gerade, offene Linie zum Angriff und warf mein Schwert. Es wirbelte, drehte sich mit der Klinge nach vorne (ein Glück!), streifte seinen Hals mit genug Wucht um den Schirm zum Aufblitzen zu bringen und bohrte sich in die Theke hinter ihm. Ups. Ehe alle kinetische Energie in der Szene verbraucht war, hatte er mir noch einen soliden Treffer in die Schulter verpaßt, unter dem ich nicht schnell genug weggerollt war. Rhodan zog das Schwert aus der Theke und warf es mir zu. Ich fing es und wandte mich wieder Morginie zu, der nach Luft japste, nur um sie dann auf Verwünschungen ob meines unfairen Verhaltens zu verschwenden. Mich betraf das nicht. Jeder weitere Schritt war so klar wie Fußstapfen aus Sternenlicht auf der Nachtseite des Mondes. Mit langen Schritten schnürte ich auf die Bahn zurück und wartete, bis sich Morginie mir gegenüber in Position gebracht hatte. Dann schob ich mir mit dem Handrücken den Visor auf die Stirn. Va banque. Morginie war weit jenseits davon, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Jede seiner Absichten schickte ein Telegramm voraus, "greifen im Morgengrauen an -- Napoleon". Meine Geste und der Anblick meiner Augen hatten ihn verunsichert, ich kam langsam auf ihn zu, um ihm zu zeigen, daß ich es ernst meinte. Das Gefühl, außer Phase zu sein, war verschwunden wie Nebel im Morgenwind. Ich bewegte mich langsam, wie unter Wasser, aber ich war immer genau dort, wo ein Schlag pariert werden mußte, nie dort, wo einer treffen könnte. Morginies Versuche, das Tempo zu ändern, blieben Triolen, die dem Generalbaß nicht entkommen konnten. Sein Schutzschirm brizzelte einen Treffer, ich fiel zurück, und weiter zurück als er mir nachkam. Er versuchte jetzt, mein Tempo anzunehmen, und ich zog an, legte mehr und mehr Kraft in die Schläge: So ein Fechtschwert mag leichter als ein Langschwert sein, aber gegen ein Turnierflorett ist es ein massives Gerät, massiv genug, um einen leichtbewaffneten Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wieder ein Treffer, der Schirm brizzelte. Brizzelte wie der Lichtbogen in der unterirdischen Fabrik auf Lomartia, wie die Empfangsfehler der billigen Sensoriumsprogramme, wie mein Visor wenn neuronale Interferenzen betrunkene Muster aus meinem Blickfeld machten, wie elektrische Zäune, wie explodierende Masten, wie der dünne Lebensfunke eines Menschen, der sich nie für einen solchen Job beworben hatte und der Welt nicht mehr glauben konnte, daß sie existierte, wie das bilde Auge eines TriVids, das auf keinen Kanal gestellt ist, und mein Schutzschirm zeigte den Treffer an, gerade und sauber, direkt aufs Herz, ich trat zurück und senkte die Waffe und der Treffer kam, gerade und sauber gegen meine unbewegte Gestalt, der Rundengong, zweimal ignoriert, klang empört. Meine Umgebung rutschte zurück in Phase, und ich schob meinen Visor zurück über die Augen. Durch die Interferenzen sah ich Morginie auf dem Boden knien und nach Luft ringen. Sein Piekswedel lag neben ihm. Ich ignorierte ihn und stelzte zu Rhodan und der Theke zurück, drückte dem Robbie das Schwert in die Hand und sagte zu Rhodan, "Entschuldigen Sie mich, Sir." Er winkte ein 'gehen Sie nur'. "Einen guten Tag, Sonderoffizier Jamieson. Denken Sie an das, was ich gesagt habe." Ich nickte und schlurfte davon, zu erschöpft, um etwas Anderes als friedlich zu sein. *** Die Operationen kamen und gingen. Betty kam vom Einsatz wieder und beschloß, daß ein dreitägiges Open-Air Festival im Australischen Outback genau das war, was mein nagelneues Gehör zum Aufwärmen brauchte. Als wir wieder fahren wollten, hatte jemand ihren Gleiter gestohlen, also machten wir einen Umweg über Stuttgart und kauften einen neuen. Danach legte ich mich wieder unters Messer und wurde meine praktische sonnenresistente Hautfarbe und etwa zwanzig scheinbare Jahre los. Während ich noch in der Klinik lag, kam ein Brief von einer lomatischen Holding an Frau Eren, in der ihr bedauernd mitgeteilt wurde, daß die Aufnahmen, die sie hatte kaufen wollen, nicht mehr zur Verfügung ständen. Mir war das von Herzen egal. Meine Haut bleichte in Flecken zu ihrer natürlichen Farbe zurück, was Betty zu der Bemerkung veranlaßte, ich sähe aus wie ein rotbuntes Milchvieh. "Was hast du eigentlich mit Morginie gemacht?" fragte sie dann. "Ich?" Ich plinkerte mit meinen rotbunten Wimpern. "Was soll ich denn gemacht haben?" "Das frage ich dich. John hat etwas in die Richtung angedeutet, daß es nicht nett wäre, wenn die alten Hasen die Newbies mit Senf und Mayonnaise verspeisen würden. Natürlich mußte ich gleich an dich denken." "Sparring." Ich zuckte die Schultern. "Autsch", sagte Betty. Von der Typdesignerin traf ein Scheck über zwanzig Solar ein -- für "Modelling", und Mitte August war ich wieder dienst-, seh- und hörfähig, blond, beidhändig, und nicht mehr präkognitiv. Hin und wieder flatterten noch Papiere, die Lomatia betrafen, über meinen Schreibtisch, aber bis auf die Reisewarnung und die Sh'wwz schien die Affäre sich totzulaufen: Ohne Verschwörung und extragalaktische Invasoren gab es keine rechtliche Grundlage in den Imperiumsverträgen, in Lomatias Autonomie einzugreifen. Mein nächster Fall war nur mäßig interessant, aber befriedigend: es ging um den Schmuggel von Häuten einer bedrohten Fischart von Flurbb, und alle Schuldigen wanderten ins Kittchen. *** An einem Abend im September hockte ich alleine (André hatte mich versetzt) in der halbleeren Cafeteria von Imperium Alpha. Mit meinem eigenen Gesicht erkannten mich die Leute, und manche grüßten sogar. Ich überlegte, ob ich mir statt den Kochkünsten Andrés, mit denen ich für heute abend gerechnet hatte, wirklich das Cafeteriaessen antun sollte, oder besser nach Hause fahren und Pizza bestellen, als mir eine einsame Gestalt zwei Tische weiter auffiel: Morginie. Spontan stand ich auf, nahm die Cola, an der ich mich festhielt, und wanderte zu seinem Tisch hinüber. "Hallo. Kann ich mich zu Ihnen setzen?" Morginie guckte, starrte und guckte erneut. "Äh, selbstverständlich." "Danke." Ich stellte meine Cola ab und setzte mich. "Mr. Morginie. Ich muß mich bei ihnen entschuldigen." Sein Ausdruck wurde mißtrauisch. Vielleicht dachte er, ich wollte ihm was verkaufen. Ich lächelte. "Sie erkennen mich mit diesem Gesicht wahrscheinlich nicht, aber als wir uns das letzte Mal begegnet sind, habe ich mich Ihnen gegenüber wie ein Schwein benommen, und dafür möchte ich mich entschuldigen. Es war nicht gerechtfertigt." Ich seufzte leicht und machte eine unbestimmte Geste. "Solveig Jamieson, Solares Mutantencorps. Psi-Rating 14, Halbtelepathin, Antihypnotin und generelle Furie -- fragen Sie irgend jemanden, der mich kennt." "Gareth Morginie, Psi 10, Späher", stellte er sich vor. "Ich dachte, Sie seien bei der Abwehr?" "Das auch", sagte ich. "Ausgeliehen seit, lassen sie mich nachdenken, fast zweihundert Jahren. Kriege und Katastrophen ausgenommen." Ich warf einen Blick auf die Speisekarte, die vor ihm lag. "Von dem Menü hier kann ich überhaupt nichts empfehlen. Lassen Sie sich von mir als Wiedergutmachung in die Stadt zum Essen einladen?" Er überlegte nicht lange. "Als Wiedergutmachung würde ich akzeptieren, daß Sie mit mir Essen gehen. Was das Einladen angeht... ich war bei unserer ersten Begegnung selber... ausgesprochen unhöflich und möchte mich dafür ebenfalls entschuldigen. Es gab, wie üblich, Gründe... aber keinerlei Rechtfertigung." "Die Geschichte meines Lebens", sagte ich. Wir gingen in eine Barbecue Bar, wo man seinem Steak und seinen Kartoffeln beim Grillen zusehen konnte und kaltes Bier vom Faß trinken. "Was haben Sie eigentlich gemacht, bevor Sie an uns geraten sind?" fragte ich beim Essen. "Oh, äh... das ist ein bißchen peinlich", sagte er. "Immobilienmakler?" riet ich. "Hundefänger? Dressman?" Er macht ein etwas gequältes Gesicht. "Lehrer an einer Mädchenschule. Geschichte und Latein." Ich mußte lachen. "Geschichte! Und jetzt sind Sie im Job die ganze Zeit von Relikten umgeben. Ich sehe die Ironie..." Er lachte jetzt ebenfalls, und es wurde noch ein netter Abend. Es war natürlich nicht das gewesen, was er gemeint hatte. Er hatte gemeint, daß wir auf ihn herabsehen würden, weil er Lehrer war und kein Supersoldat oder Risikopilot oder Nobelpreisträger, weil er, von Legenden umgeben, selber keine war. Also hatte er angestrengt nach Leuten gesucht, auf die er seinerseits herabsehen konnte. Ich hoffte, daß er sich das abgewöhnen würde: Fremde Frauen in Sporthallen zu beleidigen mochte origineller und insgesamt ungefährlicher sein, als "Die neuen Abenteuer von Ronan dem Gesetzlosen" als Dokumentarfilm abzudrehen, aber es bringt einen dennoch in Verruf, und in unerwartet milder Stimmung fand ich, daß Morginie das nicht verdient hatte. ########################### # TEIL 6: DER VORHANG FÄLLT ########################### ### Postskript A: 2240 ### Ein Jahr ist es heute her, daß ich von Lomatia zurückkam. Die Narben sind verschwunden, die Akten geschlossen. Eliza hat eine Notiz geschickt, daß in Anbetracht der gültigen Rechtslage die LSCF alle Hinweise auf L., sein System, seine Sonne, seine Bewohner und alles, was sonst mit diesem Planeten assoziiert ist, aus den Unterlagen und Annalen streichen wird und anderen gemeinnützigen und wissenschaftlichen Stiftungen und Publikationen zu gleichem Vorgehen rät. Xärik Lexika, der Verlag des Imperialen Statistischen Jahrbuches, hat bei der Kolonialaufsicht nachgefragt, was es mit der Empfehlung der LSCF auf sich hätte, und die Antwort bekommen, die LSCF und ihre eigene Rechtsabteilung zu konsultieren. Im 2241er Jahrbuch wird es kein Lomatia mehr geben. Ramsey Jefferson wurde aus gesundheitlichen Gründen in den Vorruhestand versetzt. Seine Frau hat sich scheiden lassen. Die Sh'wwz haben einen langhaarigen, tätowierten Büroboten, der mit einem Hoverboard zwischen den Gebäuden von Imperium-Alpha umherdüst, zu ihrem Honorarkonsul gemacht. Ich habe keine Ahunung, wie das passiert ist. Nach längerer Odyssee kam er zu mir, um sich Informationen zu holen. Ich veranlaßte, daß seine Sicherheitsclearance angepaßt wurde und erzählte ihm ein paar Einzelheiten. "Oh, Lomatia", sagte er. "Ich wußte gar nicht, daß das der Planet der She wwaz ist. Sie selber nennen ihn 'Shi riti waz tusch'." Der Junge war Ostasiate und hatte die Angewohnheit, Vokale in Silben einzufügen, die keine hatten. "Lomatia..." er griff nach dem Atlas. "Ist nicht drin", sagte ich, und auf seinen verwirrten Blick, "Juristische Gründe." Er nahm das im Vorbeigehen. "Dann sollten sie aber Shi riti waz tusch aufnehmen!" Ich gab ihm Elizas Comcode. ### Postskript B: 2265 ### Flashback time. Ich saß in einer Blues Bar, um Whiskey zu trinken und nachzudenken, und plötzlich klang eine Stimme aus den Lautsprechern, die ich kannte, eine Erinnerung an Sonne und Staub und Blumen. Ich stand auf und ging zu dem Barkeeper. "Was ist das für'n Song, den Sie da laufen haben?", fragte ich. Er zuckte die Schultern. "Keine Ahnung. Irgendwas altes. Der Datenkristall ist schon ziemlich runter." Wie um seine Worte zu bestätigen, setzte die Stimme aus, und erst nach einer langen Sekunde wieder ein. "Das macht er immer", sagte der Barkeeper gleichgültig. "Der Song erinnert mich an was", sagte ich. "Verkaufen Sie mir den Kristall?" "Ist nicht meiner", sagte er. "Gehört zum Laden." Ich legte zwei Solar auf den Tisch. "Der zerbröselt doch sowieso bald. Vielleicht schon heute." Der Barkeeper beäugte das Geld, zuckte die Schultern und wandte sich zur Musikanlage. *** Die ganze Nacht saß ich auf meinem Sofa und hörte dem Bootleg von Nemos einzigem Live-Auftritt mit "Other Sky" zu, schlecht aufgenommen und auf einen billigen Kristall gebrannt, voller Störgeräusche, zerkratzt und beschädigt, mit den Datenfehlern von fünfzig Jahren und einem Dutzend Kopiervorgängen. Erst als der Morgen graute, fiel mir ein, daß ich den Kristall kopieren sollte. Ich kramte einen nagelneuen Eternity-Speicher aus der Schublade. Wenn Razid noch das Tonstudio hatte und ich ihm genügend Geld unter die Nase hielt, würde er die Aufnahme vielleicht restaurieren können. Aber als ich den alten Kristall aus dem Abspieler nahm, um ihn in das Kopiergerät zu legen, zerbrach er mir in der Hand. *** Wenn es noch irgendwo eine andere Aufnahme von "Other Sky" gibt, weiß ich nichts davon. Wenn es noch irgendwo eine Kopie von "Salt Flats" gibt, habe ich sie nie gefunden. Ich habe gesucht. Meine eigenen sind verlorengegagen, verliehen, denke ich, und nicht wiederbekommen. Die Händler führen sie nicht, sehen in ihre Kataloge und runzeln die Stirn, vielleicht beim Großhändler? Die Großhändler, die für den richtigen Betrag die Matrizen zu "Mein kleiner grüner Kaktus" aus den Archiven kramen und eine neue Serie brennen, sagen, daß alle lomatischen Matrizen mit begrenzter Lebensdauer ausgeliefert wurden, sie sind seit Jahrzehnten gelöscht, nichts mehr da. Die Studenten, die in den Second-Hand Läden arbeiten, haben nie etwas von diesen Werken gehört, nur im "Ye Olde Rekorde Store" im Village schüttelte der bärtige Besitzer sein greises Haupt und murmelte etwas von, "mußte aus dem Sortiment nehmen, Wiederverkauf verboten haben sie gesagt, verdammte Rechtsverdreher." Wenn es noch Aufnahmen gibt, liegen sie auf Dachböden und in Lagerhäusern, in verrotteten Pappschachteln auf fernen Planeten, vergessen und verloren, denn die kommerziellen Datenkristalle leben nicht lange, nicht lange von meiner Warte aus, fünfzig Jahre oder hundert, wenn sie gut gelagert sind, nur (reiche) Fanatiker und die Imperialen Archive brennen auf Eternity, und selbst Eternity garantiert im Kleingedruckten nur eine Lebensdauer von fünfhundert Jahren: Danach, schreiben sie, sind die Daten auf ein neues Medium zu sichern. Und die imperialen Archive, das Gedächtnis Terras, jene gewaltigen Hallen voller Eternity-Datenkristalle und beschäftigter Roboter, die unermüdlich sammeln, pflegen, indizieren, organisieren, sichern, reparieren, restaurieren, die Schulen, Universitäten, Redaktionen, neue Kolonien, Neugierige und Regierungsbeamte gleichermaßen mit allem beliefern, was der menschliche Geist je geschaffen hat -- sie haben ihre Kopien gelöscht, als Lomatia mit einer Schadenersatzklage drohte und Außen- und Handelsministerium sie im Regen stehen ließen. Und die Fanatiker, wie Sayya, Razids Frau, die jahrelang die Musikredaktion von Radio Terra geleitet hat, bis sie sich mit einem eigenen Verlag selbständig machte, zucken bedauernd die Schultern: Lomatia? Oh, natürlich. Ja, die waren mal sehr groß. "Aber du mußt wissen", sagt Sayya, sitzt inmitten ihrer Schätze wie ein Drache auf seinem Hort von glitzernder Information, "Sie waren nie gut darin, ihre Backlist zu pflegen. Es machte uns wahnsinnig. Klar, du machst 95% des Gewinns in den ersten drei Jahren, und 99komma in den ersten zwölf, ehe du nach terranischem Gesetz deine Rechte erneuern mußt... was du nur kannst, wenn du liefern kannst, sonst verlierst die Rechte, und die Datenkristalle sind dann noch gut genug, um von jedem Amateur reproduziert zu werden. Aber Lomatia ging einen Sonderweg, behielt die Rechte unbegrenzt, *und* pflegte seine Backlist nicht... Und die verdammten Banausen von der terranischen Regierung, diese Feiglinge, diese Ikonoklasten und Vandalen, sie machten einen Kotau vor einer unbedeutenden Kolonie, die LSCF knickte zuerst ein, niemand interessierte sich einen *Dreck*--" Razid legt Sayya einen Arm um die Schultern. "Ich weiß, ich weiß. Kann man nicht ändern. Machst du uns noch einen Tee?" Sayya steht auf und murmelt im Gehen etwas von "Bibliothek von Alexandria". "Was ist mit den *aktuellen* Sachen aus Lomatia?", frage ich. Razid macht eine Geste, der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. "Vorbei", sagt er. "Inkompatibilität. Die lomatischen Verlage kamen jedes Jahr mit einer neuen Technik raus, es war nichts als Ärger. Dann hieß es, wir müßten lomatische Abspielgeräte kaufen, weil die terranischen und siganesischen Geräte die lomatischen Formate nicht mehr lesen konnten. Dann paßten die Spezifikationen nicht, es war ein einziger Ärger. Der Chef wollte jemanden nach Lomatia schicken, um das vor Ort zu klären, aber dann kam diese Reisewarnung und alle hatten die Hosen voll. Ich schlug vor, uns selber was zu bauen, aber unsere Rechtsabteilung drohte, mich einweisen zu lassen. Und letzten Endes hat der Tag nur 24 Stunden, und es gibt 'ne Menge Bands, die ihre Groupies dafür hergeben würden, von TTV Radio gespielt zu werden, also wozu der Streß." "Eigentlich schade drum", sage ich. "Ach naja", sagt Razid. "Was soll's. So gut waren sie nie." *** Aber sie waren so gut. Die Erinnerung schwindet, aber sie waren so gut. In meinem Kopf singt Nemo "Other Sky", voller Störgeräusche und mit den Datenfehlern von 50 Jahren. Manchmal setzt die Stimme für eine Sekunde aus. Die Sekunde ist für immer fort. Und auch der Rest existiert nur noch, solange ich mich daran erinnere. *** ENDE ****************** ****************** Bemerkungen, Kommentare und generelles Gelaber: Wenn ihr bis hierher durchgehalten habt, hat's euch ja vielleicht gefallen. Wenn dem so ist, laßt es mich wissen -- wenn nicht, auch: Die Motivation für diese Fanfiction waren zahlreiche Artikel und Diskussionen auf Slashdot, Richard Stallmans "The Right to Read", und Will Shetterleys "The People Who Owned The Bible". Diese Story spielt im Perry-Rhodan-Universum, weil dieses einen guten Hintergrund für exotische Abenteuer bietet, und die Versuchung, die Geschichte als Fanfiction selbstreferentiell zu machen. einfach unwiderstehlich war. Vielen Dank an meine Betaleser: Snow, Gwydion, und Tiassa, und besonders vielen Dank an Wolfgang für die Sh'wwz. Textfile erstellt am 3. Februar 2009.